Rezensions-Blog 76: Der ferne Spiegel

Posted September 7th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

heute möchte ich euch einmal mit einer guten Freundin bekanntmachen, einer Autorin von historischen Sachbüchern, die ich nach wie vor – wiewohl sie leider schon recht lange nicht mehr unter uns weilt – immer wieder gern lese. Eine kluge, scharfsinnige und ideologisch… ja, sagen wir mal, unvernagelte Person, die aus ihren bisweilen sehr unangenehmen politischen Gedanken und Verbin­dungslinien durch die Jahrhunderte keinen Hehl gemacht hat.

Ich stieß auf Barbara Tuchman schon bald nach dem Jahr 2000, als ich mich ver­stärkt für die Geschichte des Ersten Weltkriegs zu interessieren begann, in der Phase meiner Spezialisierung des Geschichtsstudiums. Und an ihrem Klassiker „August 1914“ kommt man meiner Ansicht nach selbst heute nicht vorbei, wo die Welt zu jedem „Jubiläum“ des Massenmordens mit neuen Publikationswo­gen überschwemmt wird. Aber dieses Buch war ja erst der Anfang.

Schnell stellte ich fest, insbesondere durch Besuche in Antiquariaten, dass Tuch­man noch viel mehr geschrieben hatte. Und je mehr ich von ihr las – beispiels­weise höchst faszinierende Aufsätze, die sich mit bisweilen wirklich absurd scheinenden historischen Themen befassten, von denen ich keinen blassen Schimmer hatte, die aber in jeder Weise unglaublich lesenswert waren – , da lenkte diese Autorin meine Interessen auf neue Felder der historischen Arbeit. Und sie machte das wirklich gut… was man erwarten kann von jemandem, der zweimal mit historischen Sachbüchern den Pulitzer-Preis gewonnen hat, nicht wahr?

Dennoch zögerte ich anfangs bei dem vorliegenden Buch ein wenig. Das Mittel­alter war mir immer als wilde, verworrene Zeit erschienen, und die großen Handlungslinien dieses „dunklen Zeitalters“ meinte ich doch relativ gut zu ken­nen. Gleichwohl fragte ich mich, was wohl im 14. Jahrhundert noch passiert war – abgesehen von Pest, religiösen Wirren und dem Einbruch asiatischer Horden nach Europa. Nun, wie ich entdecken sollte, sehr viel, und das meiste davon vermochte ich kaum zu fassen.

Das sollte aus dem Munde eines berufenen Phantasten nun wirklich was hei­ßen, Freunde. Mag „Der ferne Spiegel“ auf den ersten Blick auch als ein un­glaublicher Klotz Papier daherkommen, sehr dicht beschriftet noch dazu, so werdet ihr doch, wenn ihr euch auf dieses Leseabenteuer einlasst, und das ist es, binnen weniger Lesestunden aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.

Ich geleite euch darum mit ausdrücklicher Empfehlung in dieses Werk. Folgt mir, schlagt die Seiten auf und betretet wie durch eine Zeittür das „dramatische 14. Jahrhundert“:

Der ferne Spiegel

Das dramatische 14. Jahrhundert

(OT: A Distant Mirror – The Calamitous 14th Century)

von Barbara Tuchman

Claassen-Verlag, 1980

590 Seiten, geb.

Aus dem Amerikanischen von Ulrich Leschak und Malte Friedrich

Die heutige Fantasy-Literatur ist ein fader Abglanz der hohen mittelalterlichen Ideale von Ritterlichkeit, höfischem Glanz und dem vermeintlich einfachen bäu­erlichen Leben im Hochmittelalter. Rollenspiele und Mittelaltermärkte florieren, nicht nur auf den Spieltischen und im Internet, sondern sogar als folkloristi­sches Element im Stadtbild der heutigen Zeit, gerne an Plätzen inszeniert, wo alte, restaurierte Fachwerkgebäude dem Spiel einen „authentischen Anstrich“ verleihen. Doch wer nur diese harmonische, pittoresk zu nennende Version der Vergangenheit verklärt und für Stunden oder Tage in die „Rolle“ eines mittelal­terlichen Menschen schlüpft, vermag sich nicht wirklich vorzustellen, wie das damals war. Das Mittelalter ist uns Heutigen fern, doch wenn man genau hin­sieht, in diesen fernen Spiegel, dann erkennt man auf gespenstische Weise Züge unserer heutigen Zeit im Damals wieder.

