Rezensions-Blog 443: Das Auge Gottes (Sigma Force 9)

Posted Februar 13th, 2024 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Kosmologie ist eine faszinierende Wissenschaft, wenigstens sehe ich das so. Als Historiker von Berufs Wegen und als Phan­tast aufgrund jahrzehntelanger Neigung sind mir wissenschaftli­che Disziplinen und Grenzwissenschaften durchaus vertraut. Und dann und wann vertiefe ich mich sehr gern in Fachartikel oder Bücher, die sich speziell um kosmologische Themen dre­hen.1

Und dann gibt es manchmal den aufregenden Fall, dass ein Bel­letristikautor, der sich recht eigentlich mit Abenteuergeschich­ten befasst, solcher naturwissenschaftlicher Grenzthemen an­nimmt, gründlich recherchiert und daraus ein packendes Aben­teuergarn spinnt, das ganz unstrittig in den Bereich der Science Fiction hineinspielt.

Damit haben wir es heute zu tun.

In James Rollins neuntem Abenteuer der Sigma Force geht es um das scheinbar unvermeidliche Ende der Welt, von dem man schon einen grauenhaften Schnappschuss gesehen hat! In der Hoffnung, das Schlimmste verhindern zu können, beginnt die Jagd nach einem abgestürzten Satelliten.

Das klingt wirr? Na, dann lest mal weiter, Freunde. Ich glaube, ihr werdet eure Meinung bald ändern:

Das Auge Gottes

(OT: The Eye of God)

Von James Rollins

Blanvalet 0365

544 Seiten, TB

November 2016

Übersetzt von Norbert Stöbe

ISBN 978-3-7341-0365-0

Kometen haben schon seit Jahrtausenden eine fundamentale Rolle als Signale der Götter und prophetische Unheilszeichen am Himmel gespielt. Den Legenden zufolge kündigten sie oft­mals Seuchen, Naturkatastrophen, Revolutionen und Ähnliches an – möglicherweise schlicht aufgrund der Tatsache ihrer Unver­ständlichkeit und der unwandelbaren Verwirrung, die sie in den Herzen und Seelen derjenigen Menschen anrichteten, die von einem unvergänglichen und unveränderlichen Himmel ausgin­gen.

In der Moderne haben die Wissenschaften die Rätsel der Kome­ten weitgehend entschleiert und sie als das enttarnt, was sie ei­gentlich sind – Boten aus der Urzeit des Sonnensystems, Gefan­gene des solaren Gravitationsfeldes, die in mehr oder minder periodischen Abständen ins Innere des Sonnensystems gezogen werden und bei ihrer Annäherung ans Muttergestirn einen Schweif aus glühenden Gasen ausformen, der sie letztlich für das menschliche Auge sichtbar macht.

Als sich in der Gegenwart der Komet IKON der Erde nähert, sie aber in relativ sicherem Abstand passieren soll, wird eine inter­nationale Sondenmission ausgesandt, um das Phänomen näher zu beobachten. Das Sondenpaar „IoG-1“ und „IoG-2“ (was für „Interpolation of Geodetic Effect“ steht) ist dorthin unterwegs. Chefwissenschaftlerin ist Dr. Jada Shaw. Doch im Hintergrund steht die DARPA, der wissenschaftliche Arm des US-Verteidi­gungsministeriums, dem es um zentrale Erkenntnisse zum The­ma der Dunklen Energie geht, jener rätselhaften Kraft, die laut modernen physikalischen Theorien rund 70 % der Masse des Universums ausmachen soll, deren Natur aber nach wie vor un­klar ist. Laut Shaw wird der Komet IKON von einer Aura Dunkler Energie begleitet, die die Sonden genauer kartieren sollen.

Bedauerlicherweise schlägt dieser Detektionsversuch fehl. Schlimmer noch: einer der Satelliten wird dabei in die Erdatmo­sphäre zurückgeschleudert und stürzt in der Mongolei ab. Es ge­lingt ihm aber noch, ein paar spektakuläre Daten zu übertragen – und das letzte Bild schockiert die Verantwortlichen: Es ist ein Blick auf die Ostküste der Vereinigten Staaten. Sie brennt und liegt vollständig in Schutt und Asche!

Ein rascher Kontrollanruf dort zeigt, dass dort allerdings noch al­les in Ordnung ist. Handelt es sich also bei dem Bild des Satelli­ten um eine bizarre technische Irritation?

Nein, schließt Jada Shaw sehr schnell, dafür ist das Bild definitiv zu konturenreich. Auch eine digitale Manipulation ist rasch aus­zuschließen. Die Sachlage erweist sich als sehr viel dramati­scher – es handelt sich offenkundig um einen durch Quantenef­fekte ausgelösten Blick in eine nahe Zukunft, in der Teile des Ko­meten aus dem Kurs ausgebrochen und auf die Erde gestürzt sind. Und diese Zukunft liegt nur etwa vier Tage entfernt.

