Liebe Freunde des OSM,

Hand aufs Herz – Sherlock Holmes sucht nach einem verscholle­nen Sahnetortenrezept … das ist im ersten Moment eher ein Fall für einen schlechten Scherz denn ein ernstzunehmender Vor­schlag für eine Romanlektüre, das sehe ich ein. Aber wie ich anno 2009 in meiner launigen Rezension ausführte, trügt der erste Anschein grundlegend.

Das vorliegende Abenteuer des berühmten Detektivs aus der Londoner Baker Street ist nur vordergründig grotesk-klamaukig, wenn man sich ernsthaft darauf einlässt, entwickelt die sorgfäl­tig recherchierte Geschichte einen bezwingenden Sog und zieht den Leser in die Zeit des Kaiserreichs Österreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Und das ist eine Lektüre, die sich durch­aus lohnt, wie ihr entdecken werdet.

Denn ja, die Sachertortengeschichte ist titelgebend, klar. Und doch handelt es sich dabei nicht um den Kern des eigentlichen Problems. In gewisser Weise nähern wir uns auf eine quasi-ma­thematische Weise von Randparametern dem Zentrum der Kon­fliktsituation, und als sie dann eskaliert, kann man mit dem Le­sen definitiv nicht mehr aufhören.

Neugierig geworden? Schön. Dann schaut mal ein wenig näher, worum es heute gehen soll:

Sherlock Holmes und das Geheimnis der Sachertorte

Von Gerhard Tötschinger

Ullstein 22503, 1988

288 Seiten, TB

ISBN 3-548-22503-9

Sherlock Holmes und Wien, was fällt einem geneigten Kenner dazu ein? Nicht allzu viel. Natürlich gab es da einmal den „Fall Sigmund Freud“, den ein Doyle-Epigone in späteren Jahren nie­derschrieb1, aber ansonsten kann man sich nur wenig denken, was den berühmten Meisterdetektiv nach Wien führen würde. Arthur Conan Doyle neigte ja gern dazu, wann immer fremde Länder und Herrscherhäuser in Fälle involviert waren, Phanta­sienamen zu Hilfe zu nehmen (ein wirkungsvolles Mittel, wie man zugestehen muss). In anderen Fällen, und dies ist noch heute ein beliebtes Stilmittel von Epigonen, lässt man Namen von Ländern oder Herrscherhäusern gern ganz weg und über­lässt es dem Leser, anhand von Details zu „entschlüsseln“, wo eine Geschichte wohl spielen mag.

Der Schriftsteller Gerhard Tötschinger, von der Herkunft selbst Österreicher und intimer Kenner des Wiens der k. u. k. Monar­chie, beschloss, dies zu ändern und insbesondere den „weißen Fleck“ Österreichs in den Holmes-Geschichten auszufüllen. Und wie! Im Gegensatz zu zahlreichen epigonalen Werken gibt es hier keine Einleitung durch Dr. John Watson aus späteren Jahren, auch keine feinsinnigen Auslassungen einer späteren „Fundge­schichte“ des Manuskripts (Details erfährt man im Nachwort, das man aber tunlichst NICHT vorher lesen sollte, um sich die Spannung an der Geschichte zu erhalten).

Die Handlung selbst fängt fast als Burleske an:

Wir sehen einen überaus mürrischen Sherlock Holmes und sei­nen Kompagnon Watson auf der Zugfahrt nach Wien im Frühling des Jahres 1913. Sicher, wir entsinnen uns als gute Kenner des Holmes-Kanons natürlich, dass Holmes zu dieser Zeit längst in Sussex lebt und sich der Bienenzucht widmet (auch die spielt in diesem Roman eine wesentliche Rolle, aber ich gehe hier nicht in die Einzelheiten). Watson betreibt schon seine eigene Praxis, und die Lebenswege der alten Freunde haben sich, was die Lö­sung von Kriminalfällen angeht, eigentlich schon seit geraumer Zeit getrennt. Insoweit bleibt Tötschinger dem Kanon verhaftet, den er gut kennt.

Dennoch finden wir sie auf dem Weg nach Wien, und Watson versucht in einem fast närrischen Sprachkursus befangen, um Holmes´ „schauderhaftem Deutsch“ auf die Sprünge zu helfen. Auch der Grund, warum sie nach Wien gerufen worden sind, hört sich anfangs wirklich grotesk an: ein Anwalt namens Felix Rappaport weiß nicht ein noch aus und möchte, um die Kata­strophe nicht vollkommen zu machen, die Hilfe des berühmtes­ten Detektivs der Welt in Anspruch nehmen – aus seinem eige­nen Safe ist ein Buch abhanden gekommen, das ihm von der le­gendären Anna Sacher (die in diesem Buch auch persönlich auftritt) in Aufbewahrung gegeben worden ist. In diesem Buch steht das Rezept für die weltberühmte Sachertorte, und es be­steht nun die Gefahr des Plagiats.

Grotesk? Ich sagte ja, anfangs hat man das Gefühl, einer Burles­ke beizuwohnen. Auch Sherlock Holmes lässt sich eher widerwil­lig auf diesen Fall ein und möchte am liebsten rasch wieder nach England heimkehren. Aber das ändert sich schnell.

Rasch stellt sich nämlich heraus, dass Rappaport und seine schöne, intelligente Sekretärin ungarischer Abstammung, Irene Vogel, von jeder Verdächtigung freizusprechen sind. Aber wie findet man dann heraus, wer es gewesen sein kann? Nur je­mand, der Safeschlüssel besitzt, kann zu diesem Zeitpunkt der­artige Safes öffnen.2 Komplizierter wird die Sache durch das Schweigegelübde gegenüber Frau Sacher, das Rappaport Hol­mes und Watson auferlegt.

