Rezensions-Blog 311: Der Prophet

Posted März 11th, 2021 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wirklich nur manchmal entwickle ich eine Neigung zu seman­tisch nachgerade lyrischen Werken, und über manche davon stolpere ich einfach nur durch Zufall. So war es auch, als ich vor rund 20 Jahren Khalil Gibran entdeckte, dessen schmales schriftliches OEuvre bis heute interessante Entdeckungen bereit hält.

Eine davon, von der ich immer wieder auszugsweise in anderen kleineren Schriften las, war dieses hier „Der Prophet“. Wer da jetzt unwillkürlich an den Propheten Mohammed und womöglich finster an islamischen Fundamentalismus denkt, könnte falscher nicht liegen. Wiewohl es auf der Hand liegt, dass der gebürtige Libanese Gibran ohne Frage die islamische Lyrik in sich aufgeso­gen und für sein eigenes Werk fruchtbar gemacht hat, so hat er sich doch auch aus dem engen Denkkorsett befreit und seinen ganz eigenen „Propheten“, einen Weltweisen mit Sinn für lyri­sche und philosophisch tief schürfende Formulierungskunst ge­schaffen, den ich zeitlos nennen möchte.

Heute gibt es also mal keine Action, keine Erotik, keine packen­de historische Story, sondern etwas völlig Anderes zu entde­cken. Schnuppert hinein, Freunde, und wer Appetit bekommen hat, der schaue sich nach diesem – sicherlich immer noch er­hältlichen – Büchlein um und goutiere langsam und genüsslich Zeile für Zeile.

Ich denke, das lohnt sich.

Der Prophet

(OT: The Prophet)

von Khalil Gibran

Atmosphären-Verlag, München 2004

226 Seiten, gebunden, Kleinformat

Neu übertragen von Konrad Dietzfelbinger

ISBN 3-86533-015-0

In der Stadt Orphalis hat der Prophet Almustafa zwölf Jahre lang gelebt und das Umland durchwandert, seine Schönheiten, seine Besonderheiten in sich aufgenommen und die Menschen, die hier wohnen, kennengelernt. Doch nun, als er von des Berges Höhe das Segel auf dem Meer auftauchen sieht, weiß er, dass der Tag des Abschieds gekommen ist. Er kehrt aus den Höhen zurück in die Stadt und sagt dem Volk von Orphalis Lebewohl.

Die Priesterin Almitra jedoch möchte ihn so leicht nicht ziehen lassen, sondern sie wünscht sich, dass er die hier gewonnenen Weisheiten verkündet, auf dass sie überliefert werden können. Sie sagt: „So mache uns in dieser Stunde mit uns selbst be­kannt, und sage uns: Was ist dir offenbar geworden von den Dingen in den Grenzen von Geburt und Tod?“

In sechsundzwanzig Kapiteln gibt der Prophet bereitwillig und ungeschönt Antwort auf die Fragen, die die Bürger von Orphalis umtreiben, und der Bogen seiner Weisheiten reicht von der Lie­be über Ehe, Kinder, die Arbeit, die Gesetze, die Freiheit, den Schmerz und Selbsterkenntnis wie Freundschaft bis hin zum Tod.

Lasst mich nur kurz ein paar Worte von seiner Rede über den Tod zitieren, um einen Eindruck der lyrischen Schönheit dieses Werkes zu demonstrieren. Der Prophet Almustafa spricht zum Thema Tod:

Eure Todesfurcht ist nur das Zittern eines Hirten, der, vor sei­nem König stehend, darauf wartet, dass ihm dieser ehrenvoll die Hand auflegt.

Wird nun der Hirte unter seinem Zittern nicht die Freude spü­ren, dass er künftighin das Zeichen seines Königs tragen darf?

Und trotzdem: Ist er sich des Zitterns nicht bewusster als der Freude?

Denn was ist Sterben, außer nackt im Wind zu stehen und ins Sonnenlicht hineinzuschmelzen?

Und was bedeutet es, zu atmen aufzuhören, außer dass der Atemhauch von seinem langen, ruhelosen Ein und Aus erlöst wird?

Endlich kann er steigen, sich ins Weite dehnen und Gott unge­hindert suchen!“

Da mag man seufzen, so schön formuliert ist es.

Als die Stunde des Abschieds nach den Reden gekommen ist, ist das Volk von Orphalis reicher, und dadurch, dass Gibran diese Reden niederschrieb, sind wir allesamt reicher geworden. Denn, wie der Übersetzer in seinem langen, äußerst erhellenden Nach­wort darlegt, der Redner schließt seine Reden nicht umsonst mit einer Rede über den Tod. Und nicht umsonst geht es danach noch weiter.

