Rezensions-Blog 221: Gestohlene Welten

Posted Juni 19th, 2019 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Diebstahl ist ein Verbrechen, das vom Gesetz mit Recht verfolgt und bestraft wird. Eigentum ist nicht erst in der modernen kapitalistischen Gesellschaft ein Grundpfeiler der sozialen Ordnung, sondern war dies schon seit Anbeginn der Zeit (aber, zugegeben, damals waren die Strafen für Diebstahl weitaus dramati­scher als heute, mitunter wurde man schlicht beim Ertappen einen Kopf kürzer gemacht).

Diebstahl ist auch nichts, was man als ein flüchtiges, vergangenes Phänomen charakterisieren könnte, sondern ich würde soweit gehen zu sagen, dass es heute wohl noch viel ausgeprägter ist als in früheren Jahrhunderten. Das hat viele verschiedene Gründe. Raffgier allein ist jedenfalls dafür nicht der aus­schlaggebende Grund… schon gar nicht in dem Bereich, in dem es nicht primär um schnödes Geld oder Juwelen geht, sondern um andere Dinge der Vergan­genheit, die rar und verborgen sind und als Schatz gehütet werden.

Wissen, zum Beispiel, ist eine Ressource, die zu jeder Zeit in Gefahr war, gestoh­len zu werden.

Aber wie, um alles in der Welt, stiehlt man ganze WELTEN? Und dann sogar noch solche, die es niemals gegeben hat? Nun, um das zu verstehen, möchte ich euch heute eine meiner älteren Rezension zu einem Buch vorstellen, das ich im Jahre 2004 mit großer Faszination rasant durchgeschmökert habe. Ich kann es jedem, der meinen obigen Zeilen neugierig gefolgt ist, nur wärmstens emp­fehlen.

Vorhang auf für:

Gestohlene Welten

(OT: The Island of Lost Maps)

von Miles Harvey

btb 73046

354 Seiten, TB

Dezember 2002, 10.00 Euro

Übersetzt von Andrea Ott

Man nannte es den „unsichtbaren Raubzug“ – die wohl unglaublichste Serie von Diebstählen, die die Geschichte je gesehen hatte. Nun gab es natürlich eine Menge Diebe in der Weltgeschichte, und spektakuläre Objekte, die geraubt wurden. Aber in der Regel merkte man schnell, dass etwas fehlte. Diesmal nicht. Der Räuber wurde nicht entdeckt, der Diebstahl nicht registriert.

Und was er raubte!

Wutschnaubende Drachen, die dem Betrachter drohten? Eingerollt und mitge­nommen. Bizarre Ländereien, die kaum je ein Auge zuvor gesehen hatte, die zu­vor gar als Staatsgeheimnis galten? Geschwind zwischen den Fingern ver­schwunden und nie wieder gesehen. Eldorado? Atlantis? Fantastische Inseln? Unter dem Mantel verschwunden und gestohlen. Jahre harter Arbeit, Jahrhun­derte ehrwürdiger Tradition, einfach so entweiht, herausgerissen aus ihrem Schlummer, entführt ohne Lösegeld, ohne Bekennerschreiben.

Nur ein dummer Zufall, einer aufmerksamen Beobachterin zuzuschreiben, brachte im Dezember 1995 den unscheinbaren Dieb ans Tageslicht: einen Mann, der sich selbst als James Perry bezeichnete und doch ganz anders hieß, einen Mann, hinter dem der monströse Schatten ganzer Jahrhunderte und Jahr­tausende einer sinistren, ja, diabolisch zu nennenden Tradition stand.

Der Dieb, der ausging auf seinen unsichtbaren Raubzug, hieß in Wahrheit Gil­bert Bland, ein nichts sagender, unscheinbarer Mann, der selbst, wenn man sich an ihn erinnerte, nicht durch besondere Details auffiel. „Freundlich“, „unschein­bar“, „langweilig“ und „durchschnittlich“ waren die Attribute, die man ihm zu­schrieb. Man unterschätzte ihn, weil er ein Blender war und seine Umwelt im­merzu virtuos verführte, weil er wollte, dass man ihn unterschätzte.

Die Opfer verstanden sich als Hüter alter Schätze, meist waren es pedantische, ruhige, verständige Menschen, die alte Bücher mehr schätzten als den Kontakt mit der Allgemeinheit. Menschen, die sich darum sorgten, dass ihr Etat gekürzt wurde, dass vielleicht die Bausubstanz ihrer Wissenstempel ruiniert werden könnte, im Wesentlichen aber Menschen, die in einer ganz anderen Welt da­heim waren als jene Personen, die um ihre Gebäude herumwuselten: sie waren nicht Männer und Frauen der Tat, der Gegenwart verpflichtet, sondern sie hor­teten und hüteten das Wissen vergangener Jahrhunderte, ja, sogar der Jahrtau­sende. Mächtige, von hochbegabten und arbeitsamen Druckern hergestellte Fo­lianten, kostbare Werke, die in oftmals jahrelang nicht ein einziges Mal aus den Magazinen geholt wurden. Umso froher waren diese Menschen, die Bibliothe­kare, wenn dies dennoch geschah.

