Liebe Freunde des OSM,

ja, und damit erreichen wir also heute das Ende der Fahnenstange bei den pos­sierlichen Holmes-Comicabenteuern von Veys und Barral. Da beißt die Maus keinen Faden ab, das ist unabweislich so, dass auch die nettesten Geschichten mal ein Ende haben müssen. Mit einem sechsten Album hätten uns die beiden aber voraussichtlich keinen Gefallen getan, wenn man entdeckt, wie schwer sie sich schon damit tun, hier die 52 Seiten zu füllen.

Dennoch… das Abenteuer um das sprechende Pferd ist ungemein interessant, und ich habe anno 2011, als ich für die Rezension ein paar historische Zusatzre­cherchen durchführte, einiges aufgestöbert, was ihr vielleicht so noch nicht wusstet. Es hat definitiv seine Vorteile, wenn man als Rezensent a) passionier­ter Leser, b) studierter Historiker, c) ausgewiesener Phantast und d) Holmes-Fan ist.

Ihr werdet es sehen, ihr müsst nur ein Stückchen weiterlesen…

Baker Street 5:

Sherlock Holmes und das sprechende Pferd

(OT: Baker Street – Le Cheval qui murmurait à l’oreille de Sherlock Holmes)

Piredda-Verlag

Von Pierre Veys & Nicolas Barral

Berlin 2010

52 Seiten, geb.

ISBN 978-3-941279-39-1

Sherlock Holmes ist ein Genie, selbst wenn manche Zeitgenossen daran allge­mein Zweifel hegen möchten, und ein Genie hat natürlich gelegentlich die Nar­renfreiheit, über die Stränge zu schlagen, exzentrisch zu sein oder… nun… etwas schwierig im Umgang. Niemand weiß das besser als Dr. John Watson, M. D., sein bester Freund und Chronist. Und es gibt nichts, was Watson mehr fürchtet als Zeiten der allgemeinen Ruhe. Denn ihm ist klar, was das bedeutet: dass der schlimmste Feind eines Sherlock Holmes seinen erbarmungslosen Generalangriff auf die Nerven seines Freundes startet: die Langeweile!!!

So ist es auch in diesem verregneten Herbstes eines – wie üblich – nicht be­nannten Jahres. Tristesse zieht in die Baker Street 221B ein, kaum dass Holmes und Watson ihr neues Maskottchen, den Elefanten Harold1, bei den Freunden vom „Club der tödlichen Sportarten“2 abgegeben haben.

Es regnet.

Mrs. Hudson poliert schon die Geländer im Haus vor Langeweile.

Und bei Holmes liegen die Nerven blank („Ein Fall! Ein Fall! Ein Fall!“, kreischt Holmes, nicht umsonst, und etwas später schwadroniert er: „Sind denn alle Kri­minellen Londons und des ganzen Vereinigten Königreichs auf einen Schlag ehr­lich geworden?“). Selbst seine treue Geige gibt den Geist auf und wird in einem rasenden Anfall von furienhafter Verzweiflung zertrümmert – man fühlt sich wie bei ausrastenden Rockstars, die ihre Hotelzimmer zerlegen…

Was für ein Glück, dass es Inspektor Lestrade gibt, der in seiner typisch trotteli­gen Art und Weise eher beiläufig auf eine Reihe rätselhafter Diebstähle aus Ka­sernen des Landes zu sprechen kommt. Und ehe er begreift, was los ist, findet er sich schanghait von Watson und dem jählings wieder von Elan ergriffenen Holmes, der sich mit der Wildheit eines Bluthundes auf den neuen Fall stürzt.

Der freilich beschert Watson erst Ratlosigkeit und schließlich einen dicken Kopf (das hat mit Afghanistan zu tun, aber das sollte man selbst nachlesen, es wirft nicht eben ein schmeichelhaftes Licht auf ihn, und natürlich auch nicht auf Le­strade). Holmes indes ist in seinem Element: ein Dieb, der hoch wichtige Pläne auf dem Schreibtisch liegen lässt, aber stattdessen (gelegentlich) einen Speise­plan mitgehen lässt? Der in ein schwer bewachtes Armeeobjekt eindringt, ohne Spuren zu hinterlassen?

Fürwahr, das ist die Medizin, die Holmes genesen lässt.