Im Jahre 1978 legte die zweimalige Pulitzer-Preisträgerin Barbara Tuchman, die für ihre Bücher „August 1914“1 (Erster Weltkrieg) und „Sand gegen den Wind“2 (Eine Darstellung des amerikanisch-chinesischen Verhältnisses im 20. Jahrhun­dert) geehrt worden war, ihr neues Werk vor, und die Fachwelt blinzelte irri­tiert.

Statt sich, wie es naheliegend sein mochte, wieder mit der aktuellen Zeitge­schichte zu befassen, schleuderte Tuchman ihre Leser nun über den schwer zu fassenden zeitlichen Abgrund von mehr als sechshundert Jahren zurück in das europäische Mittelalter. Und es wurde einmal mehr ein beeindruckender, wirk­lich unerwarteter Erfolg. Dies bedarf einer Erklärung, die uns den Inhalt des Bu­ches näherbringt:

Der ferne Spiegel“ ist die Geschichte des 14. Jahrhunderts, dargeboten an dem Lebensweg des Enguerrand VII. Coucy, eines französischen Adeligen, der auf höchst beeindruckende Weise seine Zeit, ihre Stärken und Schwächen re­präsentiert.

Die Autorin gerät an das Thema, weil es sie interessiert, wie der Schwarze Tod, also die Pest, in der Zeit zwischen 1348 und 1350 – man bedenke, es han­delt sich lediglich um drei Jahre! – „schätzungsweise ein Drittel der zwischen Ir­land und Indien lebenden Bevölkerung hinweggerafft hat“. Während sie auf den Spuren dieser Geißel durch die Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts schreitet, ent­deckt sie nicht nur die Hinterlassenschaften und Schrecken einer solchen Gei­ßel, sondern sie identifiziert schließlich deren sieben: „Seuche, Krieg, Steuern, Räuberei, Misswirtschaft, Aufruhr und Kirchenschisma.“

Jeder historisch auch nur halbwegs versierte Mensch beginnt an dieser Stelle zu begreifen, dass Tuchman für das Erfassen und Wechselspiel dieser vielen Fakto­ren auf unterschiedlichste Quellengattungen zurückgreifen muss, durch zahlrei­che Länder wandert und komplexe Sachverhalte wie beispielsweise die durch­weg verworrenen Adelsdynastien darstellen muss. Wie auch schon beim Er­gründen der Ursachen des Ersten Weltkriegs sieht sich die Autorin folgerichtig in einem regelrechten Dschungel aus unpräziser Zeitbeobachtung, Wissenslücken, Überlieferungsproblemen, Deutungsvariationen und Ideologie gefangen. Wie also nähert man sich diesem Knäuel an Schwierigkeiten?

Sie entscheidet sich für eine personale Perspektive und wählt ihren Träger mit Bedacht – Enguerrand VII. Coucy, Sire de Coucy, einer Burg direkt im Kräftefeld zwischen dem schwächelnden französischen Thron, der Normandie, Flandern und Lothringen gelegen (heute übrigens selbst als Ruine noch eine beeindru­ckende Erscheinung!). Er ist deshalb eine wichtige Person, weil er biografische Bezüge sowohl zum französischen Königshof als auch zum englischen Königshof besaß und in den Jahrzehnten nach dem Wüten des Schwarzen Todes eine höchst riskante Gratwanderung zwischen diesen Polen vollführte, ohne indes – wie viele andere Adelige seiner Zeit – durch unvorsichtige oder kurzsichtige Par­teinahme zerrieben zu werden.

Enguerrand gelingt das Meisterstück, aus den Zeitläuften, die seine Umwelt vielfach in Mord und Totschlag, Krieg, Intrigen, Korruption, Usurpation, Fanatis­mus und den sozialen Konsequenzen von Schichtenzerfall und Sittenverfall un­tergehen lassen, nicht nur zu überleben, sondern aufzusteigen, bis hinauf in höchste Kreise der Gesellschaft. Schließlich heiratet er sogar die Tochter des englischen Königs, Isabella von England. Doch bis das geschieht, vergehen in dem Buch fast zweihundert Seiten.

Tuchman muss, ganz wie in „August 1914“ zunächst dem Leser des 20. Jahrhun­derts (und des 21., denn es ist nach wie vor äußerst lesenswert und durchaus nicht veraltet!) die Zeit der Handlung nahebringen3, und damit geht sie teilwei­se bis vor die Kreuzzüge zurück. In manchmal atemberaubenden Schlaufen, die den Betrachter ungläubig zurücklassen, berichtet sie von der Familie der Coucy und ihren finanziellen und biografischen Verflechtungen, die Ursprünge ihres Reichtums, die Struktur ihrer Herrschaft und schließlich die dramatischen Um­stände von Enguerrands Kindheit und Jugend.

