Liebe Freunde des OSM,

gar zahlreich sind die legendären Fälle des Detektivs Sherlock Holmes aus der Baker Street in London, die sein „Eckermann“ Dr. John Watson den Lesern des „Strand Magazine“ im Laufe von Jahren berichtet. Auf diese Weise machte der „Chronist“ Dr. Arthur Conan Doyle seinen fiktiven Helden unsterblich, wie ein­gefleischte Fans seit langem wissen. Und eine Vielzahl von Epigonen trat nach Doyles Ableben in seine Fußstapfen und verfolgte Windungen und Biegungen und die unzähligen kleinen Andeutungen in Holmes´ Kanon-Geschichten, um daraus ein eigenes „verschwiegenes“ oder „vergessenes“ Holmes-Abenteuer zu generieren.

Manche dieser Fälle wurden sogar mehrfach aufgegriffen und zu unterschiedli­chen Werken literarisch verdichtet. Eine solche Begebenheit ist die um den Seg­ler „Matilda Briggs“ und den „Schrecken von Sumatra“. Ich war verdutzt, als ich auf den Roman von Jörg Kastner stieß, wie ich unten referiere, aber es handelte sich um eine ausgesprochen angenehme Überraschung. Wer also glauben soll­te, er wisse schon alles, was es mit der Matilda Briggs auf sich hatte und mit dem „Schrecken von Sumatra“, der sollte sich dieses Buch besorgen und besser noch mal nachlesen.

Ich bin der Auffassung, dass sich das lohnt.

Worauf genau lasst ihr euch ein, wenn ihr meiner Empfehlung folgt? Das stellt am besten selbst fest und lest weiter:

Sherlock Holmes und der Schrecken von Sumatra

Von Jörg Kastner

Verlag Thomas Tilsner

260 Seiten, geb. (1997)

ISBN 3-910079-40-7

Wir kennen die Grundstruktur – und zweifellos fungiert Jörg Kastner deshalb hier auch auf dem Vorsatzblatt als Herausgeber eines Berichtes von Dr. John H. Watson – , die dieses Werk als posthumes Werk von Sherlock Holmes´ langjäh­rigem Freund und Vertrauten Watson ausgibt. In Wahrheit, auch das ist für Holmsianer offensichtlich, ist es lediglich die raffinierte Camouflage des Autors selbst, der traditionell sein Licht unter den Scheffel stellt. Sei es drum, das hat schon Arthur Conan Doyle so gehalten, verweilen wir dabei also nicht.

Auf den ersten Blick überrascht es, dass es schon wieder um den Fall der „Ma­tilda Briggs“ geht, denn das ist tatsächlich so. Warum verblüfft das? Weil allge­mein bekannt sein sollte, dass dieser Fall längst in einem anderen Roman aus­führlich abgehandelt wurde.1 Dort werden die Ereignisse ins Jahr 1894 datiert, in diesem Buch vor uns befinden wir uns hingegen etwa im Jahre 1887 und noch deutlich vor der Veröffentlichung der ersten Holmes-Geschichte.2

Der Fall beginnt, als ein Monstrum in Holmes´ Wohnung stolpert und hier unter grässlichen Qualen verendet. Nur ist es kein Monstrum gewesen, sondern der französische Kriminalist François le Villard. Er kann nur noch wenig hervorsto­ßen, doch darunter ist der Name „Professor Chalonge“. Schnell wird klar, dass ein Verbrechen vorliegt und dies nur die Spitze des Eisbergs darstellt, eine zu­dem höchst gefährliche. Denn le Villard ist an einer schrecklichen Seuche ge­storben, die offensichtlich künstlich ausgelöst wurde. Professor Chalonge selbst, ein französischer Biologe, ist wie vom Erdboden verschluckt, und seine Entfüh­rer, denen Holmes und Watson bald auf den Kontinent folgen, sind ihnen stets einen Schritt voraus.

Das merken die beiden Kriminalisten, als sie versuchen, Chalonges Tochter Marie in Lyon vor der Entführung zu retten. Wieder misslingt es ihnen. Aber dank des seltsamen „Haustiers“, das die Verbrecher mitschleppen, und mit Hilfe von raffinierter hündischer Spürnase und Indizien, die der Polizei wenig sagen, dafür umso mehr Sherlock Holmes, erkennt er, dass die Spur nach Fernost führt – genauer gesagt: nach Sumatra.

