Rezensions-Blog 286: Mythos Bernsteinzimmer

Posted September 16th, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

es ist echt verblüffend, wenn man ganz und gar unerwartet mit etwas konfrontiert wird, was man nun wirklich überhaupt nicht erwartet – so ging mir das gestern (9. März 2020!) beim Coa­ching. Ich war mit meinem Coach gerade im Gespräch über Schätze der Vergangenheit, und auf einmal redete er über das Bernsteinzimmer! Ernsthaft! Ich dachte fast, ich bin im falschen Film! Aber in einem zutiefst interessanten zugleich gelandet, muss ich dazu sagen.

Das Bernsteinzimmer ist eine Legende der jüngeren Vergangen­heit, und sein Verschwinden in Ostpreußen in den Schlusswirren des Zweiten Weltkriegs befeuert offenkundig noch heute, nach­dem es in St. Petersburg mühsam wieder aus Bernstein anhand historischer Aufnahmen rekonstruiert wurde, die Phantasie der Altgeborenen wie Nachgeborenen.

Warum ist das wohl so? Nun, manch einer mag darob befremdet sein, andere junge Leute wissen mit dem Begriff wohl gar nichts mehr anzufangen. Das zu ändern, scheint mir darum geboten. Und es gibt da ein faszinierendes Buch, das zumindest meine Meinung zum Thema Mythos Bernsteinzimmer zementiert hat, weil es äußerst glaubwürdig argumentiert. Es ist das Werk, das ich heute vorstellen möchte und das nicht nur zum Einstieg in die Thematik taugt, weil es sich akkurat in historischer Präzision an die Fakten hält, sondern auch, weil es sich in der Art und Weise des investigativen Journalismus wie ein Krimi liest.

Klingt spannend? Ist es! Vertraut mir, Freunde. Und wer neugie­rig geworden ist, der lese weiter:

Mythos Bernsteinzimmer

von Maurice Philip Remy

List-Verlag, 2003

244 Seiten, geb.

ISBN 3-471-78579-5

Das erste Stück, das auftauchte, war von zweifelhafter Her­kunft: ein kleiner, geschnitzter Kriegerkopf aus Bernstein, am frühen Nachmittag des 13. Dezember 1993 unter der Nummer 73 beim Londoner Auktionshaus „Christie’s“. Es wechselte für 10.350 Pfund den Besitzer und verschwand in einer privaten Sammlung. Niemand nahm davon anfangs Notiz.

Die zweite Spur bestand aus einem Florentiner Steinmosaik, das im Jahre 1997 auf dem grauen Kunstmarkt auftauchte und für zweieinhalb Millionen Mark angeboten wurde. Statt dem Verkäu­fer Geld einzubringen, wurde es von der Polizei beschlagnahmt – und als echt klassifiziert!

Das Mosaik stammte unzweifelhaft aus dem seit 1945 verschol­lenen Bernsteinzimmer aus dem Leningrader Schloss Zarskoje Selo. Der SPIEGEL bekam Wind von der Angelegenheit und pu­blizierte einen Artikel – neun Tage später lieferte ein Berliner Rechtsanwalt eine Louis-XIV.-Kommode direkt in der Redaktion des SPIEGEL ab, arg ramponiert zwar (man hatte früher einen Kaninchenstall aufgenagelt), aber auch hier stellten die Exper­ten nach einer eingehenden Prüfung zweifelsfrei fest, dass diese Kommode einst Teil des legendären Bernsteinzimmers gewesen war.

Es schien, als seien die Gerüchte der Schatzsucher von einst doch ernsthafte Realität, die Behauptungen jener fieberhaft den Träumen Nachjagenden, die nicht glauben mochten, was manch einer seit langem dachte: dass das Bernsteinzimmer einst in den Endtagen des Zweiten Weltkriegs der Vernichtung anheim­fiel. Denn – wenn diese Teile noch existierten, warum dann nicht auch der Rest? Der Dokumentarfilmer und Historiker Maurice Philip Remy, der seit fünfzehn Jahren selbst nach den Spuren des Bernsteinzimmers suchte, beschloss, endlich das Gewirr an Mythen und Legenden zu entrümpeln und die Fakten ein für al­lemal zu einem Gesamtbild zusammenzufügen.

Die Geschichte beginnt vor über zweihundertfünfzig Jahren, am Ostseestrand, wo seit Jahrhunderten bereits das „Gold des Nor­dens“, fossiles Baumharz, also Bernstein, angespült wurde und damals dem kleinen Staat Preußen als unerwarteter Rohstoff diente. Da in den Kunst- und Wunderkammern des 18. Jahrhun­derts sonderliche Objekte aus Bernstein in Hülle und Fülle exis­tierten, war es nur eine Frage der Zeit, bis sich schließlich der verschwenderische König Friedrich I. von Preußen, der sich auch luxuriöse Jachten bauen ließ, auf die großflächige Verwendung von Bernstein einließ. Nachdem unter dem Baumeister Eosan­der die Umbauarbeiten im Schloss Charlottenburg begonnen hatten, gab er schließlich Anweisung, ein ganzes Zimmer aus dem kostbaren Stoff zu schaffen (vermutlich zu Ehren seiner Frau Sophie Charlotte), unterstützt von venezianischen Leuch­tern und schmalen Spiegelpaneelen.

