Rezensions-Blog 271: Im Zeichen der Vier

Posted Juni 3rd, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

vermutlich werden jüngere Zeitgenossen als ich solche Namen wie „Major Sholto“ und „Mary Morstan“ eher aus der BBC-Serie „Sherlock“ kennen denn aus dem Original, um das es hier heute geht. Aber ich wage mal die Prognose, dass, wer die moderne „Sherlock“-Variante kennt, bei der Entdeckung der Lek­türe ungeachtet der starken inhaltlichen Ähnlichkeit doch bemerkenswerte Un­terschiede feststellen wird. Und für jemanden, der sich für Sherlock Holmes in­teressiert und neu zur Gemeinde der Holmesianer stößt, für den sollte es zum guten Ton und zur Selbstverständlichkeit gehören, diesen Roman gelesen zu ha­ben.

Ich selbst habe das erst relativ spät getan (2006), mithin ist diese Rezension, die gleich darauf entstand, auch schon ihre geschlagenen 14 Jahre alt. Aber sie nä­hert sich dem Werk mit Respekt, wiewohl die Übersetzung und Präsentation so ihre Schwächen aufweist und der Inhalt kolonialgeschichtlich quasi-rassistisch an vielen Stellen klischeehaft unterwandert ist. Heutzutage in einem Klima der zunehmenden literarischen Prüderie, wo sogar schon Mark Twain zensiert wird, wenn er ungeniert von „Negern“ spricht und die political correctness in voraus­eilendem Gehorsam Klassiker mit Scheuklappen und Maulkörben versieht, wür­de dieses Werk vermutlich unschön auffallen.

Wer sich nicht daran stört, sondern zur Kenntnis nimmt, dass Menschen eines anderen Zeitalters schlichtweg anders geschrieben haben und dies in den sozi­alhistorischen Kontext vernünftig einzusortieren weiß, wird von derlei albernen Spielchen der Moderne Abstand nehmen. Und vielleicht dennoch Sherlock Hol­mes´ zweiten veröffentlichten Fall von Romanlänge zu goutieren wissen.

Wer noch nicht Bescheid weiß, lese weiter. Wer den Roman kennt, lese auch gern weiter:

Im Zeichen der Vier

(OT: The Sign Of Four)

von Sir Arthur Conan Doyle

Ullstein 2744, September 1980

168 Seiten, TB

Übersetzt von Tatjana Wlassow

ISBN 3-548-02744-X

Im Jahre 1890 publizierte Lippincott’s Monthly Magazine ab Februar den zwei­ten aufregenden Fall des geheimnisumwitterten Detektivs Sherlock Holmes aus der Baker Street 221b. Und er wartet gleich mit einigen schockierenden Eröff­nungen auf: der etwa, dass der so durchgeistigte Sherlock Holmes ein zwischen manischer Begeisterung einerseits und depressiver Niedergeschlagenheit an­derseits schwankender Mensch ist, der „das stumpfe Gleichmaß des Daseins“ verabscheut, das sich jenseits seiner Kriminalfälle nur mit Kokain in steigender Dosierung ertragen lässt.

Im nächsten Atemzug diskutiert Doyle sein eigenes Werk – „Studie in Scharlach­rot“, auch Jefferson-Hope-Fall genannt – , und Holmes verreißt es …, sehr zum Ärgernis von Dr. John Watson, der dieses Werk „doch vor allem ihm zu Ehren geschrieben“ habe. Nein, muss man sagen, in diesem später auf den Handlungszeitpunkt September 1888 datierten Roman1 ist von besonderer Achtung und Ehrerbietung zwischen Autor und Geschöpf Sherlock Holmes noch keine Rede. Das soll sich bald darauf gründlich ändern.

Holmes leidet also in diesem Spätsommer 1888 unter starker Melancholie, doch das ändert sich ein wenig, als eine junge, blonde Dame seine Räume be­tritt – Mary Morstan, eine Waise, die bei einer Mrs. Forrester angestellt ist und eine überaus rätselhafte Geschichte zu erzählen weiß, in der sie Rat und zwei Freunde braucht.

