Rezensions-Blog 380: Durch die Zeiten

Posted November 29th, 2022 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

im Jahre 2004 bot es sich buchstäblich an, eine Sammelrezensi­on mit diesem Obertitel über zwei Bücher zu verfassen, die so eng aufeinander bezogen und ineinander verzahnt sind, dass Einzelrezensionen Stückwerk hätten bleiben müssen. Gerade mal zwei Jahre zuvor hatte der britische SF-Autor Stephen Bax­ter seinen voluminösen „Nachfolgeroman“ zu H. G. Wells‘ Klassi­ker „Die Zeitmaschine“ entworfen und veröffentlicht. Und da ich den Ursprungsroman natürlich seit langem kannte, las ich ihn kurzerhand noch einmal (was sehr gut war) und konnte dann nahtlos in Baxters aberwitziger Vision einer von den Hightech-Morlocks besiedelten Parallelzukunft weiterlesen.

Wer sich nur mit dem Ursprungsroman bescheidet und denkt, man solle lieber nicht an Klassiker rühren, der wird sich puris­tisch vermutlich auch dieser Sammelrezension nicht nähern … was ich schade fände, denn bei allen Schwächen, die ich da­mals bei Baxters Buch ausfindig machte, war ich doch an vielen Stellen von seiner visionären Kraft reichlich überwältigt.

Technologisch und bezüglich der großen Visionen übertrifft Bax­ter sein Vorbild bei weitem, und so werden dort nicht nur die offenen Fragen von Wells geklärt, sondern ein weites Panorama des „Was wäre, wenn …?“ eröffnet, das ich auch heute noch durchaus lesenswert finde.

Neugierig geworden? Schön. Dann steigen wir mal ein:

Durch die Zeiten

Eine Doppelrezension der Bücher

Die Zeitmaschine

(OT: The Time Machine)

von Herbert George Wells

Ullstein 20255, 1984

144 Seiten, Preis: damals 4.80 DM

Übersetzt von Annie Reney und Alexandra Auer

sowie

Zeitschiffe

(OT: The Timeships)

von Stephen Baxter

Heyne 13533, April 2002

736 Seiten, Preis: 8.95 Euro

Übersetzt von Martin Gilbert

Es bleibt immer ein Risiko, wenn man sich einem Klassiker der phantastischen Literatur nähert und darin versucht, ihn fortzu­schreiben. Und mit welchem Roman ginge das wohl besser als mit jenem legendären Werk des viktorianischen Gentleman und Vielschreibers H. G. Wells, das bis auf den heutigen Tag unser Bild von einer Zeitmaschine geprägt und mehrere Verfilmungen inspiriert hat – jenes Buch mit dem prägnanten Titel „Die Zeit­maschine“?

Diese Geschichte ist allbekannt, nehme ich an, es genügt also ein knappes Resümieren, um zu dem wirklich Neuen im Bereich von Stephen Baxters Buch zu kommen.

Ein namenlos bleibender Erfinder – Wells nennt ihn vornehm nur „den Zeitreisenden“ – versammelt im Jahre 1891 in Richmond bei London eine kleine Abendgesellschaft von guten Freunden um sich, die verschiedensten Berufen entstammen. Hierbei kon­frontiert er sie mit einer unglaublichen Geschichte: dass näm­lich die Zeit nur eine neue Dimension des Raumes sei und man sie wie auch den Raum zu bereisen imstande sei, vermittels ei­ner von ihm erfundenen Zeitmaschine, die ein wenig wie ein Hightech-Schlitten aus Metall, Kristall und Elfenbein aussieht.

Da er auf allgemeinen Unglauben stößt, beschließt er, bis zur Zusammenkunft der nächsten Woche eine Reise in die Zukunft zu wagen, um die Realisierbarkeit seiner Idee zu beweisen. Die­ser Vorstoß trägt ihn bis ins Jahr 802.701 hinaus, in eine schein­bar paradiesische Welt, wo er die zartgliedrigen und degenerier­ten Eloi trifft, elfengleiche und naive Wesen – und ihm zugleich die Zeitmaschine abhanden kommt.

Bei dem Versuch, sie wiederzuerlangen, stößt der Zeitreisende auf das grausige Geheimnis dieser fernen Zukunftswelt: in einer unterirdischen, lichtlosen Höhlenwelt leben die weißhäutigen, grottenolmgleichen Morlocks, die dafür sorgen, dass die Eloi auf der Oberfläche alles bekommen, was sie zum Leben benötigen. Die Eloi selbst sind unfähig zu künstlerischer Leistung, zu gro­ßen körperlichen Anstrengungen, der Schrift und jeder Ge­schichte offensichtlich bar.

