Liebe Freunde des OSM,
es ist ein offenes Geheimnis für euch, wenn ihr diesem Blog schon länger gefolgt seid, dass ich fasziniert bin von Zeitreisen und Alternativwelten. Das ist schon eine sehr alte Leidenschaft. Während meines Geschichtsstudiums kam ich zudem noch in Kontakt mit wissenschaftlichen Schriften, in denen dieses Thema unter dem Label „Kontrafaktik“, also Geschichtsverläufen entgegen den realen Tatsachen, abgehandelt wurde.
Da ich immer wieder in historischen Aufsätzen und Sachbüchern über solche „Was wäre, wenn …“-Formulierungen gestolpert bin, lag es für mich absolut nahe, dem Historiker Alexander Demandt beizupflichten, als ich sein Buch „Ungeschehene Geschichte“ schmökerte, wenn er darauf abhebt, dass es für Historiker sozusagen zu den bedingten Reflexen gehört, kontrafaktisch über den Rahmen der realen Historie hinauszublicken.
Ich finde, das ist durchaus menschlich und vollkommen nahe liegend. Jedermann macht sich in Entscheidungssituationen und besonders nach diesen Momenten Überlegungen wie diese: „Ach, hätte ich doch nicht diese Abzweigung genommen.“ Oder: „Hätte ich doch nur diesen Termin nicht verpasst.“ Oder: „Hätte ich ihm/ihr doch das noch erzählt, dann hätte er/sie sich anders entschieden …“
Das ist gewissermaßen Tagesgeschäft, das Denken in verzweigten, nicht realisierten Alternativen. Alexander Demandt tut in seiner kleinen, höchst lesenswerten Schrift (die später in Nachauflagen noch deutlich erweitert wurde) genau dasselbe und wendet es auf die Geschichtsschreibung an.
In meinen Augen wird er damit weder unprofessionell, noch ist das irgendwie unstatthaft. Kontrafaktische Spekulationen gehören implizit zum Geschäft des Historikers, und ja, in ihnen zu denken, weitet den inneren Denkhorizont und schärft den Blick für die Möglichkeiten des Moments.
Schaut es euch selbst mal an:
Ungeschehene Geschichte
von Alexander Demandt
Kleine Vandenhoeck-Reihe Nr. 1501
132 Seiten, TB (1984)
ISBN 978-3-525-33499-7
Was wäre geschehen, wenn Pontius Pilatus im Jahre 33 Jesus von Nazareth begnadigt hätte? In diesem Fall, so argumentiert der Historiker Demandt durchaus plausibel, wäre in der Folgezeit wohl eine Menge anders gekommen, denn die Instrumentalisierung des aramäischen theologischen Eiferers stehe und falle mit seinem Märtyrertod, der dadurch nicht stattgefunden hätte. Das Kreuz mit seinen vielfältigen Folgen wäre z. B. nicht das zentrale Symbol des Christentums geworden, heute gilt das als weithin unvorstellbar.
Es ist eben nicht so gekommen. Dies steht in den Geschichtsbüchern. Die Geschichte erforscht, wie Leopold von Ranke einst sagte, die Dinge, „wie sie gewesen sind“. Alles andere, wird gerne behauptet, sei unseriöse Spekulation, unzulässig und unnötig, reine Phantasterei, die man in Maßen allenfalls noch im historischen Roman wiederfinden könne.
Alexander Demandt, selbst von der Profession her Althistoriker, ist da anderer Auffassung. Mit seinem „Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn…?“ (Untertitel des vorliegenden Buches) unternimmt der Historiker die philosophisch-geschichtswissenschaftliche Analyse des Phänomens alternativer Geschichtsstränge und unterwirft sie akribisch einer kritischen Prüfung. Und er findet dabei gute Gründe, von der grundlegenden Verdammung der kontrafaktischen Geschichte abzuweichen und sie zuzulassen.
Beispielsweise argumentiert er schlüssig, selbst seriöse Historiker und Geschichtsphilosophen hätten sich in ihren Werken solcher Gedankenspielereien nicht völlig enthalten können, ja, dass sie sogar diese Alternativen in Entscheidungssituationen der Weltgeschichte BRÄUCHTEN, um den Wert der dann realisierten Version eingehend würdigen zu können.
Der Gedanke also, kontrafaktische Geschichte sei für Historiker gewissermaßen konstitutiv, und ein Ausblenden dieser Möglichkeiten stelle demzufolge eine unzulässige Verengung der ursprünglichen Möglichkeiten dar, wird bei Demandt geschickt entwickelt. Es erübrigt sich, hier zu begründen, warum mich diese Wendung der Analyse sehr freut.
Maßgebliche Historiker haben selbst öffentlich solche „Parageschichte“ betrieben. G. M. Trevelyan gewann 1907 einen von einer Zeitung ausgeschriebenen Wettbewerb mit einer Geschichte, in der er beschrieb, was geschehen wäre, wenn Napoleon die Schlacht bei Waterloo gewonnen hätte.1 Politiker wie Winston Churchill haben über solche Möglichkeiten spekuliert,2 andere haben die Leben antiker Imperatoren weiterverfolgt, z. B. Arnold Toynbee3, und sind dabei zu verblüffenden – freilich unrealisierten – Ergebnissen gelangt.