Diese Gelegenheit nutzt die Autorin, allgemeine Gedanken über Kindererzie­hung, Jugend und Sozialverhalten jener Zeit zu machen. Es folgen Gedanken über Rittertum und Kriegswesen, womit unweigerlich das gespannte Verhältnis zwischen England und Frankreich ins Zentrum rückt (aber nicht ausschließlich). Ein grässliches, unglaublich bedeutsames Erbe des 13. Jahrhunderts ist der 100jährige Krieg, der während Enguerrands Lebenszeit andauert und geradezu atemberaubende Schrecken und Verwüstungen anrichtet, von denen viele, das sei vorausgeschickt, Sinn und Verstand völlig vermissen lassen. Es ist dem ritterlichen Kodex der offenen Feldschlacht als „ehrbaren Kräftemessens“ zu verdanken, dass Frankreich schließlich regelrecht „enthauptet“ wird, ohne dass indes Vernunft in die Köpfe und Herzen der führenden Adeligen einzieht. Im Gegenteil, Redensarten wie „Die Fische tranken so viel französisches Blut (sagte man nach der Schlacht), dass sie französisch gesprochen hätten, wenn Gott ihnen die Gabe der Rede verliehen hätte“ legen beredtes Zeugnis von dem erbitterten Hass beider Völker ab, der alle Schranken der Vernunft überwand und zu den aberwitzigsten Abenteuern führte.

Der erste Gipfel der Verrücktheit ereignete sich dann am 26. August 1346, als in der Picardie die Schlacht von Crécy geschlagen wurde, was zu einer der verhee­rendsten Niederlagen der französischen Monarchie führte – am Ende des Ge­metzels waren über viertausend französische Adelige tot, und das Ziel, die Er­oberung der zu dieser Zeit englischen Stadt Calais, in weite Ferne gerückt.

Und dann kam der Schwarze Tod, die Pest.

Sie begann ihren Sturmlauf im Oktober 1347 in Genua und breitete sich wie ein Steppenbrand aus. Hinzu kam, als ob sich die Mächte des Himmels oder der Hölle gegen die Menschheit verschworen hätten, ein mächtiger Erdstoß im Ja­nuar 1348, der von Neapel bis Venedig Kirchtürme einstürzen ließ und ganze Dörfer dem Erdboden gleichmachte.

Unterschiedslos schien zugleich die Seuche zu wüten, und manche der Sympto­me, die auftraten, waren so grauenhaft, dass man selbst heute verstehen kann, warum die Zeitgenossen damals an eine Geißel göttlichen Ursprungs glaubten: „Der Chronist Henry Knighton, Stiftsherr der Abtei von Leicester, berichtet von fünftausend toten Schafen in einem einzigen Feld. ‚Ihre Körper von der Pest so verdorben, dass kein wildes Tier und kein Vogel sie anrührte‘, und sie verbreite­ten einen entsetzlichen Gestank. In den österreichischen Alpen kamen Wölfe zu Tal, um Schafe zu reißen, und ‚wandten sich, wie durch ein unsichtbares Zeichen gewarnt, um und flohen zurück in die Wildnis.“

Es nimmt wohl kaum Wunder, dass die Menschen jener Zeit meinten, Gott selbst strafe sie für sündigen Lebenswandel – was beispielsweise in Massenhys­terien und Geißlerbewegungen einmündete.

Die furchtbare Epidemie, deren Ursprung für die einfachen Menschen wie für die Gelehrten völlig schleierhaft blieb, verwandelte Städte in Leichenhäuser und Geistermetropolen. Folgenreicher war jedoch der daraus bald resultieren­de Arbeitskräftemangel: es gab zu wenige Menschen, die die Felder bestellen konnten, so dass zu den Todesfällen bald eine Hungersnot hinzukam.

Schlimmer noch: viele Menschen empfanden diese Geißel als Vorbote der End­zeit und, weil sie unterschiedlos in allen Schichten zu wüten schien, verfielen die Sitten. Besonders verheerend war jedoch, dass der erwartete „läuternde Ef­fekt“ ausblieb. Statt dass Gottes Geißel die Menschheit gebessert hatte, knüpf­ten Adel und Klerus bald an dieselben Missstände an, die vor der Seuche ge­herrscht hatten, und nichts schien sich zum Besseren gewandelt zu haben. Der Respekt vor der Obrigkeit ließ darum in weiten Teilen Europas nach, Räuber­banden breiteten sich epidemisch aus, Raub, Vergewaltigung und Mord waren bald, auch nach dem Abflauen der Pestepidemien, an der Tagesordnung.