Die aufwändige Inkrustationstechnik, die besonderen Alterungs­techniken, mit denen der Bernstein verfärbt wurde, um ihm sein spezielles „Feuer“ zu verleihen, all das war nicht zum Nulltarif zu haben, und Gottfried Wolffram, begnadeter Künstler des Bernsteins, war ebenso nicht preiswert. Er machte zwar gute Ar­beit, aber auch teure. Etwa um 1705 muss es schließlich im We­sentlichen fertig gewesen sein, die archivalischen Unterlagen lassen keinen genauen Schluss darüber zu.

Das Gesamtkunstwerk war beeindruckend: der Saal in Charlot­tenburg besaß eine Deckenhöhe von 4.75 Metern, es existierten vier breite Wandpaneele aus Bernstein (1.65 Meter Breite) und vier schmale (1.26 Meter), dazu zahlreiche weitere Sockelpa­neele. Die Spiegelfelder besaßen aufwändig gearbeitete, breite Bernsteinrahmen. Bei Sonnenlicht zweifellos ein Anblick für die Götter, wenigstens anfangs.

Denn das Bernsteinzimmer war zwar ein geniales Kunstwerk, aber die Technik, mit der es geschaffen worden war, besaß ihre Tücken: sie ließ den Bernstein rasch altern, spröde werden und sich vom Untergrund lösen. Die Konsequenz bestand darin, dass sich nach wenigen Jahren schon die ersten Schäden am Bern­steinzimmer zeigten, und diese Schäden machten es zum dauerhaften Sanierungsfall, durch alle Jahrhunderte.

Außerdem, nachdem Friedrich I. verstorben war, hatten seine Nachfolger keine gescheite Verwendung mehr für dieses Prunk­stück, das ihnen als Symbol einer verschwenderischen Epoche erschien. Es war nur konsequent, dass Friedrich Wilhelm I. die­ses Kunstwerk, das durch die Zerfallserscheinungen immerzu Folgekosten verursachte, loszuwerden versuchte. Als die Not­wendigkeit bestand, sich mit dem russischen Regenten Peter I. anzufreunden, wusste er darum auch sogleich einen Weg: er verschenkte im Jahre 1716 sowohl königliche Jacht „Liburnica“ seines Amtsvorgängers (für die er auch keine Verwendung be­saß) wie das Bernsteinzimmer.

Doch in St. Petersburg ruhte das Bernsteinzimmer zunächst ver­packt bis zum Amtsantritt von Elisabeth I. im Jahre 1741. Erst nach 1743 sollte das Bernsteinzimmer aufgestellt werden – in einem Saal, der dafür zu groß war. Also wurde der Graf Bartolo­meo Francesco Rastelli beauftragt, die leeren Flächen mit 26 Pi­lastern aus 28 schmalen, von goldenem Schnitzwerk verzierten Spiegeln – jeweils mit einem dreiarmigen, feuervergoldeten Bronzeleuchter in der Mitte – zu ergänzen. Außerdem gab die Regentin vier Ölbilder in Auftrag, durch die die vier ursprüngli­chen Spiegelflächen im Bernstein ersetzt werden sollten. Es war geplant, die Bildinhalte später in Bernstein nachzuschnitzen, wozu es indes nie kam.

Die Restaurierung des Zimmers dauerte drei Jahre und hätte noch länger gedauert – es fehlte nämlich im ursprünglichen Zimmer ein Bernsteinrahmen, den der ursprüngliche Architekt Wolffram, der sich schon 1707 mit dem Baumeister Eosander überworfen hatte, zusammen mit zahlreichen Bernsteinteilen nach Schweden mitgenommen hatte, zu seiner nächsten Wir­kungsstätte. Friedrich II. sandte allerdings der russischen Zarin einen nachgebauten Bernsteinrahmen, so dass das Zimmer nun komplettiert werden konnte.

