Rezensions-Blog 58: Die Wahrheit über Sherlock Holmes

Posted Mai 4th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

da staunt der Leser nicht schlecht, wenn einem ein Buch mit solch einem voll­mundigen Titel über den Weg läuft – und wer von euch dieses Büchlein noch nicht gesehen haben sollte, dem ergeht es sicherlich sehr ähnlich wie mir vor ein paar Jahren.

Die Wahrheit über Sherlock Holmes? Spannende Sache. Und dann noch bei DEM Verfasser! Aber zugleich, denkt man sich sicherlich, könnte es recht launig sein, den berühmten beratenden Detektiv mal aus den intimen Memoiren sei­nes größten Gegners kennen zu lernen.

Also, Vorhang auf für Professor James Moriarty und all das, was er über seinen Erzfeind zu sagen hat:

Die Wahrheit über Sherlock Holmes

Von Professor James Moriarty (Pseudonym)

Aus den Unterlagen seines Erzrivalen,

zusammengestellt von Colonel S. Moran

Eichborn-Verlag, 12.95 €

Frankfurt am Main 2011

Aus dem Englischen von Edith Beleites

ISBN 978-3-8218-3688-1

Die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit… und das von einem Erzschur­ken, herausgegeben von einem weiteren Erzschurken, die über das Objekt des Berichtens nur Unflätiges zur Sprache bringen wollen und dieses Objekt, nie­mand Geringeren als Sherlock Holmes, buchstäblich zur Strecke zu bringen be­reit waren? Nun, man darf skeptisch sein, was die Seriosität eines solchen Un­terfangens angeht. Und es wird auch wirklich übel vom Leder gezogen, dass der versierte Holmes-Kenner sich in die Sofaecke kringelt. Es ist wirklich atemberau­bend… doch damit fängt die Rezension quasi schon von hinten an, das ist nicht geschickt. Zunächst ein paar Fakten voraus:

Wir kennen die Protagonisten gut. Sherlock Holmes, seinen Adlatus und „Ecker­mann“ Dr. John Watson aus der Baker Street 221B (hier findet man übrigens einen sehr anschaulichen, schönen Plan der Räumlichkeiten – zwecks eines un­umgänglichen Angriffs, versteht sich) auf der einen Seite, unterstützt vom im­mer ein wenig unterbelichtet scheinenden Inspektor Lestrade vom Scotland Yard und der soliden, unerschütterlichen Miss Hudson, Holmes´ und Watsons Vermieterin, nicht zu vergessen die „Baker Street Irregulars“.

Die andere Seite, die in diesem Yin-Yang-Spiel die entgegengesetzte Polarität vertritt, wird repräsentiert vom „Napoleon des Verbrechens“, Professor James Moriarty, der als Berichterstatter (wir lesen quasi sein Tagebuch, wenn auch in gewöhnungsbedürftiger Reihenfolge) natürlich insbesondere auf seiner Geniali­tät besteht, eben darauf, ein Genie des Bösen zu sein. Leichen pflastern seinen Weg, könnte man sagen, und läge damit durchaus nicht falsch. Als Sympathie­träger eignet er sich eher nicht.1 Sein Adlatus ist dabei der unehrenhaft entlas­sene Ex-Offizier und Scharfschütze Colonel Sebastian Moran (laut diesem Tage­buch Colonel Sebastian Moran Moriarty und damit Teil des Moriarty-Clans). Auch er eignet sich nicht eben als Identifikationsfigur im positiven Sinne. Und schweigen wir von den „Butcher Street Boys“…

Es gibt also eine Art von spirituellem Duell zwischen zwei hochbegabten und in­tellektuell gebildeten Koryphäen, einer auf der Seite der Gerechtigkeit, einer auf der Seite der Finsternis, sagen wir mal. Und Moriarty ist derjenige, der nun auspackt und aus dem Nähkästchen plaudert. Der Klappentext bringt schon ein äußerst passendes Zitat: „Alle Verbrechen, die Sherlock Holmes, dieser Lange­weiler, je untersucht hat, sind MEIN Werk!“ Moriarty, who else? Man merkt so­fort – Bescheidenheit ist seine Zier nicht eben.

Moriarty behauptet auf diesen äußerst abwechslungsreichen Seiten ziemlich haarsträubende Dinge: so etwa, dass Holmes ein eher mäßiger, nur durch Zufäl­le erfolgreicher Detektiv ist, der viele Dinge schlicht und ergreifend übersieht, ganz sicher Moriartys sinistre Fallstricke. Ganz zu schweigen vom wiederholten Einsatz von Moriartys besonderem Lieblingsgift: Moriartium (eine Eigenkreati­on! Er ist überhaupt sehr erfinderisch, wie man in diesem Buch entdecken kann, geradezu ein Pionier der Wissenschaft und Kybernetik!), das Holmes nicht entdeckt. Akribisch weist der Professor nach, dass er in allen Fällen, die Holmes bearbeitete und Doyle überlieferte, seine Finger im Spiel hatte, dass er den De­tektiv durch raffinierte Fehlinformation und Manipulation immer wieder bloß­stellen wollte, um nicht zu sagen: umbringen.

