Rezensions-Blog 166: Wo steckt Aaron Burr?

Posted Mai 30th, 2018 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

kennt ihr dieses Gefühl auch? Dass man beim Durchschauen seiner Bücherbe­stände auf Werke stößt, bei denen einen das Gefühl beschleicht: Verdammt, das habe ich offenbar irgendwann mal gelesen, aber ich weiß ums Verrecken nicht, wovon dieses Buch handelte!

Nun, mir ging es mit dem vorliegenden Roman jedenfalls so. Und da es sich ganz offensichtlich um einen Parallelweltenroman handelt, die ich sowieso im­mer spannend finde, dachte ich mir, nachdem ich weiter recherchiert hatte und entdecken musste, dass ich dieses Buch definitiv vor August 1987 gelesen ha­ben musste, war es wirklich höchste Zeit für eine Neulektüre.

Ach, und das war ein Zwerchfell erschütterndes, vergnügliches Leseabenteuer, kann ich euch versichern. Wer ein wenig für abstrus-abseitige und bizarre Raumzeitgeschichten übrig hat und vielleicht auch noch für Verwechslungsko­mödien, der kommt hier voll auf seine Kosten. Auch wer nur ein bisschen seine Kenntnis über die amerikanischen Verfassungsväter vertiefen will, ist hier durchaus willkommen.

Neugierig geworden? Na schön, dann machen wir uns jetzt mal gemeinsam auf die Suche nach der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Und natür­lich nach dem mysteriösen Aaron Burr…:

Wo steckt Aaron Burr?

(OT: The Whenabouts of Burr)

von Michael Kurland

Ullstein 31058

176 Seiten, TB

Frankfurt am Main 1983

Aus dem Amerikanischen von Thomas Ziegler

ISBN3-548-31058-3

Jeder, der den Jerry Bruckheimer-Film „National Treasure“, im Deutschen als „Das Vermächtnis der Tempelritter“ bekannt, gesehen hat, weiß, wie die Ver­fassung der Vereinigten Staaten von Amerika aufbewahrt und gesichert wird – durch ein hochkomplexes Sicherheitssystem, das einen Diebstahl nahezu un­möglich macht. Die Verfassung befindet sich in einem speziellen Hoch­sicherheitsglasbehälter, der mit Helium gefüllt ist, um die Alterung des Doku­ments zu verlangsamen. Im Gefahrenfall wird der Behälter mitsamt Dokument in ein unterirdisches Magazin verlegt, das einbruchssicher ist. Sowohl Magazin wie Ausstellungsraum werden rund um die Uhr mit Kamerasystemen kontrol­liert.

Gleichwohl geschieht gleich zu Beginn dieses Romans das Undenkbare: die Ver­fassung der Vereinigten Staaten wird gestohlen. Das heißt, nein, das ist unpräzi­se, sie wird nicht gestohlen – sie wird ausgetauscht. Und zwar gegen ein Doku­ment, das nicht nur auf genauso altem Papier geschrieben ist und mit der da­mals üblichen Tinte, sondern das Wort für Wort mit dem Original identisch ist… abgesehen von zwei Worten.

Diese zwei Worte lauten „Aaron Burr“. Dieser Mann hat anstelle von Alexander Hamilton für den Staat New York die Verfassung unterschrieben. Zu dumm – das ist nie passiert. Der Experte, der diese Tatsache bei einer Routinekontrolle entdeckt, wird fast vom Schlag getroffen. Und der Austausch wird sofort von dem notorisch paranoiden Präsidenten Gosport zum Staatsgeheimnis erklärt.

Natürlich muss man herausfinden, wie das alles geschehen konnte, und die Ver­fassung muss selbstverständlich zurückgeholt werden, wo immer sie sich nun befinden mag… aber so, dass es niemand mitbekommt. Damit scheidet, wie Gosport meint, schon mal jeder ihm bekannte „Geheimdienstfuzzi“ aus, denn dass Geheimdienste notorisch leck sind, ist in seinen Augen eine absolute Gewissheit. Also schaltet er seinen alten Studienfreund und Sicherheitsberater Nathan Hale Swift ein. Der wiederum kennt einen Spezialisten für sehr heikle Fragen.

Amerigo Vespucci Romero, kurz Ves genannt. Er betreibt seit langem eine er­folgreiche und verschwiegene Detektei, die er jetzt aus Altersgründen an seine Kinder weitergegeben hat. Allerdings fühlt er sich noch lange nicht zum alten Ei­sen gehörig, und als er von dem rätselhaften Verbrechen hört, muss er nicht lange überredet werden, um den Fall zu übernehmen. Nathan (Nate) Hale Swift und er sollen eng zusammenarbeiten und allein dem Präsidenten Bericht erstat­ten. Allein auf diese Weise scheint wasserdichtes Arbeiten nach außen möglich zu sein.