Das ist auch nicht schlimm, denn sie sind das Schlachtvieh für die Morlocks, nichts weniger. Bevor den Zeitreisenden dasselbe Schicksal ereilen kann, gelingt ihm Hals über Kopf noch gerade so die Flucht aus der Zukunft.

Das Buch selbst endet mit seiner Erzählung, dem allgemeinen Unglauben, und dem rätselhaften Verschwinden des Zeitreisen­den am darauffolgenden Tag. Auch die Zeitmaschine entschwin­det, und man weiß als Leser, dass er wieder unterwegs ist. Doch auch nach drei Jahren kehrt er nicht zurück, und er scheint für immer verschollen.

An diesem Punkt kommt rund hundert Jahre nach Wells´ Roman­veröffentlichung Stephen Baxter ins Spiel. Er beantwortet die seit hundert Jahren unbeantwortbare Frage: Wie ging es denn eigentlich weiter? Das kann doch nicht das Ende sein!

Baxter nimmt den Faden exakt da auf, wo ihn Wells im 19. Jahr­hundert fallenließ: der malträtierte Zeitreisende, erschöpft von seinem Bericht, erholt vom Schlaf und verbittert durch seine Er­innerung an den Verlust der liebreizenden Weena, die mehr ein Kind für ihn war denn eine Geliebte, erwacht am folgenden Tag mit dem Entschluss, eine weitere Zeitreise zu wagen. Er will Weenas Tod verhindern, gegen die grimmigen Morlocks kämp­fen und die armen Eloi verteidigen.

Gesagt, getan.

Doch während er, diesmal besser ausgerüstet, in die Zukunft rast, stellt er etwa 250.000 Jahre vor dem Zielpunkt fest, dass etwas mit der Sonne nicht stimmt. Sie verfinstert sich, und Eng­land versinkt unter einem Gletscherpanzer aus Eis. Völlig ver­wirrt hält der Zeitreisende seine Maschine an und sieht sich in dieser verstörend fremden Umwelt um, die so überhaupt nicht an die Parklandschaft der Zukunft erinnert, in der er sich befun­den hat. Hierbei stößt er auf Horden von Morlocks, und ehe er begreift, was eigentlich geschieht, wird er von ihnen paralysiert und entführt.

Schließlich erwacht er in einer bizarren, völlig unvorstellbaren Welt wieder, in einer gigantischen Sphäre, die die raumfahren­den Morlocks rings um die gesamte Sonne konstruiert und be­völkert haben.1 Morlocks, die durchaus gewöhnungsbedürftig sind. Mit Abstand die intelligentesten Wesen, die der Zeitreisen­de jemals kennengelernt hat, absolut friedfertige und vegetari­sche Individuen, deren Ziel der Wissenserwerb ist. Sie sind geniale Wissenschaftler und beherrschen die Materie annähernd vollkommen. Das Räuber-Beute-Schema des Jahres 802.701 nach Christus ist nicht vorhanden, und die Menschenabkömm­linge – die „Neuen Eloi“ bevölkern die Innenseite der Sphäre und führen hier barbarische Kriege gegeneinander …

Dummerweise können die Morlocks ihn nicht mehr aus dieser Welt fortlassen, denn rasch wird allen klar, dass der Zeitreisen­de durch seine Bewegungen im Zeitstrom eine parallele Wirk­lichkeit abgespalten hat. Auch durch seinen Bericht, den er im Jahre 1891 zurückließ und die sein Freund, der Schriftsteller (der hiermit als H. G. Wells kenntlich gemacht wird), in Buchform pu­blizierte, hat die Entwicklung der Menschheit eine andere Rich­tung eingeschlagen und das Morlock-Reich der Zukunft so früh­zeitig ermöglicht.

Dennoch gelingt es dem Zeitreisenden schließlich, seinen Bewa­cher und Vertrauten, den Morlock Nebogipfel, zu überrumpeln und mit der Zeitmaschine in die Vergangenheit zu flüchten – al­lerdings mit Nebogipfel als blindem Passagier.

Der Reisende beabsichtigt, ins Jahr 1873 vorzustoßen. Dies war jenes Jahr, in dem ihm als jungem Erfinder ein Mann namens Gottfried Plattner ein grün glimmendes Mineral zur Probe gab und dann spurlos verschwand. Dieses Material ist jener rätsel­umwobene Stoff, der die Zeitreise erst möglich macht. Durch Einfügung dieses spannenden Details ermöglicht Baxter eine lo­gische Fundierung des Wells-Romans. Was durch das Plattnerit noch alles angerichtet wird, verschweige ich hier, das sollte man selbst nachlesen. Der Reisende möchte sein jüngeres Ich vor den Folgen der Erfindung der Zeitmaschine warnen und ihn daran hindern, sie überhaupt zu schaffen. Dass er damit ein Pa­radoxon schafft, ist ihm nicht so recht bewusst. Interessanter­weise sieht Nebogipfel darin bald kein Problem mehr. Er behält Recht – und das macht die Sache noch schlimmer.