Die Politik war zwar offensichtlich auch geschwächt von den Strapazen der zu­rückliegenden Jahre und dem Blutzoll der Pest, aber wie Tuchman nachweist, nicht eben klüger geworden: im September 1356 wandte sich König Johann von Frankreich gegen ein eindringendes englisches Heer und wandte dieselben unklugen Taktiken wie bei Crécy an – mit noch größerem Schaden. Er geriet am Ende der desaströsen Schlacht selbst in Gefangenschaft, Tausende Adelige fie­len, und im aus diesem Desaster folgenden Vertrag von Brétigny 1360 verlor Frankreich – man glaubt es kaum! – fast ein Drittel seines gesamten Staatsge­bietes an die englischen Eroberer. Und Calais, man braucht es kaum zu betonen, blieb englisch.

In diese chaotische Zeit hinein fällt nun der Aufstieg Enguerrand VII. Coucys, der zwischen der französischen Krone und dem britischen Königshaus die Interes­sen zu verteidigen hat. Derweil drohen von überall her neue Gefahren: Adelsin­trigen in England, Adelsintrigen in Frankreich. Aufstände in Flandern. Revolte des Bürgertums in Paris (sogenannte Jacquerie). Marodierende Räuberbanden, die von Städten Schutzzölle erpressen und ganze Grafschaften tyrannisieren. Die Türken überrennen Konstantinopel und bedrohen die südliche Flanke Euro­pas. Widrige Hochzeiten schmieden zwischen den deutschen Adelsstaaten, Spa­nien, Frankreich, Portugal, England, der Schweiz und diversen italienischen Kleinstaaten höchst verwirrende, zu neuen Kämpfen, Feldzügen und Scharmüt­zeln einladende Verhältnisse. Die Mongolen unter Dschingis Khan und seinen Nachfolgern fallen von Osten nach Europa ein und metzeln etwa in Österreich Ritterheere nieder. Der Schwarze Tod kehrt zurück…

Ganz zu schweigen davon, dass der Kampf zwischen dem französischen Hoch­adel und dem italienischen Hochadel dafür sorgt, dass auf einmal ZWEI Päpste – einer in Avignon (französisch), einer in Rom (italienisch) – Anspruch auf die Al­leinvertretung des christlichen Glaubens erheben. Das abendländische Schisma (zeitweise mit DREI Päpsten!) hat begonnen. Traurig und aberwitzig sind die Auswüchse, mit denen beide Päpste die Anhänger des jeweils anderen zu ex­kommunizieren suchen bzw. sogar Kreuzzüge gegen den jeweils anderen, „häre­tischen“ Papst beginnen. Die Verflechtungen zwischen Religion und Politik be­ginnen die Staatsstrukturen ganz Europas zu zerrütten. Auch Enguerrand de Coucy gerät in dieses Kräftefeld hinein…

Man kann das sich in diesem Buch ausbreitende Chaos eigentlich kaum zutref­fend schildern, und es möge dem Rezensenten nachgesehen werden, dass er nur einen sehr KLEINEN Teil des Inhalts verrät, der an vielen Stellen so derma­ßen aberwitzig – aber stets von Barbara Tuchman kundig, präzise und quellensi­cher dargelegt wird – scheint, dass man oftmals wirklich meint, man sei als Le­ser in einem Tollhaus gelandet.

Dennoch ist diese Welt nicht richtig „fern“, wie es der Titel etwas unpräzise sug­geriert. Sie ist, wie es ebenfalls im Titel steht, eher ein „Spiegel“. Sie zeigt der Gegenwart die dunkle Seite der Politik, jene finstere Ansicht, gleich einem Schattenriss, die Staaten anzunehmen imstande sind, wenn die Grundpfeiler ih­rer Fundamente zu erodieren beginnen. Wenn Irrationalität, Hass und Vorurtei­le zu den Leitmotiven der Gesellschaft werden, wenn Staatenlenker sich von kleinlichen Interessen leiten lassen und ihren fixen Ideen zu folgen beginnen, ohne Rücksicht auf die meist grauenvollen Konsequenzen zu nehmen, dann entwickeln sich Zeitläufte wie die des 14. Jahrhunderts, die Barbara Tuchman in aller Breite gleich einem mächtigen historischen Panoramabild entwirft.

Sie verweist selbst auf die verworrenen, teilweise einfach widersinnigen Allianz­bildungen des Ersten Weltkriegs und die z. T. bis heute andauernden Folgen, die aus diesen tragischen Fehlentscheidungen erwachsen sind. Tuchman parallelisiert dadurch in gewisser Weise die Mentalitäten der Jahre zwischen 1300 und 1400 mit denen um das Jahr 1914, und diese Parallelen sind leider sehr stichhaltig.