Ihr Vater war Kolonialoffizier in Indien und schickte sie bereits als Kind in die Heimat nach Edinburgh zurück, weil die Mutter bereits verstorben war. 1878 kam er auf ein Jahr nach England zurück und telegrafierte seiner Tochter aus London, er sei wohlbehalten angekommen. Aber dann verschwindet er spurlos am 3. Dezember 1878 und wird nie wieder gesehen. Mary Morstan versuchte alles, um ihn wieder ausfindig zu machen, schrieb auch dem einzigen Kamera­den ihres Vaters, einem Major Sholto, der im Ruhestand in London wohnte, doch dieser wusste nicht einmal, dass Captain Morstan zurückgekehrt war.

Im Jahre 1882 erschien in der TIMES eine Anzeige, in der Mary Morstan darum gebeten wurde, ihre Adresse bekanntzugeben, und kaum hatte sie das getan, erhielt sie ein seltsames, kommentarloses Päckchen mit einer großen, leuchten­den Perle. Dieses Geschenk wiederholte sich auf den Tag genau sechs Mal … und bei dem letzten fand sich ein Schreiben um ein Treffen, zu dem sie, wenn sie misstrauisch sei, zwei gute Freunde mitbringen könne.

Sherlock Holmes, der von der Bizarrerie des Falles angezogen wird, ist gerne be­reit, hilfreich einzuspringen, und Dr. Watson, der von Mary Morstan ganz ver­zaubert ist („Was für eine ungewöhnlich reizvolle Frau!“), sagen zu. Aber auch in diesen Momenten merkt man Holmes düsteren Pessimismus deutlich. Gefragt, ob er Marys Schönheit nicht registriert habe, antwortet er dumpf: „Ich darf dir übrigens versichern, dass die entzückendste Frau, die ich je sah, gehängt wurde, und zwar deshalb, weil sie ihre drei kleinen Kinder, die hoch versichert waren, vergiftet hatte …“

Nun, in diesem Fall ist Mary wahrlich alles andere als eine Giftmischerin. Und der Fall ist noch abenteuerlicher, als sie sich das alle vorstellen: ehe sie recht begreifen, was geschieht, ist zwar der Tod von Marys Vater geklärt, aber ein an­derer Mensch zu Tode gekommen, auf durchaus fremdartige Weise. Zurückge­blieben ist das unbegreifliche „Zeichen der Vier“. Und es gilt sowohl, einen Ver­brecher zu jagen als auch den „großen Agra-Schatz“ zurückzubekommen, der aus Mary Morstan die reichste Waise Englands zu machen vermag. Sherlock Holmes nimmt mit dem „unvergleichlichen Toby“ und der trickreichen „Baker-Street-Bande“ die Verfolgung des Mörders auf.

Die Wurzeln dieses unvorhersehbar verwickelten Verbrechens reichen zurück bis nach Indien zum Sepoy-Aufstand, und überall trieft das Blut und liegen die Leichen …

Man merkt dieser Geschichte beim Lesen deutlich an, dass sie schnell geschrie­ben wurde und in monatlichem Rhythmus Kapitel für Kapitel erschien. Zwar er­weist sich Doyle als durchaus sicher und beeindruckend darin, Holmes´ dedukti­ve Fähigkeiten zu schildern, allerdings gibt es auch Details, die einfach unzutref­fend und schief sind. Überstarke Klischees, beispielsweise von den fast durch­weg blutrünstigen und barbarischen „schwarzen“ Indern (die, wenn man es ge­nau nimmt, nicht schwarz SIND) oder die von den Andamanen-Insulanern – Doyle/Holmes beschreibt sie generalisierend als „von Natur aus häßlich ge­formt, haben große, mißgestaltete Köpfe, kleine, wilde Augen und verzerrte Ge­sichtszüge …“ wirken teilweise so grotesk übertrieben, dass heutige Leser nur mitunter resignierend den Kopf schütteln können. Man schaue sich beispiels­weise im Auftaktheft der Zeitschrift GEO die Reportage über die Andamanen (!) an2 und die dort abgebildeten Menschen, und man kann diese anthropologi­sche Typisierung Arthur Conan Doyles sofort ad absurdum führen.

