Rezensions-Blog 63: Mindstar 1: Die Spinne im Netz

Posted Juni 7th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

also, es gibt Krimileser, und es gibt Science Fiction-Leser, und üblicherweise ist die Schnittmenge zwischen beiden relativ überschaubar. Das heißt: klein. Völlig unterschiedliche Sujets, könnte man da jetzt sagen und das für ganz normal hal­ten. In vielerlei Hinsicht ist daran vermutlich etwas Wahres. Und womöglich bin ich, der ich ja beispielsweise Clive Cussler schätze – was auf klare Thrillerroma­ne hinausläuft, zumeist mit kriminalistischen Zutaten – , derweil ich aber auch sehr klare Präferenzen für SF habe, eine Ausnahmeerscheinung.

Manchmal gelingt es indes, beide Genres zu verschmelzen. Ich brauche nicht zu betonen, dass dabei vieles schief gehen kann… Leute, die Krimis schreiben kön­nen, verhauen sich grässlich in SF-Sujets, und umgekehrt können lupenreine Phantasten womöglich beim besten Willen keinen Krimi strukturell erschaffen.

Aber, wie gesagt, es gibt Ausnahmen.

Eine solche liegt uns mit dem unten rezensierten Buch vor. Gregory Mandel ist ein Detektiv der nahen, man könnte sagen: postapokalyptischen Zukunft. Und Peter F. Hamilton ist wirklich jemand, der sich in unterschiedlichste Sujets ein­denken kann und der gerne und ausgiebig in Symbiosen denkt. Das hatte er ja schon in seinem „Armageddon-Zyklus“ unter Beweis gestellt… könnte man denken.

Allerdings ist dies eine Verkehrung der Umstände, denn die MINDSTAR-Romane sind eigentlich das frühere Werk. Man merkt jedoch auch hier schon, wie ge­schmeidig er lange Geschichten erzählen kann. Selbst wer wie ich zunächst mit „Armageddon“ anfängt und sich danach in die drei MINDSTAR-Romane ein­gräbt, kommt voll auf seine Kosten… selbst wenn man anfangs einen ordentli­chen Schock erleidet.

England am Ende des 20. Jahrhunderts und nach der Klimakatastrophe ist schon ein rechter Schocker. Und doch für den Autor lediglich der Rahmen, in dem dann die eigentliche Handlung spielt.

Also, Vorhang auf für:

MINDSTAR 1: Die Spinne im Netz

(OT: Mindstar Rising)

von Peter F. Hamilton

Bastei 23202

576 Seiten, damals 14.90 DM

Übersetzt von Thomas Schichtel

Heutzutage braucht der englische SF-Autor Peter F. Hamilton keinen mehr, der ihn vorstellt – sein weltbekannter „Armageddon-Zyklus“ hat ihn zum Bestsel­ler-Autor gemacht. Doch im Jahre 1993, als Hamilton gerade einmal begann, ernsthaft Bücher zu verfassen, da musste man ihn mit Worten anpreisen wie: „Lange musste die SF auf einen Autor wie Hamilton warten. Bei ihm verbindet sich auf geniale Weise die Tradition der Space Opera mit den modernsten Ent­wicklungen in der SF…“

Bombastische Worte? Nun, man ist dergleichen von anderen Lobeshymnen auf Umschlägen von phantastischen Werken gewöhnt (man entsinne sich nur des geradezu hysterischen Lobes von Stephen King gegenüber Dan Simmons auf dem Cover von „Ilium“ und „Olympos“!). Man mag also hier auch skeptisch sein. Seid es – und lest den Roman innerhalb von vier Tagen, wie es mir ging. Ich schrieb einer Brieffreundin kürzlich, der Roman habe mich eingefangen und nicht wieder losgelassen… ein Charakteristikum für gute Bücher, wie mir scheint. Und das alles widerfuhr mir in dieser Welt:

Wir befinden uns als Leser mitten in den späten Jahren des 21. Jahrhunderts, in England, natürlich, also der Heimat des Autors, und sein Wohngebiet Rutland kommt selbstverständlich intensiv zum Vorschein. Doch dieses England ist so gründlich anders als das, was wir aus der Gegenwart kennen, dass wir ständig blinzeln und uns die Augen reiben und fragen, ob wir jetzt in einem Alptraum gelandet sind. Die Fahrten der Hauptperson Gregory Mandel durch das postso­zialistische England sind ein ständiger Slalomkurs voller Überraschungen.