In der Tat treffen sie in der Vergangenheit den jüngeren Erfinder (er wird „Moses“ genannt). Doch leider sind sie nicht alleine. Ih­nen folgt auf den Fuß eine schreckliche Kampfmaschine aus der nahen Zukunft dieser Welt, der Leviathan Lord Raglan, und ehe die drei begreifen, was eigentlich los ist, wird die Zeitma­schine schanghait und sie befinden sich in Gefangenschaft, auf dem Weg ins England des Jahres 1938. Dies aber ist eine Welt, in der eine zementene Kuppel London überwölbt und das Empi­re seit 24 Jahren einen aussichtslosen Krieg gegen das Deut­sche Reich führt.

Und auch das alles ist erst der Anfang …

Es mag genügen, knapp 300 Seiten dieses Buches zu skizzieren, um dem Leser einen Eindruck von der Wucht von Baxters Ideen zu geben, die sich rasch in kosmologische Weiterungen verzwei­gen. Die Multilinearität der Zeit wird thematisiert und sehr ver­gegenständlicht, der Mathematiker Kurt Gödel taucht auf, Albert Einstein wird genannt, die Quantentheorie genutzt, fremdartige Gesellschaftsformen entstehen und werden auf faszinierende Weise geschildert, die schließlich zu den Konstrukteuren, den Beobachtern und der Finalen Vision führen. Es ist ein sehr intelligenter, vielseitiger Roman, der neugierige Geister zu fieb­rigen Visionen zu verführen vermag.

Zu behaupten, der Roman führe Wells´ Gedanken weiter, hieße, weit zu untertreiben. Zu sagen, er führe sie zu einem Ende, hat schon mehr an sich. Allerdings ist dieses Ende eines, das mo­dernen Lesern möglicherweise nicht behagen wird (ich darf lei­der nicht verraten, weswegen, das würde zu viel Spannung zer­stören). Es ist gewissermaßen „typisch viktorianisch“. Und mit dieser viktorianischen Stimmung hat Baxter so verschiedentlich seine Probleme, man spürt es an vielen Stellen. Der Übersetzer ebenso. Er vergreift sich gelegentlich in der Formulierung (Bsp.: „Ich war geschockt“). Man kann das Ganze natürlich damit ent­schuldigen, dass es – wie Wells´ Roman auch – ein nachträgli­cher Bericht ist, so dass er unter Kenntnis des Gesamtwissens abgefasst scheint. Dennoch wirkt das Existieren gelegentlich moderner Schreibweise mit zugleich durchaus viktorianischen moralischen Vorstellungen seltsam bizarr.

Ich will auch nicht verhehlen, dass Baxters Grundproblem hier wieder zu Tage tritt: das Darstellen von Interaktion zwischen In­dividuen. Einmal mehr wirken die Personen oft wie Statisten, die hin- und hergeschoben werden. Legt man den Maßstab der Per­sonenbeschreibung von Diana Gabaldon an Baxters diesmaligen Roman an, dann ist das Gefühl der Verarmung überwältigend. Weitgehend blutleere, meist emotionslose Geschöpfe (oder sol­che, deren Emotionen man nicht „glauben“ kann) bevölkern eine ähnlich kalte, gelegentlich betäubend sterile Welt. Liebe sucht man hier vergebens, auch wenn Baxter dankenswerter­weise eine Lanze für Behinderte (körperlich wie geistig) bricht. Es reicht nicht.

Zum Schluss des Romans gelingt es Baxter nur mit großer Mühe, aus jenen kosmologischen, menschenfeindlichen Gefilden zur Erde zurückzukehren, die man etwa schon aus seinem Ro­man „Ring“ kennt. Diese Kehrtwende erscheint stark geküns­telt, und sie wirkt irgendwie … gezwungen.

So also hinterlässt der Roman einen faszinierten, aber etwas schalen Beigeschmack. Er ist besser als Wells, was die visionäre Energie angeht, er ist besser naturwissenschaftlich fundiert, vielfältiger und grandioser. Unstrittig. Aber mehr Leben hätte ihm nicht geschadet, besonders auf den letzten zweihundert­fünfzig Seiten.

© 2004 by Uwe Lammers

Was heuer an den Emotionen fehlte, das wird in der kommen­den Woche dann wieder im Zentrum stehen, wenn wir uns mit Lauren Rowes drittem „Club“-Roman allmählich der finsteren Seite des titelgebenden Unternehmens zuwenden.

Bis dann, Freunde, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Bei dieser Beschreibung blieb mir echt die Spucke weg. Vergesst Larry Nivens Ring­welt. Die Morlock-Sphäre ist viel gigantischer! Und weitaus faszinierender beschrie­ben.

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