Der Detektiv nimmt dennoch an, dass er den Fall im Handum­drehen klären und dann zu seinen Bienen zurückkehren kann … aber auch darin irrt er sich gründlich. Im Gewirr der Vielvölker­metropole Wien werden die beiden Engländer in den Sog von In­trigen hineingesogen, die irgendwie mit dem Sacher-Rezept zu tun haben müssen. Es geht hinauf in Militärkreise, es gibt Tote, Watson wird beinahe ermordet, ein rätselhafter Balkan-Nationa­list, ein serbischer Geheimbund und eine nicht minder verwir­rende Bibliothek und ein Globus mit einem fiktiven, darauf ein­gezeichneten Reich, spielen eine Rolle.

Doch ehe sich die Spuren völlig klären, vergeht viel Zeit. Und worum es tatsächlich geht (die Sachertorte führt gewisserma­ßen auf „süße“ Abwege und in einen weiteren Kriminalfall, der eng mit der internationalen Politik verflochten ist), das alles fin­den die beiden Freunde buchstäblich in letzter Sekunde heraus – im Juni 1914. Aber inwiefern hier ein britischer Marineingeni­eur, der Erste Weltkrieg und noch ganz andere Dinge eine Rolle spielen, muss man selbst herausfinden. Und dann sind da auch noch diese schrecklichen Schüsse …

Tötschingers Roman liest sich am Anfang sehr beschaulich, fast behaglich und entspannt, ein bisschen kurios, so dass man als Leser ständig ein Schmunzeln auf dem Gesicht trägt. Holmes´ Versuche, Wienerisch wiederzugeben, Watsons Bewunderung der österreichischen Lebensart, die vielen kleinen Details, mit denen der Autor das kaiserliche Österreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs wieder zum Leben erweckt, komplett mit Le­benskultur, Bräuchen, dem Vielvölker-Lokalkolorit und all seinen Details, das macht deutlich, dass Tötschinger jemand ist, der diese Zeit liebt, ihr vielleicht gar ein bisschen wehmütig hinter­her trauert. Er transportiert all diese Emotionen in Dr. John Wat­son, was Watsons Person ein wenig verzerrt.

Dann gibt es, fast ist man versucht zu sagen: typische, Fehler in der Art und Weise, wie Holmes´ deduktive Arbeitsweise be­schrieben wird. Tötschinger durchschaut sie nicht recht, will mir scheinen, und sie kommt darum ein wenig unbeholfen daher. Holmes erzählt hier zu viel von seinen Plänen und Recherchen.3 Auch sind der Name und die Person der Irene Vogel ganz ein­wandfrei stark beeinflusst von Irene Adler, der einzigen Geg­nerin, die Sherlock Holmes jemals beeindruckte.4 Ansonsten je­doch, insbesondere was den Lokalkolorit Österreich-Ungarns an­geht, kann man vor der Leistung des sehr belesenen Autors (er fügt sogar eine Literaturliste an!) nur den Hut ziehen. Vermut­lich sind alle Angaben bis hin zu den Zugfahrtzeiten, die Watson angibt, recherchierbar. Zu schade, dass das Titelbild von Silvia Mieres den Eindruck, es handele sich um eine Satire, verstärkt. Mit dem Regenschirm in der einen und der Lupe in der anderen wirkt Sherlock Holmes hier wie eine Karikatur. Dennoch sollte man sich von dem ersten Eindruck, auch dem ersten Leseein­druck nicht abschrecken lassen. Schon nach wenigen Kapiteln steckt man so tief in der Geschichte, dass man gar nicht mehr aufhören möchte zu lesen. Das Vergnügen ist zwar nur noch an­tiquarisch nachzuvollziehen, aber man sollte es sich gönnen, wenn man den berühmten Detektiv in Aktion erleben will.

© 2009 by Uwe Lammers

Zugegeben, am Ende des Buches steht dem Leser ein veritabler Schock bevor, über den ich aus gutem Grund nichts ausgesagt habe. Aber ich finde auch heute noch, nach 14 Jahren, dass das Werk unbestreitbar seine Meriten hat.

Das gilt auch für das launige Büchlein, das ich in der kommen­den Woche vorstellen möchte. Wie das obige ist auch dieses in gewisser Weise ein Angriff auf das Zwerchfell des Lesers, und aus gutem Grund.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Vgl. Nicholas Meyer: „Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud“, Bergisch-Glad­bach 1995.

2 Vgl. Michael Crichton: „Der große Eisenbahnraub“, München 1976. Der Roman, der den Eisenbahnraub im Jahre 1855 nacherzählt, sagt viel über die Probleme aus, Safes zur damaligen Zeit knacken zu wollen. Das gilt auch noch für das Jahr 1913.

3 Es gibt hier klare Parallelen zu den Mitchelson/Utechin-Romanen. Vgl. Austin Mitchel­son & Nicholas Utechin: „Die Höllenvögel von Heaven’s Portal“ und „Die Erdbebenma­schine“, beide Hamburg 1977.

4 Vgl. Arthur Conan Doyle: „Ein Skandal in Böhmen“, zuerst abgedruckt im Strand Magazine im Juli 1891, siehe dazu Mike Ashley (Hg.): „Sherlock Holmes und der Fluch von Addle­ton“, Bergisch-Gladbach 2003, Anhang, S. 738.

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