Und sie waren so froh, ihre Schätze einem einsamen Benutzer vorlegen zu kön­nen, und wenn er James Perry hieß. Konnten sie denn wissen, dass er in seiner Manteltasche eine einseitig geschärfte Rasierklinge mit sich führte? Konnten sie ahnen, dass er nicht des Wissensgewinnes wegen hier war, sondern deshalb, weil er mit unheimlich geschickten Bewegungen wertvolle Karten aus den Bü­chern heraustrennte und verschwinden ließ?

Wie gesagt, dies ist die Geschichte jenes unheimlichen, unsichtbaren Raubzu­ges, den Gilbert Bland in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts be­gann und der gleich einem tektonischen Beben nach seiner Aufdeckung die Bi­bliothekarszunft zu erschüttern begann, unmittelbar flankiert von einem ähnli­chen Beben in der Ebene der Kartensammler und -antiquare.

Und doch war die Entdeckung nicht der Höhepunkt dieser Geschichte, denn dazu musste er noch verurteilt werden, der Kartendieb. Genau dazu aber wäre es beinahe niemals gekommen…

Der Journalist Miles Harvey, nach eigenem Bekunden ein hoffnungslos den Kar­ten Verfallener, der die Karten gelegentlich wispern hört und ihnen lauscht, wenn sie Geschichten von verstörten, verblendeten Abenteurern erzählen, von mythischen Orten und Inseln, die es nicht gibt, Miles Harvey begibt sich auf sei­ner Suche nach der Geschichte des geheimnisumwitterten Kartendiebes Gilbert Bland auf eine Reise durch die Zeit.

Sie führt nicht nur bis in Blands Kindheit zurück (aber auch), sondern sie macht den Leser vertraut mit vielen Jahrtausenden kartografischer Tradition. Wenn wir, so Harvey, verstehen wollen, was die Bedeutung dieser Karten ist, müssen wir begreifen lernen, was sie darstellen. Warum Menschen überhaupt versuch­ten, ihre Welt in Karten zu fassen, was die seltsam pausbäckigen Windfiguren an den Rändern antiker Karten bedeuten, warum viele so bizarr und verzerrt aussehen und weswegen andere Karten obskure Inseln und Ländereien (wie etwa das Paradies oder die Insel Kalifornien) tragen, fiktive breite Ströme gar, die Nordamerika in Ost-West-Richtung durchqueren.

Der Leser, der sich auf das sehr kurzweilige und spannende Abenteuer einlässt, dieses Buch zu lesen und diesen gedanklichen Pfaden zu folgen, wird sich rasch auf eigenartigen Karten wieder finden, in der Gesellschaft von Schmugglern, Pi­raten, Räubern, fanatischen Entdeckern, Konquistadoren, herrschsüchtigen Kö­nigen und Päpsten, er wird mit den Druckern und Zeichnern, den Kupferste­chern und Färbern vergangener Zeiten schwitzen und wochenlang, ja jahrelang über einzelnen Karten grübeln. Er wird den Wert von Karten damals wie heute begreifen und langsam zu verstehen beginnen, dass Menschen wie Gilbert Bland – er ist nicht alleine, glaube das niemand! – , dass hier nicht nur ein „paar Blatt Papier“ geraubt werden, wenn man alte Karten aus vergilbten Foli­anten herausschnitzt, sondern dass damit Geschichte selbst geraubt wird. Man plündert das Leben früherer Jahrhunderte und toter Menschen, wie man Grä­ber ausplündert und Leichen fleddert.

Man verstehe den Autor richtig: es geht hier nicht um ein Verdammungsurteil. Es geht um VERSTÄNDNIS. Denn nur aus dem Verständnis und einem richtigen Umgang mit der Vergangenheit erwächst jene Anerkennung, jene Ehrfurcht vor früheren Generationen, die es möglich macht, dass ihr Erbe bewahrt wird. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist Miles Harveys Buch eminent wichtig, denn es entlarvt die Fehler und Schwächen in einem System der Bewahrung von Wis­sen, es entlarvt aber auch jenen Menschen, der wie kein anderer Wert darauf legte, dass ihn niemand kennen lernen konnte: Gilbert Bland.

Und fast nebenher erfährt der geneigte Leser unwahrscheinlich viel über Karto­grafie, über Bücher, über Entdeckungsgeschichte, die Mentalität jener früheren Jahrhunderte, über Herrschaftspolitik, willkürliche Grenzziehungen und vieles mehr. Ja, und am Ende ist man beinahe selbst geneigt, über Karten zu meditie­ren und darauf zu warten, dass sie einem geheimnisvoll die Wegbeschreibung zur Lösung des Problems ins Ohr wispern, einem freundlichen Flaschengeist nicht unähnlich.

Lasst euch auf die Reise ein, ihr werdet es nicht bereuen.

© 2004 by Uwe Lammers

Ja, Gilbert Bland und Miles Harvey sind schon wirklich heftiger Stoff, der aber zugleich auf kulturhistorischem Gebiet für einen enormen Wissenszuwachs sor­gen kann. Achtet diese Dinge also nicht zu gering, meine Freunde.

Wie, das war euch jetzt zu hochgeistig? Ihr wollt es gern wieder ein wenig seichter, bodenständiger, euch dröhnt der Schädel von all den ungewohnten Fakten? Also schön, dann werde ich euch in der kommenden Woche etwas Ver­gnügliches vorstellen, das ein bisschen eure Lachmuskeln trainieren hilft. Da müsst ihr also mindestens mit den Mundwinkeln zucken, ja? Versprecht es mir, Freunde, und schaut nächste Woche wieder rein.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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