Rezensions-Blog 241: Das Ivanhoe-Gambit (1)

Posted November 5th, 2019 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

vielleicht denkt einer von euch, dass ich schon längere Zeit keine SF-Zyklen mehr rezensiert habe und möglicherweise daran Mangel litte… nun, das kann ich nicht bestätigen, es gibt da schon noch eine ganze Menge interessanter Zy­klen, von denen ich auch einige vor Jahren längst rezensiert habe. Aber ich stimme euch zu, nachdem ich mich zuletzt im „Down Under“ mit dem letzten Mehrteiler amüsierte (sehen wir mal von unserem Dimensionsdetektiv ab, das waren ja auch nur zwei kurzweilige Comicalben) und dies zudem noch einen eindeutigen Fokus auf BDSM-Erotik hatte, hättet ihr völlig mit Recht die oben vermutete Klage angestimmt.

Ich habe vor ein paar Monaten mal daran gearbeitet, die hier jetzt vorgestellten Rezensionen für Fanzine-Publikation aufzubereiten, und wie ihr am Datum am Schluss dieser Rezension seht, hatte ich das aktuelle Buch 15 Jahre zuvor gele­sen, die Rezension war darum ein kleines bisschen… hm… angestaubt. Aber im­mer noch nicht uninteressant.

Es geht um lupenreine Science Fiction, um ein turbulentes Zeitreiseabenteuer, in dem auch der Zeithistoriker auf seine Kosten kommt, der ich ja vom berufli­chen Hintergrund auch bin. Intelligente Unterhaltung, gut übersetzt und, von einigen schiefen Showeffekten abgesehen, sehr interessanter Lesestoff. Natür­lich sind die Bücher längst vergriffen, aber antiquarisch sollten sie sich noch fin­den lassen. Ich denke nach wie vor: das Suchen lohnt sich.

Ihr seid noch nicht überzeugt? Okay, dann schaut euch das mal an und entschei­det danach ein weiteres Mal:

Das Ivanhoe-Gambit

(OT: The Ivanhoe-Gambit)

Von Simon Hawke

TIMEWARS Band 1

Bastei 23166

320 Seiten, TB

Juli 1995

Übersetzt von Bernd Kling

ISBN 3-404-23166-X

Man schreibt das Jahr 2613, als Lucas Priest, ein junger Mann, auf den Werbe­slogan „Die Armee von heute hat Zeit für dich!“ hereinfällt und in die Armee eintritt. Es klingt wirklich harmlos: man leistet eine Woche (!) Armeedienst, wird in Ehren entlassen und kann sich mit einem angenehmen Gehalt zur Ruhe setzen.

Da ist doch ein Haken dabei, wird man misstrauisch sagen. Natürlich hat der Skeptiker Recht. Es gibt sogar mehrere Haken.

Haken Nummer 1 ist zugleich ein großer Köder für die gelangweilten High­school-Absolventen des 27. Jahrhunderts: In einer Welt, in der man unproble­matisch mehr als hundert Jahre alt werden und kerngesund bleiben kann, in der es keine nennenswerten Krankheiten und Malaisen mehr gibt, von Kriegen ganz zu schweigen, da ist der Ort dieser Armeeverpflichtung ein reines Eldorado des reinsten Abenteuers: die Vergangenheit der menschlichen Rasse.

Denn die Armeeangehörigen kämpfen in der Vergangenheit. Sie überwachen unter Aufsicht des Gremiums der Schiedsrichter Krisenherde der Historie und greifen ein, wenn es dort „Probleme“ gibt. Das ist sehr häufig mit tödlichen Ein­sätzen verbunden, und viele Soldaten bleiben auf der Strecke.

Freilich, so sagen die Werber, kann man dabei Abenteuer en masse erleben, schöne Frauen umgarnen, historische Persönlichkeiten kennenlernen… kurzum: alles das, was die Gegenwart des 27. Jahrhunderts nicht mehr zu leisten ver­mag. Außerdem hat man ja einen optimalen Schutz durch die Technik, Implan­tate, historische Schulungen usw.

Nun ja.

Sagen wir es vorsichtig: Es gibt Situationen, in denen diese Vorteile sehr trüge­risch sind.

Das zweite Plus neben dem Abenteuerfaktor ist definitiv die kurze Dienstzeit. Sie ist wirklich kurz. In der so genannten PLUSZEIT. Denn die Woche Dienstzeit ist die Woche, die man im Hier und Jetzt zubringt.