Natürlich sind diese Darstellungen der „barbarischen Wilden“ auf der einen Sei­te oder jener „edlen Männer mit hoch entwickeltem Moralempfinden“ auf der anderen ein Tribut an jene Zeit, in der die Geschichte entstand. Eine Zeit, in der Forscher noch um den Globus reisten und Schädel vermaßen in dem strikten Glauben, auf diese Weise „überlegene Rassen“ ermitteln zu können, ganz zu schweigen davon, dass natürlich, wer über die weiße Hautfarbe verfügte, ganz selbstverständlich dazu berufen sei, Menschen anderer Hautfarbe automatisch als minderwertig anzusehen. Solche heute rassistisch genannten Klischees sind in diesem Roman in hohem Maße aktiv. Sie sind keine Erfindung der Nazis, son­dern waren vorher schon durchaus im angelsächsischen Raum während der Spätzeit des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Entwicklung des „Sozialdarwinis­mus“ verbreitet.

Von solchen zeitgeschichtlich relevanten Tatsachen einmal abgesehen leistet sich aber auch die Übersetzerin so manchen Schnitzer, der den Leser seufzen lässt: Da wird beispielsweise ein offensichtlich zweistöckiges Haus beschrieben, dessen Fenster 60 (!) Fuß über dem Boden liegt, was immerhin 18 Metern ent­spricht.

An einer anderen Stelle wird den Andamanen-Bewohnern unterstellt, sie fertig­ten „steinerne Streitkolben“ an. Abgesehen davon, dass sich der Sinn für einen solchen Aufwand in keiner Weise erschließt (die Andamanen-Bewohner besit­zen selbst heute noch eine Steinzeitkultur), bestehen Streitkolben eigentlich per definitionem nicht aus Stein, sondern höchstens aus Holz. Was auch völlig genügt, um jemandem den Schädel einzuschlagen.

Wieder an anderer Stelle behauptet die Übersetzerin, Miss Morstan sei „beim Bericht von ihres Vaters plötzlichem Tod schlohweiß geworden“. Soweit mir be­kannt ist, wird diese Formulierung nur für Haare angewendet, und da später kein Bezug mehr darauf genommen wird, muss man wohl davon ausgehen, dass „kreidebleich“ gemeint war. Auch die Tatsache, dass Holmes seinen Freund Watson duzt, dann aber ungeniert an anderer Stelle fragt: „Könntest du diese Hauswand erklimmen, Doktor?“, legt nahe, dass die Übersetzerin das „you“, das ja sowohl „du“ als auch „Sie“ bedeuten kann, falsch übertragen hat.

Für einen aufmerksamen Leser schmälert so etwas das Lesevergnügen durch­aus. Die Handlung an sich ist jedoch interessant windungsreich und schwer zu durchschauen, jedenfalls bis kurz vor Schluss. Allerdings erreicht sie meiner An­sicht nach nicht die Intensität und Brillanz des Erstlings. Ein Klassiker der Krimi­nalliteratur ist das Buch gleichwohl geworden.

© 2006 by Uwe Lammers

Ja, schon anno 2006 konnte ich ein wenig unangenehm werden, wenn mir Strukturfehler in Geschichten auffielen. Aber ich pflege halt zu sagen: Das hier ist kein Schönwetterblog, es gibt da auch manchmal Schrammen auf den litera­rischen Vorlagen, die mit Recht verabreicht werden.

Einen kleinen überraschenden Schatz stelle ich dagegen in der kommenden Woche vor, wo wir uns in den mittelamerikanischen Urwald begeben und eine Erstbegegnung der ganz besonderen Art erleben. Freut euch drauf!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Vgl. die Chronologie der Sherlock-Holmes-Fälle im Anhang der Storysammlung „Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton“, Bastei 14916 (Hg. Mike Ashley), S. 727f.

2 Vgl. GEO 10/1976, Hamburg 1976.

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