Er hat dabei nach eigener Auskunft eine wirklich illustre Runde an Kumpanen, und manche davon erwartet man einfach nicht, selbst als Holmes-Kenner: nun gut, Irene Adler (in Moriartys Tagebuch eine begabte Kriminelle, die glühend ei­fersüchtig auf die Frauen ist, die ihr bei Moriarty das Wasser abgraben!) kann man schon erwarten. Aber dann: Mrs. Hudson, die Moriarty Plätzchen backt? Mary Morstan, nachmalige Mrs. John Watson (soll Watson auf falsche Fährten locken und Holmes dazu)? Arthur Conan Doyle, der von Moriarty dafür bezahlt wird, dass er Holmes´ Verdienste gering darstellt und seine, Moriartys, Erfolge hingegen gebührend ins Rampenlicht stellt (als er das nicht tut, schreibt Moriar­ty ihm einen gesalzenen Brief, hier zu lesen)? Ganz zu schweigen von diversen Polizisten, die auf Moriartys Lohnliste stehen und Holmes in die Irre führen sol­len (die Liste steht hier!), allen voran Inspektor Lestrade! Klappt meist nicht. Es geht noch schlimmer, aber ich verrate ja nicht alles…

Wir finden zudem unzählige Skizzen zu versuchten oder geplanten Verbrechen, zu denen der Raub der Kronjuwelen, von Fabergé-Eiern, Montgolfieren und ähnlichem zählen, hinzu kommen so obskure Dinge wie „Operation Holzbein“ oder auch „Operation Strauß“ (letztere wird durch einen jungen Fanatiker na­mens Gavrilo Princip in Sarajewo 1914 vereitelt, woraufhin der deutsche Kaiser (!) Moriarty (!) das versprochene Honorar verweigert! „Der Job ist schließlich nicht erledigt, nicht wahr, Herr Professor?“ Da schäumt der Verbrecher!), nicht minder beeindruckende „Gimmicks“ wie eine kugelsichere Kutsche2, die eher eine Art von Panzer darstellt, ein U-Boot für eine Person („mit Luftversorgung für das Rauchen von Zigarren“).

Langeweile kommt hier also in gar keiner Weise auf, und man erfährt sogar, wie die Konfrontation bei den Reichenbach-Fällen ausgegangen ist. Dass Sherlock Holmes überlebt hat, ist durch Doyles Werke bekannt. Was aus Moriarty wurde…? Nun, ich sage nur: Neuguinea! Was das bedeutet? Nein, das ist zu köstlich, das muss man nachlesen.

Für historisch Interessierte und Liebhaber bibliophil schön aufgemachter Bü­cher ist das hier ein richtiges kleines Schmankerl, selbiges gilt auch für die eifri­gen Holmsianer, die unzählige raffinierte Anspielungen auf Holmes-Geschichten wie die Sache mit den Napoleonbüsten, dem blauen Karfunkel, den drei Garri­debs, dem Tal der Furcht (Vermissa Valley), dem Musgrave-Ritual und vielen an­deren Fällen, über die Arthur Conan Doyle berichtet, finden werden, was fast unweigerlich dazu verleiten kann, noch einmal die originalen Geschichten nach­zulesen. Da für mich die Lektüre des Kanons schon etliche Jahre her ist (ich habe die Kurzgeschichtenlektüre im Januar 2006 beendet), waren meine Erin­nerungen etwas angestaubt, aber ich fand es außerordentlich verdienstvoll und raffiniert gemacht, die ganzen Kanon-Geschichten noch einmal durch die Ge­genseite über den Kamm gebürstet vorzufinden. Eine beeindruckende Leistung, durch den launig-herablassenden, manchmal etwas schrill-empörten Schreibstil „Moriartys“ sehr vergnüglich zu lesen.

Auch wenn man den „Wahrheitsgehalt“ dieser Aufzeichnungen unbedingt in Zweifel ziehen muss und Moriarty quasi an keiner Person des Holmes-Kanon ein gutes Haar lässt (nicht mal an Moran, was dieser als „Herausgeber“ mit galligen Randkommentaren vermerkt), außer eben an sich selbst, so dass diese „Tage­buchaufzeichnungen“ natürlich strikt parteiisch sind, ist das ein schönes Buch geworden, das ich mit großem Genuss gelesen habe.

Einwandfreie Leseempfehlung, besonders für Leute, die sich mit Sherlock Hol­mes gut auskennen – ihr kommt aus dem Kichern kaum mehr heraus, verspro­chen!

© by Uwe Lammers 2012

Ihr merkt am Ton der Rezension – ich habe mich damals wirklich köstlich amü­siert. Und wer das Buch noch nicht selbst kennen sollte oder eingefleischte (und ahnungslose) Holmsianer in der Bekanntschaft hat, dem liegt hiermit ein perfektes Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk vor. Ob es derzeit noch er­hältlich ist, kann ich zwar nicht sagen, aber es wäre schon möglich. Na ja, und falls nicht – wozu gibt es in diesem Fall gut sortierte Internet-Antiquariate?

In der kommenden Woche machen wir eine Zeitreise, die uns nicht nur ins 19. Jahrhundert zurückversetzt, sondern gleich über ein paar Jahrtausende. Und zudem besuchen wir ein mythisches Land der Phantastik, dessen Namen ihr be­stimmt schon mal gehört habt: Valusien.

Bei wem jetzt diffus die inneren Glocken der Erinnerung läuten sollten, der kann sein Gedächtnis hier in der nächsten Woche auffrischen. Einfach wieder reinschalten auf meine Homepage.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Wer den Film „Sherlock Holmes 2: Spiel im Schatten“ gesehen hat, wird diesen Eindruck leicht bestätigen können.

2 Gewissermaßen der viktorianische Vorläufer für einen gewissen Aston Martin…

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