Die Ölgemälde wurden durch ein Gastgeschenk der österreichi­schen Regentin Maria Theresia – die Friedrich I. im Werben um Elisabeths Gunst offensichtlich in nichts nachstehen wollte – er­setzt: durch vier florentinische Steinmosaike. Außerdem fanden zwei reich verzierte Kommoden ihren Platz im Bernsteinzimmer. 1755 siedelte das komplettierte Bernsteinzimmer auf den Som­mersitz der Zarin in Zarskoje Selo um, wo es von da an dauer­haft bleiben sollte: noch immer ein Sanierungsfall, wenn auch anfangs sehr repräsentativ. Hier bildete es bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine von zahllosen Kostbarkeiten, die aus der Zarenzeit in den Besitz der kommunistischen neuen Machthaber übergegangen waren. Und schließlich geriet das Bernsteinzimmer in die dramatische Zeit des Vernichtungs­kriegs des Deutschen Reichs gegen die UdSSR und damit in di­rekte Zerstörungsgefahr …

Maurice Philip Remy unternimmt nun in diesem Buch den Ver­such, zu den Quellen zurückzugehen. Er stützt sich nur am Ran­de auf die zahllosen Publikationen der Spätzeit zum Bernstein­zimmer, die von den Hobbyforschern und Historikern stets im­mer wieder unkritisch aufs Neue zitiert wurden. Dabei entlarvt er schon für die Frühzeit zahlreiche unpräzise Angaben, was Er­schaffer und Entstehungszeit des Zimmers angeht, er bringt eine Fülle an Details, die er aus vieler Herren Länder herangezo­gen hat, und schließlich gibt er nicht nur ungeschminkt den Glanz und die Glorie des Bernsteinzimmers wieder, sondern nennt auch die Probleme, die damit einhergingen.

Die mitunter erstaunlich despektierlichen Ansichten der Kurato­ren und Fachleute, die er zu Tage bringt, überraschen bisweilen. Vor allen Dingen aber zeigt Remy durch Gegenüberstellung von bislang unbekannten Dokumenten aus vornehmlich russischen Archiven, wie sehr hier Vertuschung, ideologische Neuzuwei­sung von Zerstörungen und schlichte Ignoranz bzw. Nachlässig­keit dazu beitrugen, den Mythos vom Bernsteinzimmer in der Nachkriegszeit zu schaffen (vorher war das Zimmer, interessan­terweise, gar kein Thema). Man erfährt vieles über Antiquitäten­handel, mit dem die frühe kommunistische Regierung zwischen 1917 und 1930 schwunghaft Devisen erwirtschaftete (wohl nur die sperrige Größe des Bernsteinzimmers verhinderte, dass es selbst verkauft wurde), man liest einiges über die Nachlässigkeit und Plünderungswut russischer wie deutscher Soldaten, die in vielen Fällen von historischem Sachverstand völlig unbeleckt waren … und zu guter Letzt erfährt man auch die Wahrheit.

Ja, die Wahrheit über das Schicksal des Bernsteinzimmers.

Denn die aus zahlreichen Indizien zusammengesetzte Kette von Beweisen, die Remy dem geneigten Leser vorlegt, beweist ein­wandfrei, was für ein Schicksal das Bernsteinzimmer genommen hat, was 1945 wirklich in seinem Auslagerungsort, dem Königs­berger Schloss, geschehen ist und woher die Kommode, das Steinmosaik und der Soldatenkopf stammen.

Wer immer also die Wahrheit über diesen Mythos Bernsteinzim­mer erfahren möchte – die im übrigen spannender ist als der Mythos selbst – , der sollte sich dieses Buch kaufen und lesen. Der Kenner mag zwar Hinweise auf die Wilhelm Gustloff oder auf Mittelbau Dora vermissen, aber wer Remys Indizienreihe folgt, und eigentlich bleibt da gar keine andere Wahl, der wird verstehen, dass man dort nicht mehr nach dem Bernsteinzim­mer wird suchen müssen.

Man wird gar nicht mehr suchen müssen. Nach qualvollen 58 Jahren ist die Jagd endlich zu Ende …

© 2007 by Uwe Lammers

Ehrlich, ich fand, als ich das Buch ausgelesen hatte, beein­druckt, erschüttert und ein bisserl desillusioniert, dass es schlicht und einfach zu kurz geraten war. Gewiss, die Geschich­te (oder Geschichten, je nachdem, wie man das sehen mag) des Bernsteinzimmers war auserzählt, einwandfrei. Aber irgendwie war ich erneut auf das alte Problem hereingefallen, das mich stets packt, wenn ich spannende Bücher lese – sie sind einfach immer notorisch zu kurz und viel zu rasch ausgelesen.

Natürlich ist das ein gewisses Luxusproblem, das all die Zeitge­nossen nicht haben, für die schon eine halbseitige Mail als „Ro­man“ gilt. Aber ich bin Schriftsteller, Freunde, und ich liebe die Worte, die Sätze, die sich aneinander reihenden Seiten. Und ich verschlinge auch bereitwillig tausendseitige Schmöker, wenn sie unterhaltsam genug sind. Da sind doch nun wirklich 244 Seiten eher eine leichte Übung.

Ich seufzte also und dachte mir, es sei echt mal wieder Zeit für einen richtig langen Roman. Und im Rezensions-Blog habt ihr Glück, Freunde, denn in der nächsten Woche versinken wir in ei­nem solchen opulenten, seitenschweren „Ziegelstein“ von Ro­man.

In welchem? Na, lasst euch mal überraschen!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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