Ves greift zunächst, nachdem er gemäß der Sherlock Holmes-Maxime, dass, wenn man alles Mögliche als Ursache ausgeschieden hat, das Unmögliche als Lösung übrig bleiben muss, zu einem alten Ermittlertrick: er inseriert und sucht nach Informationen über Aaron Burr und Kontakt zu Leuten, die von ihm wissen.

Das bringt ein paar höchst kuriose Dinge ans Tageslicht, die Ves und Nate nicht erwartet haben. Und sie haben auch nur bedingt etwas mit der Verfassung zu tun. Da sind zum Beispiel die Münzsammler, die echte Goldmünzen vorweisen können, auf denen Aaron Burr als Kaiser von Mexiko abgebildet wird. Zu dumm, dass Aaron Burr das nie gewesen ist. Fragt sich, warum es im frühen 19. Jahr­hundert solche Scherzbolde gab, die für derlei Witze echtes Gold hergaben…

Tja, fragt sich der Leser spätestens an dieser Stelle, versuchen wir doch mal ein wenig Klarheit in diese vertrackten historischen Tatsachen zu bringen. Immer­hin sind wir mit diesen Personen nicht sonderlich vertraut. Das zu ändern ist glücklicherweise nicht allzu schwierig – erhellend ist indes etwas anderes.

Sowohl Alexander Hamilton als auch Aaron Burr sind historische Persönlichkei­ten. Fangen wir mit Aaron Burr an: US-Politiker und Senator für den Staat New York, geboren 1756, von 1801-1805 Vizepräsident der Vereinigten Staaten. 20 Jahre lang Rivale von Alexander Hamilton, den er 1804 im Duell erschoss. Nach kurzzeitiger Flucht und Rehabilitation vollendete er seine Amtszeit, wurde kurz darauf aber der Verschwörung gegen die Nation überführt. Er plante die Errich­tung eines autonomen Südweststaates, wurde nun mehrere Jahre inhaftiert und ging nach Europa in die Verbannung. 1812 kehrte er zurück, war jedoch bis zu seinem Tode 1836 politisch gebrandmarkt und wurde von der Gesellschaft mehrheitlich gemieden.1

Alexander Hamilton, geboren 1757, war seinerseits amerikanischer Politiker und Schriftsteller, persönlicher Freund von George Washington und Benjamin Franklin, Unterzeichner der Verfassung und Anführer der Bewegung der Federa­lists, Hauptautor der so genannten „Federalist Papers“, zeitweilig Finanzminister und politischer Rivale von Aaron Burr. 1804 starb er in Folge des Duells mit Burr.2

Soweit die Historie unserer Welt.

Nirgendwo etwas von einem Aaron Burr, der Kaiser von Mexiko war. Aber da­nach haben Ves und Nate ja auch gar nicht gesucht, nicht wahr? Wonach sie freilich ebenfalls nicht gesucht haben, ist der Fremde, der ihnen plötzlich seine Aufwartung macht – ein offenkundig herrischer Aristokrat mit sehr energischen Manieren, der sich seiner Visitenkarte nach als Alex. Hamilton vorstellt.

Auf jeden Fall ist das verdächtig. Nate und Ves beschatten ihn und verfolgen diesen Mann, der von seltsamen Dingen wie dem „Hauptkanal“ faselt und of­fensichtlich ebenfalls sehr daran interessiert ist, Informationen über den Auf­enthalt von Aaron Burr zu bekommen (!). Dabei sind doch offenkundig sowohl Hamilton als auch Burr seit weit über 100 Jahren tot… eine Einschätzung, die sich als fataler Fehler erweisen soll.

Als Alex. Hamilton auf verwirrende Weise in einem New Yorker Dampfbad spur­los verschwindet, gelingt es den beiden, ihm zu folgen… doch seltsamerweise ist, als sie das Dampfbad dann wieder verlassen, alles etwas anders als zuvor. Genauer gesagt: das New York ringsum ist grundlegend verändert. Während Nate sich nun in diesem bizarr veränderten New York, in dem man unbegreifli­cherweise das Jahr 1897 schreibt und das Yukon-Territorium noch zaristisches Eigentum ist, an Hamiltons Fersen heftet, gerät Ves unabsichtlich mit der New Yorker Polizei aneinander und wird kurzerhand als möglicher zaristischer Spion inhaftiert. Das Ves Italienisch sprechen kann, aber kein Russisch, ist offensicht­lich kein Grund, an der Spiongeschichte zu zweifeln.