Demandt argumentiert nun, dass es zwar schwerwiegende Gründe gibt, diese Ansätze als ahistorisch aufzufassen, man zugleich aber, wenn man sich als seriöser Historiker verstehe, das Faktum nicht auszublenden könne, dass das Heute die Zukunft von gestern sei und sich die Extrapolation auf die heute noch ungeschehene Zukunft deshalb nur graduell von der Parahistorie abgrenzen lasse. Er beschreibt sehr plastisch die Zeitlinie als einen mehr oder weniger geraden Pfad durch eine prinzipiell übersichtliche Landschaft: Man könne zwar stur auf den Boden dieses Pfades blicken und nur jene Fakten zur Kenntnis nehmen, die direkt voraus lägen, aber ebenso gut könne man den Blick heben und sich die „Landschaft“ rechts und links des Zeitstromes anschauen. Dies aber seien gerade unverwirklichte Linien der Zeit.
Kontrafaktische Geschichte eben.
Die Folge solcher gefächerter Betrachtungen hält er für außerordentlich fruchtbar, wenngleich hier in der Literatur in erster Linie der Unterhaltungswert der kontrafaktischen Geschichte überwiege. Man müsse daher genau abwägen, wie viel potentiellen Realitätsgehalt man einer Veränderung der Zeitlinie (z. B. des Attentat-Todes Hitlers im Jahre 1938 oder früher) zugestehe. Konkrete Aussagen über mögliche Folgen solcher Veränderungen ließen sich jeweils nur für das direkte Umfeld konstatieren, denn je weiter sich die Alternative vom Punkt der Veränderung des realen Ereignisses in die Zukunft hinein entferne, desto diffuser und „phantastischer“ werde sie notwendigerweise. Das habe mit der unkalkulierbaren Wirkung weiterer externer Einflüsse zu tun, die den Möglichkeitsbaum unkontrolliert wuchern ließen.
Letztlich führt für ihn aber dann doch jeder Weg zur gesicherten Geschichte zurück, die dadurch nicht überflüssig oder infrage gestellt wird. Eher führt die Beschäftigung mit der Kontrafaktik seiner Ansicht nach zu einem verblüffenden Fazit: „Die Realität entpuppt sich als bloße Kostprobe des grundsätzlich Realisierbaren, sie erscheint als der zufällige Griff in den unschätzbaren Schatz der Schicksalsurne, sie offenbart sich als Botschaft aus einer Überwelt, in die wir nur durch den Türspalt des Gegebenen hineinlugen können. Die dort ruhenden unverwirklichten Möglichkeiten können wir zwar nur ahnen, aber wenn wir uns diese Ahnung durch Kritizismus aberziehen, verarmt unser Geschichtsverständnis um eine ganze Dimension. Denn um den zahlbaren Preis verminderter Blickschärfe sehen wir das Geschehene in den großen Rahmen des Ungeschehenen gestellt. Die Wirklichkeit bildet eine Insel, einen Archipelagus im Ozean des Möglichen. So unsicher alles Navigieren auf ihm bleibt, so klar wird dem, der sich nur ein Stück hinaustraut und zurückblickt, die Borniertheit, die im Genügen am Realen liegt. Er wird sich über die Realität und die Realisten wundern. Die geschehende Geschichte ist ebenso wundersam wie die nicht geschehende.“
Dem bleibt nur noch hinzuzufügen, dass ein jeder, der ernsthaft an Parallel- und Alternativwelten sowie Zeitreisen in der SF und Phantastik allgemein interessiert ist, dieses Buch mit Gewinn lesen wird. Für den Schriftsteller, der sich in diesen Wassern bewegen möchte, ist es eine äußerst anregende Lektüre.4
© 2001 by Uwe Lammers
In der kommenden Woche kühle ich euren jetzt vielleicht etwas heiß gelaufenen Verstand wieder ein wenig ab. Wir kehren dann in den kleinen erotischen Lebensbereich von Kitty French zurück.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Die Story ist abgedruckt in J. C. Squire (Hg.): Wenn Napoleon bei Waterloo gewonnen hätte, Heyne 6310, München 1999.
2 Vgl. ebenda: Winston Churchill: „Wenn Lee die Schlacht von Gettysburg nicht gewonnen hätte“.
3 Vgl. Erik Simon: Alexanders langes Leben, Stalins früher Tod, Heyne 6311, München 1999. Seine Geschichte trägt den Titel „Wenn Alexander der Große weitergelebt hätte“.
4 Unter diese Personen rechne ich mich selbst. Im Rahmen des Philosophie-Hauptseminars „Zukunft als Aufgabe“ an der TU Braunschweig im Sommersemester 2001 wurde mir die Aufgabe gestellt, eine Hausarbeit über ein vergleichbares Thema zu schreiben. Unter direktem Bezug auf Demandt ist diese Arbeit entwickelt worden. Sie trägt den Titel Alternative Weltentwürfe in der Science Fiction – Eine Studie in kontrafaktischer Geschichte, die später in ANDROMEDA NACHRICHTEN 264 (Januar 2019) veröffentlicht wurde.