Um nun die Frage zu klären, ob diese fotografierte Zukunft DIE­SE Erde betrifft oder definitiv eine alternative Welt, mithin für unsere Wirklichkeit eine drohende Massenvernichtung katego­risch ausgeschlossen werden kann, erweist es sich als erforder­lich, den Satelliten ausfindig zu machen und sein Zentralstück, ein Gyroskop, das sich mit Dunkler Energie aufgeladen haben müsste, das so genannte „Auge Gottes“, ausfindig zu machen. Painter Crowe, der Direktor der Sigma Force, beauftragt umge­hend seine besten Männer und Dr. Shaw mit der Bergungsmissi­on.

Parallel dazu wird in Rom Monsignore Vigor Verona – bekannt aus den früheren Sigma Force-Romanen – ein Paket zugestellt, das von einem verschollenen Kollegen namens Josip Tarasco stammt. Es enthält eine grausige Fracht: einen Kasten mit ei­nem menschlichen Totenschädel, der eine eingravierte Bot­schaft trägt, außerdem ein in Menschenhaut gebundenes apo­kryphes Testament, das Testament des Apostels Thomas. Offen­bar, so kristallisiert sich auf erschreckende Weise bald heraus, ist dieses schaurige Relikt im 13. Jahrhundert entstanden und eine Kopie eines weitaus älteren analogen Relikts. Wirklich er­schreckend ist aber, dass die Inschriften das Ende der Welt ver­künden – und ein Datum angeben, das hundertprozentig dem entspricht, das Dr. Jada Shaw berechnet hat!

Somit schließen sich Vigor Verona und seine Nichte Rachel der Expedition in die Mongolei an. Sie wollen aber noch einen Ab­stecher zum Aralsee machen, um dort den verschollenen Pater Tarasco zu finden. Auf rätselhafte Weise scheint auch der ur­sprüngliche Träger des Schädels, mutmaßlich Dschingis Khan, von dem durch den Kometen verursachten Weltende vor langer Zeit Kenntnis gehabt zu haben. Dafür spricht auch, dass einer der Mitarbeiter der Sigma Force, Duncan Wren – ein transhuma­nistisch aufgerüsteter Ex-Soldat – an den schaurigen Artefakten dieselbe Signatur Dunkler Energie wahrnehmen kann, wie sie laut Jada Shaw für den Kometen charakteristisch sind. Dafür spricht auch, dass angeblich das Zentralstück des mongolischen Erbes ein eisernes Kreuz sein soll, das aus Meteoriteisen herge­stellt wurde, mutmaßlich aus Kometeneisen, das von einem frü­heren erdnahen Vorbeiflug des Kometen IKON stammen dürfte.

Was niemand von ihnen zu diesem Zeitpunkt ahnt, ist aller­dings, dass es mongolische Extremisten gibt, die alles tun, um das Auffinden des Grabes von Dschingis Khan zu verhindern. Doch exakt dort befindet sich aller Wahrscheinlichkeit nach das eiserne Kreuz, das sie unbedingt finden müssen. Und diese Leu­te gehen wirklich gnadenlos über Leichen und haben selbst die innersten Kreise der Mission infiltriert.

Ebenfalls in die Suche einbezogen werden soll der Sigma-Agent Grayson Pierce, der sich derzeit in Macao befindet. Hier hilft er der Ex-Gilden-Attentäterin Seichan, ihre verschollene Mutter zu suchen. Allerdings wird ihnen die Tatsache, dass Seichan immer noch eine international gesuchte, wenn auch inzwischen geläu­terte Terroristin ist, fast zum Verhängnis, da auf sie ein Kopfgeld ausgesetzt ist. Und dann geraten sie auch noch ins Kreuzfeuer der chinesischen Triaden und haben jede Menge Probleme (um es mal sehr zurückhaltend zu formulieren).

Wie das alles letzten Endes dazu führt, dass Pierce und seine engsten Mitarbeiter einen Undercover-Einsatz in Nordkorea zu absolvieren haben und was das bizarre Rätsel des Vermächtnis­ses des Dschingis Khan letzten Endes mit dem Kometen IKON, dem Tod des Hunnenkönigs Attila (im Prolog) und schlussendlich der Realität selbst zu tun hat und wie viele Opfer es fordert, bis der grässliche Kulminationspunkt der Ereignisse überschritten wird, das kann sich zu diesem Zeitpunkt noch niemand vorstel­len.