Äh, postsozialistisch? Moment mal…

Bananenplantagen in England, die Schilder mit „SVP-freie Zone“ tragen? Eine Hafenstadt, die sich in ein ausgedehntes Sumpfbecken verwandelt hat, über­krönt von einer neuen heranwachsenden Techno-Metropolis, umlagert von Slums, die auch in Bangladesch oder an der indischen Küste stehen könnten? Monsunregen über England? Mandarinenbaumpflanzungen? Mangobäume in voller Blüte?

Tja, das sind nur ein paar der seltsamen, äußerst skurrilen Erscheinungen, die wir im England nach der globalen Klimakatastrophe vorfinden: die Polkappen sind geschmolzen, die alten Industrienationen offenbar mehrheitlich den Bach runtergegangen. Europa wird von Kombinaten (richtig gelesen!) beherrscht, und zehn Jahre lang hatte Präsident Armstrong von der Sozialistischen Volks­partei (SVP) England unter seiner Knute, privatisierte Industrien, prügelte mit seinen Volkspolizisten (!!!) den Widerstand nieder, errichtete Wohnkommunen und ruinierte fast alle Unternehmen.

Und dann kam der imperialistische Gegenschlag, sollte man meinen. Die Speer­spitze davon waren zwei wichtige Protagonisten dieses Romans: der Milliardär Philip Evans und sein High-Tech-Unternehmen Event Horizon, das auf Fabrik­schiffen in internationalen Gewässern Waren herstellte und über den Schmugg­lerring des Kendric di Girolamo nach England schmuggeln ließ, wobei das hier­bei freiwerdende Geld das Land verließ und in den Produktionskreislauf zurück­kehrte.

Präsident Armstrong schäumte, konnte aber nichts machen. Und die Massen­waren führten schließlich, zusammen mit militärisch operierenden Banden, den Trinitys, und dem geheim aufgebauten MINDSTAR-Bataillon dazu, dass die SVP bis nach Schottland zurückgetrieben wurde. MINDSTAR, eine Armee-Einheit mit Soldaten, die durch eine Drüsenoperation über verschiedenartige parapsychi­sche Fähigkeiten verfügen, wurde schließlich aufgelöst, die Leute kehrten ins zi­vile Leben zurück, während Philip Evans und di Girolamo weiterhin versuchten, den Rest der SVP, der sich in Schottland beharrlich an der Macht hielt – Dow­ning Street 10, wo Armstrong residiert hatte, war durch einen Sprengkopf dem Erdboden gleichgemacht worden. Allgemein wird der SVP in Schottland jetzt nur noch eine Lebensdauer von wenigen Monaten gegeben.

Das ist der Ausgangspunkt dieses Romans, und es ist vielleicht gut für den Leser, das als Vorabwissen zu besitzen, um nicht wie der Rezensent anfangs mehrere hundert Seiten alles mühsam selbst zusammenklauben zu müssen.

Greg Mandel ist also ehemaliger MINDSTAR-Soldat. Seine Fähigkeit ähnelt der Telepathie (der Klappentext erzählt hier übrigens Nonsens, also ignorieren). Er hat, was ganz passend ist, eine Detektei aufgemacht und verdient damit gutes Geld, wenn auch eher wenig – in dem postsozialistischen England sind vermö­gende Leute sehr rar, entsprechend sieht seine Wohnung dann auch aus.

Doch auf einmal zieht er den ganz großen Fisch an Land – niemand Geringeres als Philip Evans von Event Horizont kommt auf ihn zu und bietet ihm einen Auf­trag an. Auf der Orbitalfabrik Zanthus von Event Horizont scheint jemand Sabo­tage zu verüben und die Produktion zu verpfuschen. Und dies gerade zu dem Zeitpunkt, wo Evans mit der Regierung über ein wichtiges Projekt verhandelt, das die gesamte Energietechnik der Menschheit revolutionieren kann – den Gi­galeiter. Die Gewinne, die daraus erwachsen, sind, wenn der Plan gelingt, irr­witzig hoch.