Ohne Unterstützung durch amtliche Personen müssen die beiden sich hier ihrem Feind stellen, der seinerseits ein Heer williger Geister beschäftigt, die skrupellos über Leichen gehen – den Geheimbund der Tukans, die mehrmals auf raffinierte Weise versuchen, Holmes und seinen Gefährten vom Leben zum Tod zu befördern. Schließlich führt die Fährte auf die Insel Aravia, ein düsteres, dschungelbedecktes Eiland des malaiischen Archipels, voller Fallen und Tod. Hier residiert der Baron Xavier Henri Maupertuis3, der sich als Menschenfreund geriert, aber keinerlei Skrupel hat, monströse Experimente durchzuführen, die angeblich zum Besten des Menschengeschlechts dienen sollen, in Wahrheit aber Tod und Grauen im Gefolge haben. Sehr schnell finden sich die Freunde in einem erbarmungslosen Kampf mit einem nicht minder erbitterten Gegner wie­der, und alle Schicksalskarten scheinen zu Ungunsten von Holmes und Watson gemischt zu sein…

Es ist eine klassische Abenteuergeschichte, die uns Jörg Kastner hier unter dem Deckmantel der Autorenschaft von Dr. John H. Watson erzählt, und sie hat mit der Story, die Rick Boyer darbietet, in Wahrheit nur noch recht wenig zu tun. Natürlich, gegen Schluss tauchen sowohl die „Matilda Briggs“ als auch die Rie­senratte von Sumatra auf, aber ich denke, der wahre „Schrecken von Sumatra“ ist in Wirklichkeit der Baron. Er, der sich als Menschenfreund vorstellt und tat­sächlich ein Monstrum ohne Respekt und Skrupel ist, stellt die Hauptgefahr dar, flankiert von nicht minder menschenfeindlichen, kriminellen Subjekten. Wes­halb allerdings überallhin der Orang-Utan von Sumatra mitgehen muss, entzog sich, offen gestanden, meiner Kenntnis. Es hat dann Holmes die Verfolgung der Verbrecher sehr erleichtert.

Das Buch selbst, das durchzogen ist von zahllosen Verbeugungen – insbesonde­re gegenüber Herbert George Wells, der tatsächlich als Handlungsfigur auf­taucht und zahlreiche Elemente des Buches befeuert, bei denen sich Kastner munter bedient4 – und raffinierten Anspielungen, es macht insbesondere we­gen seines schönen Detailreichtums Spaß. Davon abgesehen hat es ständig ne­ckische und bisweilen recht dramatische Wendungen parat. Natürlich… die Rahmenstruktur gerät schon arg an ihre Grenzen, wenn „Watson“ aus der Di­stanz des Jahres 1923 (!) über fast 40 Jahre zurückliegende Ereignisse so akri­bisch Bericht erstattet, bis hin zu den Dialogen (!), dass man darüber eigentlich nur noch schmunzeln kann. Da ist doch der eigentliche Autor Kastner zu sehr Perfektionist, als dass er eine realistische, durch jahrzehntelange Erinnerung ge­trübte und reduzierte Fassung gutgeheißen hätte.

Das spielt aber, wenn man sich auf das Leseabenteuer einlässt, bald keine Rolle mehr. Man vergisst mehrheitlich den „allwissenden Erzähler“ Watson und fie­bert mit Holmes und seinem Kompagnon der langsamen Auflösung des Falles entgegen, leidet durch die Wechselfälle des Schicksals. Er wird tatsächlich an keiner Stelle langatmig oder langweilig, was wesentlich auf die dichte Beschrei­bung zurückzuführen ist und, natürlich, auf die zahlreichen subtilen Anspielun­gen, z. T. in „zeitgenössische“ Fußnoten verpackt. Insgesamt ist es eine Lektüre, die man sich am besten schön genüsslich einteilt… ich für meinen Teil habe ge­mächliche acht Tage dafür gebraucht.

Ausdrückliche Leseempfehlung – eine gelungene Holmes-Geschichte.

© 2017 by Uwe Lammers

Wie ihr sehen könnt, gibt es unter den vergriffenen Büchern jenseits des Ver­zeichnisses Lieferbarer Bücher (VLB) eine ganze Menge echte Perlen. Das hier ist eine davon. Ob auch die Empfehlung der kommenden Woche dazu rechnet, ist wohl Geschmacksfrage. Es geht mit Clive Cussler in den Fernen Osten.

Näheres erfahrt ihr an dieser Stelle in sieben Tagen.

Bis dann, Freunde, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. Rick Boyer: „Sherlock Holmes und die Riesenratte von Sumatra“, Bastei 15601, 2006 (das Originaldatum der Publikation war allerdings 1976, womit dieser Roman ein klarer Vorläufer des vorliegenden Werkes ist). Vgl. zur Rezension des Werkes den Rezensions-Blog 74 vom 24. August 2016.

2 Dies erzeugt dann eine interessante Diskontinuität: Wie kann Holmes jenseits von Watsons Geschichten schon so bekannt sein, dass sich internationale Kriminalisten um seinen Rat bemühen? 1894 scheint darum die weitaus plausiblere Datierung für den Fall der Matilda Briggs zu sein… doch dies nur am Rande bemerkt.

3 Der Name ist eindeutig entlehnt von Pierre Louis Moreau de Maupertuis, einem französischen Mathemati­ker (1698-1759) – ebenfalls ein Mann, der seiner Zeit weit voraus war, allerdings deutlich positiver geartet als die Romangestalt.

4 Natürlich dreht „Watson“ das so, dass Wells die Inspirationen, die er aus den obigen Geschehnissen gewon­nen hat, später für seine eigenen Romane verwendet… auf diese Weise verwandelt er den Plagiierten in den Plagiator… eine Handlungsweise, die dann weniger verbeugend ist, als sie ursprünglich wohl gedacht war.

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