Aber das Ende der Welt naht offenbar unvermeidlich, und der Countdown zählt gnadenlos herunter, bis nur noch Stunden blei­ben, dann nur noch Minuten …

Als mit dem achten Band der Sigma Force-Reihe von James Rol­lins der sehr lange hinausgezögerte Showdown mit der Assassi­nen-Organisation der „Gilde“ herauskam2, dachte ich selbst auch: Jetzt kann es eigentlich nur noch schwächer werden. Glücklicherweise täuschte ich mich darin. Im vorliegenden Ro-man versucht der Autor den Spagat, sowohl ein neues Rätsel der Vergangenheit auf innovative Weise zu lösen als auch alte Handlungsfäden (Seichans Suche nach ihrer Mutter) wie moder­ne Astrophysik und Physik zusammenzuführen. Und selbst wenn man bedauern kann, dass dabei leider ein relativ kurzer, sehr actionlastiger und an manchen Stellen doch überhasteter und auf Geschwindigkeit geschriebener Roman herausgekommen ist, kann man ihm eine gewisse Faszination ebenso wenig ab­sprechen wie rasante Lesefähigkeit.

Es empfiehlt sich übrigens sehr (!), nicht der Unsitte zu frönen, die manche Leser begehen: den Schluss zuerst zu lesen. Lest das „Zahl“-Kapitel definitiv NICHT vorher, Freunde, wenn ihr euch einen wichtigen Lesespaß nicht verderben wollt. Denn das Ende ist in gewisser Weise Science Fiction pur, und das hat mit der Quantenphysik zu tun, die in dem Roman auf interessante Weise eine wesentliche Rolle spielt. Es geht sehr viel um Polari­tät, Schwarz und Weiß, Yin und Yang und solche Dinge wie etwa Schrödingers Katze … das Mitbringen einer gewissen Vorkennt­nis der Quantenphysik ist also unbedingt von Nutzen.

Natürlich, ich gebe zu, ich zähle zu den Zweiflern, was die Exis­tenz von Dunkler Materie angeht und denke im Gegensatz zu Rollins eher nicht, dass das schon eine Art von eherner Tatsache ist. Aber das hat mir den Lesespaß nicht verdorben. Der Autor versteht es auch hier wieder, auf interessante Weise spannende Action, beeindruckend plausible Settings und aberwitzige dra­maturgische Situationen in Szene zu setzen, wobei sich High­tech und Archaik durchaus abwechseln.

Wir finden also ebenso motorisierte Verfolgungsjagden, einstür­zende brennende Hochhäuser, aber auch Bogenschützenduelle, wilde Tiere, wildromantische Landschaften und gewisse Indiana Jones-Elemente der klassischen Abenteuerschatzsuche vereint. Assistiert wird dies alles von gelegentlichen Anflügen nerdiger Physikdiskussionen, die aber alltagsverständlich und nicht ver­kopft herüberkommen (primär ist dafür Dr. Jada Shaw als Neu­zugang verantwortlich). Und für die historischen Aspekte der Suche, die sich doch manches Mal als etwas holprig erweist, zeichnet dann mehrheitlich Vigor Verona verantwortlich.

Und der Autor springt über seinen Schatten, der vielen Autoren verständlicherweise schwer fällt – er opfert Hauptpersonen. Welche und unter welchen Umständen … das nachzulesen muss ich dem geneigten Leser überlassen. Und dann gibt es natürlich noch diese „andere Seite“, zu der ich nichts Näheres sagen möchte. Das muss man echt gelesen haben, das war eine wirk­lich faszinierende Volte, die ich so auch noch nicht erlebt habe. Und das will was heißen.

Einwandfrei ein Buch, das man lesen sollte, wenn man die bis­herigen Sigma Force-Romane verfolgt und die Personen lieb ge­wonnen hat, aber auch, wenn man etwas für Schatzsuche wie für faszinierende Quanteneffekte übrig hat. Fans von Clive Cuss­ler beispielsweise kommen hier unbedingt auf ihre Kosten! Der Roman mag nicht ganz an den Vorgänger heranreichen, aber schwach ist er definitiv auch nicht zu nennen.

© 2020 by Uwe Lammers

Wenn man sich den Titel des nächsten Rezensions-Blogartikels so anschaut (der ja etwa in der ESPost annonciert ist), dann könnte man meinen, ich bliebe im Bereich der Astrophysik … aber das ist dann doch falsch. Wir begeben uns vielmehr wieder in die Gefilde der ro­mantisch-erotischen Literatur. Wie das im Detail dann aus­schaut, erfahrt ihr in einer Woche an dieser Stelle.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Jüngst, also im Jahr 2023, habe ich mit Gewinn nach langer Wartezeit Stephen Hawkings Klassiker „Eine kurze Geschichte der Zeit“ gelesen und rezensiert … beizeiten kommt das Werk hier im Rezensions-Blog zum Vorschein, das ist absolute Gewissheit.

2 Vgl. dazu James Rollins: „Mission Ewigkeit“, 2016.

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