Die Dinge entwickeln sich noch deutlich kurioser, als der Detektiv von einer rus­sischen Gräfin aus der Gefangenschaft befreit wird, die leicht mit seinem Tod hätte enden können. Sein Freund Nate wird derweil von Alex. Hamilton enttarnt und auf eine weitere Reise mitgenommen – nach „Georgeland“, einer Kolonie, die sich auf einer weiteren Welt (hier mehrheitlich von einem aztekischen Ame­rika dominiert) dort befindet, wo sich New Jersey befindet. In dieser Welt gilt Alex. Hamilton übrigens bequemerweise als Gott. Und ja – er ist der ECHTE Hamilton…

Die beiden arglosen Ermittler sind auf eine höchst abenteuerliche Weise in ein Multiversum von höchst unterschiedlichen Erdversionen hineingeschlittert (mit noch deutlich differierenden Zeitepochen, 1897 ist noch vergleichsweise nahe an Ves´ und Nates Heimatwelt). Dieses kann durch eine sehr sinnreiche Erfin­dung von Temporalsendern bereist werden, die offensichtlich fest installiert sind. Ausgegangen ist dies alles vom so genannten „Hauptkanal“, und wenn irgendwer herausfinden kann, wie und von wem die Verfassung der Vereinigten Staaten ausgetauscht werden konnte (vom Grund ganz zu schweigen), dann ist das jemand von dort. Also machen sich Nate und Ves auf getrennten Wegen durch die Welten auf den Weg zum Hauptkanal…

Den vorliegenden Roman habe ich vor Urzeiten schon einmal gelesen – und da­mit meine ich wirklich „Urzeiten“. Das Buch ist so alt, dass es nicht einmal einen Erwerbsvermerk enthält, den ich seit 1987 in jedem meiner Bücher anbringe. Auch in der Leseliste (begonnen im August 1987) stand es nicht verzeichnet, war gleichwohl aber unter die gelesenen Bücher sortiert. Also hatte ich es vor gut 30 Jahren auf jeden Fall gelesen… und vollkommen vergessen.

Schade eigentlich, dachte ich, als ich mich kichernd von neuem durch dieses kundige, sehr amüsante Buch arbeitete. Ich wähnte mich an vielen Stellen in ei­nem Roman von Keith Laumer, als er bessere Tage hatte. Und selbst wenn ich mit der amerikanischen Verfassungsgeschichte und den „Federalists“ weniger vertraut bin als die amerikanische Leserschaft, so kamen mir doch die histori­schen Persönlichkeiten, denen ich hier über den Weg lief, samt ihrer Lebensum­stände durchaus plausibel geschildert vor. Dass das Werk für amerikanische Le­ser natürlich noch sehr viel interessanter ist, weil sie die Personen und histori­schen Hintergründe in der Schule deutlich intensiver lernen als wir hierzulande, versteht sich von selbst.

Die interessante Form, wie schlussendlich das Mysterium des Dokumenten­tauschs geklärt wird, hatte auch was für sich, eindeutig. Ein von Anfang an klug durchdachter Roman, so chaotisch er auch scheinen mag. Die willkürliche Fixie­rung auf Hamilton und Burr muss man einfach hinnehmen, das ist die vorsätzli­che Entscheidung des Autors. Sonst aber ist es eigentlich schade, dass das Buch schon so zeitig aufhörte und – so vermute ich, weil ich keine weiteren Bände mit diesen Protagonisten kenne – es wohl keine Folgeabenteuer gibt. Wer sich für ein paar Stunden oder Tage auf humorvolle Weise aus der Realität ausklinken möchte, kann das hier wunderbar tun – ich gebe gern eine klare Leseempfehlung! Aber Obacht, ich glaube, das Buch gibt’s nur noch antiquarisch.

© 2017 by Uwe Lammers

Ihr merkt schon, ein wirklich wildes Garn wird hier gesponnen, aber auf amüsante Weise aufbereitet und historisch sehr kundig verarbeitet. Ich glaube, der leider seit langem verstorbene Thomas Ziegler hatte auch einiges Vergnü­gen bei der Übersetzung.

In der kommenden Woche geleite ich euch wieder in die Parallelwelt von Clive Cussler und in eine ziemlich frostige Gegend. Wohin genau? Nun, das solltet ihr in der nächsten Woche erkunden, wenn ihr wieder reinschaut. Ich freue mich darauf.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Die Daten entstammen Chambers Biographical Dictionary (2005), Eintrag Aaron Burr, S. 245/46.

2 Ebd., Eintrag Alexander Hamilton, S. 669.

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