Da es Greg rasch gelingt, die Sabotage zu durchleuchten, kehrt schnell wieder Ruhe ein… aber es ist die Ruhe vor dem Sturm, denn diese Attacke ist nur der erste Teil eines weitläufigen, hochgefährlichen Planes eines bösartigen Gegners, der wie eine Spinne im Netz hockt und sich als brandgefährlich entpuppt – für den alten, schwachen Philip Evans und seine siebzehn Jahre junge Enkelin Julia. Und schließlich schlagen die Wogen des sinistren Intrigenpools auch über Greg zusammen und konfrontieren ihn mit den Gespenstern der Vergangenheit…

Mit dem Romanerstling MINDSTAR RISING hat Peter F. Hamilton einen äußerst rasanten Thriller geschrieben, der sich sehr lange Zeit dezent mit Action zurück­hält. Der Leser hat auch so genug zu tun und zu denken, denn die doch äußerst fremdartige Welt, die ihm hier an den Kopf geschmettert wird, hat es überall in sich. Es wimmelt von bizarren Details wie den Netzjockeys oder den Trinitys. Wassermenschen tauchen auf und Plantagen auf dem Grund von Stauseen. Genmanipulierte und technisch zu Kampfmonstern hochgerüstete Panther. High-Tech-Drogen. Präkognition. Straßengangs, zerfallende Straßennetze Eng­lands und verwitternde, heruntergekommene Stadtkerne. Medienmogule, Schmugglerköniginnen, Teenager mit Hormonkomplexen… und das Beste an der ganzen Geschichte ist vielleicht, dass man selbst als jemand der die Intuiti­on eines Sherlock Holmes anzuwenden versucht, so mustergültig aufs Glatteis geführt wird, dass man am Ende mit offenem Mund dasitzt.

Wirklich wahr, der Leser ist platt, ich war’s wenigstens. Und das will was heißen, selbst bei Peter F. Hamilton. Mich bringt so rasch nichts aus der Balance. Hier hat’s geklappt. Was ein klasse Effekt ist.

Es gibt an diesem gesamten Buch nicht viele Wermutstropfen. Die meisten sind banaler Natur und werden leicht überlesen, kleine Schnitzer etwa wie die Sache mit den „Wir haben noch 40 Minuten“ und „Jetzt sind es noch 20 Minuten“, während doch keiner eine Uhr dabei hat, usw. Doch einen kann man einfach nicht übersehen, ganz bestimmt nicht, wenn man Hamilton-belesen ist: das Buch ist einfach zu kurz! „Kein Vertun“, um eine Redewendung von Greg zu be­nutzen, die ich einfach köstlich finde. Das Buch besitzt 44 Kapitel und keine 600 Seiten! Zum Vergleich: Der Roman „Die unbekannte Macht“ (Armageddon 1) besitzt 864 Seiten und nur 18 Kapitel!

Immer dann also, wenn der Leser ruft: Mehr Details, Hamilton, mehr Details!!!!, immer dann endet bei „Mindstar Rising“ das Kapitel und eine Blende kommt. Ich kann mir das nur so erklären, dass ihm der Verlag für den Erstling einfach ein Seitenlimit vorschrieb, um das Risiko gering zu halten, eine Investition in den Sand zu setzen.

Nun, die Leute haben sichtlich das Potential dieser Welt, die Hamilton hier non­chalant aus dem Boden stampft, nicht gesehen. Sowohl die Charaktere als auch die Handlung selbst geben Stoff für einen erheblich umfangereicheren Zyklus her. Und das Schöne ist – es gibt ja noch zwei MINDSTAR-Romane, und jeder ist ähnlich umfangreich. Wenn das mal nicht eine schöne Überraschung ist…

Falls Hamilton irgendwann mal auf die kluge Idee kommen sollte, diesen Zyklus grundlegend zu erweitern und zu überarbeiten, wäre ich sicherlich einer der ersten, der die Neuversion kauft. Es gibt so vieles über dieses düstere Post-SVP-England zu erzählen und über die MINDSTAR-Veteranen…

Insgesamt ist und bleibt es ein Buch voller wunderbarer Möglichkeiten. Welche genau Hamilton davon realisiert hat und welche man sich selbst als Leser nur ausmalt, davon sollte man sich am besten selbst ein Bild machen. Bereuen wird man es gewiss nicht – und die Lesezeit werdet ihr gar nicht spüren, verspro­chen!

© by Uwe Lammers, 2006

Tja, das war dann der erste der drei MINDSTAR-Romane. Gibt ja noch, wie oben angedeutet, zwei weitere, auch wenn man sie heute wohl nur noch antiqua­risch bekommen kann. Das lohnt sich, und ich sage in den nächsten Wochen zu diesen Romanen auch noch etwas.

In der nächsten Woche müsst ihr euch wieder warm anziehen, Freunde, dann kommt ein Sachbuch aus der Wirklichkeit, das euch Heulen und Zähneklappern beschert und vielleicht auch zu Tränen rührt wie mich, als ich dieses unfassliche Werk mit tiefer Bestürzung las. Dann reisen wir nach Südosteuropa in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts.

Das solltet ihr, die ihr wachen politischen Verstand besitzt, nicht entgehen las­sen.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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