Man muss dieses Werk nicht nur als, wie es Gibran dachte, „poetische Essays über die Geheimnisse des Lebens“ verstehen – was sie auch sind – sondern in ihrer Gesamtheit als eine Para­bel auf das Leben selbst. Das Werk steckt voller geheimer An­spielungen und Mystik, und das wenigste davon erschließt sich durchs erste Lesen.

Warum etwa ist Almustafa 12 Jahre in Orphalis? Weil 12 die Zahl der Monate des Jahres ist und somit der Zyklus des jährlichen Lebens vollständig symbolisiert wird. Der Aufbruch des Prophe­ten, der in die leuchtende Ferne des erhellten Meeres ent­schwindet, ist gleichbedeutend mit dem Abschied des Redners vom Leben selbst, und deshalb ist Almitras Wunsch, er möge doch am Ende seines Aufenthaltes (= Ende seines Lebens!) noch seine Weisheiten der nachfolgenden Generation mitteilen, überaus verständlich …

Wiewohl das Buch bereits im Jahre 1923 in New York erschienen ist, hat der am 6. Januar 1883 in Bsharri (Libanon) geborene Khalil Gibran, der 1895 mit Mutter und Geschwistern nach Bos­ton emigrierte und zeitlebens in Amerika blieb (mit einem Studienaufenthalt 1908-1910, wo er in Paris mit Auguste Rodin zusammen Kunst studierte) als „Formenschöpfer“ – er begriff sich nicht als Dichter oder Lyriker, wiewohl ich ihn so einordnen würde, allein Kraft seiner Sprache – ein Werk von dauerhafter Schönheit und tiefer Wahrhaftigkeit hinterlassen, das zudem noch ein literarischer Hochgenuss ist.

Einst habe ich zwei weitere Werke von Gibran rezensiert, näm­lich „Sprich uns von der Freundschaft“1 und „Sprich uns von der Liebe“2, aber dies sind nur Auszüge aus dem vorlie­genden Werk. Freilich gestehe ich, dass mir die beiden Ausga­ben des Kiefel-Verlages mehr gefallen, sie sind kleiner, feiner gesetzt, und die Wortwahl ist mir irgendwie sympathischer. Das ist aber vermutlich nur eine Frage der Gewöhnung. Dort ver­misst man jeden weitergehenden interpretatorischen Ansatz und erhält „nur“ eine schöne, lyrische Ausgabe in Prosa, wäh­rend hier versucht wurde, den Stil der rhythmischen Prosa, den Gibran verwendete, zu restaurieren. Dies vorliegende Buch ist also die „ehrlichere“ Ausgabe.

Und es handelt sich, das ist die feste Meinung des Rezensenten, um ein Werk, das tiefsinnige Wahrheiten über zahlreiche The­menkomplexe des Lebens enthält und ein unbedingtes, wieder­holtes Lesevergnügen ist. Das Buch wurde nicht umsonst in 20 Sprachen übersetzt und ist über beinahe 85 Jahre hinweg im­mer noch ein Weltbestseller.3 Manchmal irren solche „Bestsel­ler“-Notierungen eben doch nicht.

Es lohnt sich durchaus, sich auf dieses Buch einzulassen. Man geht klüger daraus wieder hervor.

© 2007 by Uwe Lammers

So, Freunde, genug geschwärmt für heute. Bitte wieder aus der Trance erwachen und Teil der realen Welt werden. Ihr seht mich schmunzeln, da ich euch sehr gut verstehen kann, wenn ihr ge­rade tief in dieses Buch abgetaucht seid.

In der kommenden Woche geht es dann tatsächlich um ein pa­ckendes historisches Abenteuer, und gleichzeitig vollende ich hier, was ich mit dem Blogartikel 307 vor vier Wochen begon­nen habe.

Schon vergessen? Dann erinnere ich euch in sieben Tagen dar­an, was diese Andeutung zu sagen hat.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Rezensiert in BWA 244, Januar 2004. Vgl. dazu auch, einfacher zugäng­lich, den Rezensions-Blog 57 vom 20. April 2016.

2 Rezensiert in BWA 262, Juli 2005. In Vorbereitung für den Rezensions-Blog.

3 Inzwischen müssen wir die Zeit natürlich relativieren: es sind seit der Erstveröffentlichung von Gibrans Buch schon fast 100 Jahre verstrichen.

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