Die Spur führt nach Maidstone zum Zirkus Barum, wo Lestrade, Watson und er einer Zirkusvorführung zuschauen und ein bemerkenswertes Wesen treffen – das „sprechende Pferd“ Bukephalos3, das eigentlich nicht spricht, sondern zählt, dies aber höchst akkurat. Und dieses Pferd ist es dann schließlich auch, das den Täter überführt, auf eine äußerst interessante Art und Weise…

Im Anschluss an diese Geschichte, die den Großteil des Heftes ausmacht, folgen noch ein paar Vignetten, möchte ich sagen, die selten mehr als zwei Heftseiten füllen, was eigentlich bedauerlich ist. So nähern sich die Verfasser gewisserma­ßen dem ersten Heft der Baker Street-Reihe wieder an, das ja recht ähnlich strukturiert war. Man hat als Leser darum am Schluss dieses Bandes das unwei­gerliche Gefühl, dass den Verfassern die Ideen ausgingen und sie den Großteil ihres Pulvers in Band 3 und 4 verschossen haben.

Einerlei – die Geschichte mit dem „sprechenden Pferd“ ist interessant genug4, aus zwei Gründen. Zum einen, weil Holmes´ Erklärung, wie Bukephalos „arbei­tet“, in sich schlüssig und plausibel ist (nein, ich bin nicht so gemein und verra­te, wie das geht – es ist wirklich bemerkenswert und hat nichts mit Zauberei zu tun!). Und zum zweiten, weil sie hier ein reales Vorbild verarbeiten, auf das es sich einzugehen lohnt:

Das Vorbild für Bukephalos in diesem Band trug den Namen „der Kluge Hans“. Hans war ebenfalls ein Pferd, genauer genommen, ein Pferd aus der Rasse der Orlow-Traber, etwa im Jahre 1895 geboren. Es gehörte dem Schulmeister und Mathematiklehrer Wilhelm von Osten und war imstande, die Aufgaben seines Lehrers von Osten mit Hufklopfen oder Nicken bzw. Schütteln des Kopfs korrekt zu beantworten. Mehr noch: das gelang selbst dann noch, nachdem eine 13­köpfige wissenschaftliche Kommission der Preußischen Akademie der Wissen­schaften das Tier im September 1904 testete, wenn Fremde in Abwesenheit von Ostens dem Pferd die Aufgaben stellten. Anfang des 20. Jahrhunderts kam also ernsthaft die Frage danach auf, ob Pferde ähnlich intelligent oder sogar in­telligenter sein könnten als Menschen… und das ist eine durchaus phantasti­sche Frage, die indes der absoluten Realität entstammt und weniger über Pfer­de denn über Menschen aussagt, besonders über die Begrenztheit von Wissen und über Wunschdenken.

Das Geheimnis des „Klugen Hans“ wurde dann von dem Studenten Oskar Pfungst gelöst und hatte enormen Einfluss auf die experimentelle Psychologie. Von Osten wollte davon freilich nichts wissen und hielt an seiner Deutung des intelligenten Pferdes fest. Er starb im Jahre 1909, doch der Nachbesitzer des „Klugen Hans“, der Kaufmann Karl Krall, führte in Elberfeld weiterhin Experi­mente mit ihm durch und trainierte auch noch andere Tiere, die so genannten „rechnenden Pferde von Elberfeld“ (etwa seine Pferde Muhamed und Zarif) auf diesem Gebiet weiter.

Leider, muss man sagen, endete die Geschichte tragisch, und daran sind die Zeitläufte schuld: im Jahre 1916 wurden Hans und die anderen Pferde aus Kralls Gestüt für den Einsatz im Ersten Weltkrieg herangezogen, in dem insbesondere auch Hunderttausende von Pferden umkamen. Die Spur von Hans verliert sich hier… und man muss wohl annehmen, dass Hans mit zu den Tieren gehört, die auf diese schreckliche Weise von der Knochenmühle des Krieges zermahlen wurden, ungeachtet ihrer Talente.