Der alsbald zum Oberstaatsfeldwebel des Zeitkorps avancierte Lucas Priest be­merkt aber sehr rasch, dass die Einsatzaufrufe in der Gegenwart im Minuten­takt aufeinander folgen, es ist selten, dass man eine Stunde im Hier und Jetzt ausruhen kann. Manchmal sind, wenn man aus dem Einsatz zurückkehrt, noch nicht einmal die Eiswürfel im Drink geschmolzen – man selbst hat aber unter Umständen 9 Monate in der Vergangenheit zugebracht.

So altert Priest recht schnell und versucht bald nur noch, zu überleben. Indem er an Little Big Horn Custer umnietet (in der Verkleidung als Cheyenne, versteht sich!) oder sich beinahe von Hannibals Kriegselefanten in Grund und Boden rennen lässt, als er in der Maske eines Römers Scipios Angriff auf die karthagi­sche Armee mitmacht.

Und das desillusioniert doch recht schnell.

Und dann kommt dieser Selbstmordeinsatz.

Er wird schon misstrauisch, als in der Konditionierungszone im 12. Jahrhundert ein leibhaftiger Schiedsrichter auf ihn wartet und seine Freunde Finn Delaney, Ro­bert (Bobby), Benjamin Johnson und ein Mann namens Hooker auf einen Allein­einsatz getrimmt werden, ohne Begleitmannschaft.

Es wird noch seltsamer, als er erfährt, dass nach diesem Einsatz alle noch abzu­leistende PLUSZEIT annulliert und er ehrenhaft entlassen werden soll. Und voll­ends die Haare zu Berge stehen ihm, als er trotzdem annimmt, aus Neugierde, und um mit seinen Freunden zusammen zu sein, und nun endlich erfährt, was passiert ist.

Ein Schiedsrichter namens Irving Goldblum, versiert in allen Theorien und Tech­niken der Zeitmechanik, ist aus der Zukunft desertiert und in die Vergangenheit verschwunden. Sein Ziel: das 12. Jahrhundert, genauer gesagt: das Jahr 1194. Im Jahre 1189 hat Richard Plantagenet, auch bekannt als Richard Löwenherz, den englischen Thron bestiegen und ist auf Kreuzzugfahrt ins Heilige Land auf­gebrochen. In der Zwischenzeit hat John Lackland, Richards Bruder, den Thron okkupiert. Bei der Rückkehr aus dem Heiligen Land geriet der rechtmäßige eng­lische König in Gefangenschaft und wurde gegen ein Lösegeld im Jahre 1194 freigelassen. Er müsste auf dem Rückweg nach England sein…

müsste, wenn Irving, der desertierte Schiedsrichter, ihn nicht hätte verschwin­den lassen. Denn Irving hat einen größenwahnsinnigen Plan. Wohl wissend, dass Richard Löwenherz im Jahre 1199 in Frankreich den Tod finden wird, hat ER vor, den Platz des Herrschers in Löwenherz´ Maske einzunehmen und alles andere als sein Schicksal zu teilen.

Stattdessen möchte Goldblum die Zukunft verändern, indem er über Richards Todesdatum hinaus lebt und eine neue Zeitlinie entwirft. Die Schiedsrichter der Zukunft sind aber gerade deshalb so erpicht darauf, dies zu verhindern, weil es – höchstwahrscheinlich – ein entsetzliches Chaos heraufbeschwören würde und die Existenz der menschlichen Spezies gefährden könnte. Irving Goldblum glaubt das nicht.

Er ist darum mit seinem eigenen Zeitschirm (eine Art transportabler Zeitmaschi­ne) in die Vergangenheit zurückgegangen und beginnt nun hier, in der Maske des zurückkehrenden Königs damit, die Macht des Usurpators John Lackland zu zersetzen.

Zwei Versuche der Schiedsrichter des Zeitkorps, ihn aufzuhalten, sind bereits gescheitert. Alle Soldaten sind dabei umgekommen. Im Prinzip sind Lucas und seine Leute die dritte Wahl. Und es gibt wenig Aussicht darauf, dass sie erfolg­reich sein könnten (glücklicherweise wissen sie das nicht!).

Um leichter in „Richards“ Nähe zu gelangen, werden ihre Zielpersonen, deren Stelle sie einnehmen sollen, sorgsam ausgesucht. Lucas Priest mimt niemand Geringeren als Sir Wilfred von Ivanhoe, Hooker ist sein Knappe, und seine bei­den Kollegen sollen sich in den Sherwood Forest durchschlagen, und Bobby und Finn ersetzen dort Robin Hood und Little John.