Wer mehr über dieses faszinierende Kapitel der Zeitgeschichte erfahren möch­te, sei auf die WIKIPEDIA-Seite „Kluger Hans“ verwiesen, die diesem Teil meiner Rezension als Grundlage diente. Auch interessant scheinen mir die Literaturver­weise darauf zu sein. Nicht nur Oskar Pfungsts „Das Pferd des Herrn von Osten“, sondern besonders auch der Beitrag „Review of Oskar Pfungst’s Das Pferd des Herrn von Osten“ von John Watson (!)5 im „Journal of Comparative Neurology and Psychology 18“, 1908, S. 329-331. Ganz zu schweigen von dem süß betitel­ten Aufsatz von Heike Baranzke: „Nur kluge Hänschen kommen in den Himmel. Der tierpsychologische Streit um ein rechnendes Pferd zu Beginn des 20. Jahr­hunderts“, in: Friedrich Niewöhner, Jean-Loup Seban (Hg.): Die Seele der Tiere. Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 94, Wiesbaden 2001, S. 333-379.

Man merkt hieran deutlich: es ist immer wieder überraschend, was geschieht, wenn jemand intelligente, tiefgründige Comics erschafft, die eine direkte Schnittfläche sowohl mit der Phantastik einerseits – denn Holmes und Watson sind als Phantasieprodukte nun einmal durchaus phantastischer Natur – als auch mit der realen Historie andererseits besitzt. Ich bin von solchen „Crossover“ regelmäßig erfreut.6 In dieser Hinsicht bin ich Holmes vermutlich ein wenig ähnlich – die intellektuelle Herausforderung macht einen wesentlichen Teil des Lesevergnügens für mich aus. Beizeiten wird sich das noch mehr erweisen, denn ich bereite gerade eine Rezension zu dem Buch „Das Geheimnis des Geigers“ vor, das moderne Sherlock Holmes-Geschichten enthält und jüngst ausgelesen wurde.7

Doch zurück zu dem Baker Street-Album: schade, dass das Vergnügen schon vorbei ist. Und auch diesmal gilt, mit kleinen Einschränkungen: klare Leseemp­fehlung!

© 2011 by Uwe Lammers

Natürlich gibt es alsbald auch einen weiteren mehrteiligen Zyklus zu bespre­chen. Jetzt, wo ich (im November 2018) diesen Beitrag schreibe, lese ich mich mit enormer Begeisterung etwa durch die Trilogie „Lost in you“ von Jodi Ellen Malpas, die ich euch zweifellos alsbald auch noch vorstellen werde. 2020 oder so, denke ich, denn die Beiträge bis Ende Juni 2019 sind jetzt bereits durchge­plant, und es gibt so viele interessante Werke, die besprochen werden wollen, ehe ich an die Malpas herangehe (Nachtrag vom 26. März 2019: Dieser Zyklus bekam im aktuellen Jahr sogar noch einen vierten Teil, der inzwischen ebenfalls gelesen und rezensiert wurde… beizeiten stelle ich euch diese vier tollen Bücher zweifellos vor).

In der kommenden Woche kommen wir zu Clive Cussler und seinen NUMA-Abenteuern zurück. Lasst euch überraschen, welchen Band ich mir dann vor­nehme.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. dazu die Alben „Baker Street 3“ und „Baker Street 4“ bzw. die Rezensions-Blogs 201 (30. Januar 2019) und 205 (27. Februar 2019).

2 Vgl. dazu das Album „Baker Street 2“ bzw. den Rezensions-Blog 196 (26. Dezember 2018).

3 So hieß übrigens, und da hätte es der Fußnote im Comicalbum nicht bedurft, soviel althistorische Kenntnis­se besitze ich durchaus, das Pferd Alexanders des Großen in der Antike. Allerdings kann man natürlich nicht bei allen Lesern ein historisches Studium voraussetzen, insofern sollte ich also nicht so garstig denken, son­dern das für freundliche Kulanz seitens des Verlages halten.

4 Und nein, das Titelbild führt mal wieder karikierend zu weit, wenn es das Pferd mit Karodecke, Hut und Pfei­fe analog zu Sherlock Holmes zeigt. So verkleidet ist es in realiter dann doch nicht.

5 Da Holmes´ Kompagnon Dr. John Watson, M. D., eine fiktive Figur ist, können wir ausschließen, dass es sich hier um ein und dieselbe Person handelt. Aber ich fand allein schon die namentliche Koinzidenz absolut drollig, wie man sich vorstellen kann.

6 Das konnte man ja auch an dem Fall von J. J. Preyers „Sherlock Holmes und der Fluch der TITANIC“ sehen. Die Rezension ist für den Rezensions-Blog in Vorbereitung.

7 Langjährige Leser meines Rezensions-Blogs kennen diese Rezension inzwischen natürlich. Vgl. dazu den Re­zensions-Blog 29 (14. Oktober 2015).

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