Die Geschichte wird ziemlich kompliziert, als sie in der Zielzeit real ankommen und sich in ihren Rollen daran machen müssen, Teil der Zeit zu werden. Bei ei­nem Schauturnier brilliert „Ivanhoe“, indem er alle Ritter König Johns aus dem Sattel wirft, und der sich namenlose gebende „Robin Hood“ stellt legendäre Bo­genschießkünste (mit technischer Hightech-Unterstützung) zur Schau. Letzteres wird ein echtes Problem: denn als er wenig später mit Little John im Forest auf­taucht, muss er erkennen, dass Robin Hood alles andere als auch nur ein passa­bler Bogenschütze ist, dass seine gefürchtete Bande eine Horde von geistlosen Tagträumern und Säufern ist, die obendrein – wie er selbst auch! – unter dem Pantoffel von „Lady Marian“ stehen.

Aber das ist das kleinste Übel. Viel schlimmer ist, dass ihr Gegenspieler bestens über sie Bescheid zu wissen scheint und ihnen das sehr drastisch beweist, in­dem er Hooker seine eigene Leiche vor die Füße wirft!

Sehr, sehr schnell wird aus einer scheinbar sehr klaren Lage ein konfuses Chaos, in dem der Gegner stets einen Zug voraus zu sein scheint und letzten Endes nur der Zufall eine hauchdünne Chance lässt, hier lebend herauszukommen, ge­schweige denn, das Ziel zu erreichen…

Was an dem Roman ungemein positiv auffällt, sind mehrere Dinge: zum einen ist der Schreibstil erfreulich locker, die Übersetzung gelungen ironisch und kurz­weilig (großes Lob an Bernd Kling an dieser Stelle!). Ebenso faszinierend ist das Hintergrundambiente der TIMEWARS, das lange sehr diffus und fragwürdig im Hintergrund verbleibt. Man fragt sich, warum diese Kriege ausgefochten wer­den, gegen wen man eigentlich kämpft, wie es sich mit der Frage der Moral ver­hält, wie man ins Schiedsrichterkorps aufsteigt und was da nun genau vor sich geht und WARUM überhaupt…

Im Laufe des Romans kristallisiert sich heraus, dass die Struktur, auf der die Ge­schichte basiert, überaus komplex ist und offenkundig gut entwickelt wurde (in weiteren Bänden der Serie erweist sich das als zutreffend). Dabei sind die subti­len Feinheiten der Zeitreisetheorie so schön und verwirrend gestrickt, dass selbst ein altgedienter Zeitreiseleser wie ich fast einen rauchenden Kopf be­kommt. Sehr angenehm. Wenn dann noch zum Schluss „Charles Dickens“ auf­taucht, demgemäß jede fortschrittliche Technik den Gegenwärtigen wie Magie erscheinen muss, kann man sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Hawke hat seinen Arthur C. Clarke gut gelesen.

Weiterhin überzeugen profunde Kenntnisse der Zeithintergründe den historisch vorgebildeten Leser. Ich bin zwar kein Experte für die Zeit von Richard Löwen­herz, aber ein Abchecken der generellen Daten konnte keine signifikante Abwei­chung von der Realität zeigen.

Die einzigen kleinen Problemchen habe ich mit Hooker II gehabt, und Hawke of­fenbar auch, lässt er ihn doch klammheimlich verschwinden. Da windet er sich etwas aalgleich aus der Affäre. Ansonsten aber… gelungener Lesestoff, ein spannendes, schön lesbares Garn, das Hunger auf mehr macht. Dass ich diesen Roman mit sechs Jahren Verspätung kennen gelernt habe – ich kannte ihn schon länger, habe ihn aber erst als Remittende in diesem Jahr erworben – , das sehe ich dabei nicht als Problem an. Er ist in einer ironischen Weise „zeitlos“. Und es gibt wenigstens vier Folgebände.

© 2001/2016 by Uwe Lammers

Doch, das machte wirklich Laune, das kann ich nicht anders sagen. Nicht zuletzt der trockene Humor, der in der Übersetzung gut herüberkommt, macht die Lek­türe sehr kurzweilig.

In der kommenden Woche bleiben wir etwas näher an der Gegenwart und stür­zen uns in einen rasanten Abenteuer-Roman, der fast der Feder von Clive Cuss­ler entsprungen sein könnte… womit ihr nicht weitab von Schuss liegt. Was ich damit meine, erfahrt ihr im Detail dann in sieben Tagen an dieser Stelle!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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