Doch man kann noch weiter gehen: In der Zeit des frühen 21. Jahrhunderts, in der eine Supermacht – die einzige aus dem Kalten Krieg hervorgegangene Su­permacht (die übrigens keineswegs gewonnen hat, wie immer gern erzählt wird – sie ist, gleich einem Dinosaurier, nur einfach übriggeblieben und schlägt nun weitgehend ziellos um sich) – aus den Lehren der Vergangenheit nichts gelernt hat und aufgrund von Lügen, der Machtgier ihres Präsidenten und der Irrationa­lität und den Vorurteilen eben jener Person Kriege anzettelt, in dieser Zeit kann sich der Leser von Tuchmans Buch durchaus in den Alptraum des 14. Jahrhun­derts zurückversetzt fühlen. Man kann hieran auf sehr beklemmende Weise ler­nen, dass, so sehr sich auch die Zeiten, die Technologie, die Wissenschaften und die Grundlagen des Kriegswesens im Laufe von sechs bis sieben Jahrhunderten ändern mögen, manche Konstanten stets gleich bleiben.

Eine solche Konstante ist die menschliche Mentalität, die Anfälligkeit für Kor­ruption, für mentale Trugschlüsse, für Vorurteile, Hass und Verblendung. Hier wie dort (14. Jahrhundert, Gegenwart) trifft man auf aberwitzige Allianzen, die dem gesunden Menschenverstand Hohn sprechen; hier wie dort findet man eine bestürzende Mischung aus Genialität und Wahnsinn wieder; hier wie dort wird gelogen und betrogen, dass sich die Balken biegen… und natürlich ist auch heutzutage ein George W. Bush jr. – und vielleicht sein Nachfolger gleicherma­ßen – der festen Überzeugung, das richtige Rezept zu haben und „natürlich“ den Sieg davontragen zu können. Im 14. Jahrhundert glaubte dies beispielswei­se der König von Frankreich (und sein Schicksal muss man sich wirklich einmal anschauen, es spottet jedes gesunden Menschenverstandes!). Im 21. Jahrhun­dert glaubt George Bush, er könne einen „Krieg gegen den Terrorismus“ gewin­nen.

Dies ist eine Täuschung. „Terrorismus“ ist kein substantieller Gegner, und ohne substantiellen Gegner verliert man den Krieg, so sehr man ihn auch intensiviert und mit massivstem Geld- und Waffeneinsatz führt. Vietnam und Afghanistan haben es schlagend bewiesen, gelernt wurde aus diesen Desastern kaum bis gar nicht.

Zum Schluss soll noch einmal Barbara Tuchman das Wort haben, um ein Fazit über ihr Buch zu sprechen und damit, vielleicht, auch die Neugierde auf den Alptraum des 14. Jahrhunderts zu wecken, aus dem sich für die heutige Zeit so viel Wichtiges lernen lässt, immer noch:

Wenn diese sechzig Jahre einigen wenigen an der Spitze der Gesellschaft voller Glanz und Abenteuer erschienen, so waren sie für die meisten eine Folge von unberechenbaren Gefahren: von den drei galoppierenden Übeln Plünderung, Pest und Steuern; von erbarmungslosen und tragischen Konflikten, bizarren Schicksalen, Hexerei, Betrug, Aufstand, Mord, Wahnsinn und dem Sturz von Fürsten; von zurückgehender Feldarbeit, von gerodetem Land, das wieder zur Wildnis wurde; und vom immer wiederkehrenden Schatten der Pestilenz, die ihre Botschaft von Sünde und Schuld und der Feindschaft Gottes unter die Men­schen trug.

Und die Menschheit wurde durch diese Botschaft nicht besser. Die Gewalttätig­keit warf alle Zügel ab. Es war eine Zeit der Verantwortungslosigkeit. Verhal­tensmaßregeln wurden kraftlos, Institutionen verfielen, die Ritterschaft schützte das Volk nicht mehr; die Kirche, weltlich geworden, führte nicht mehr zu Gott; die Städte, einst Träger des Fortschritts, waren in gegenseitige Fehden verwi­ckelt und im Inneren in Klassenkämpfen zerrissen; die Bevölkerung, reduziert durch den Schwarzen Tod, erholte sich nicht. Der Krieg zwischen England und Frankreich und das Brigantentum, das er gebar, enthüllten die Hohlheit der mili­tärischen Prätentionen des Rittertums und die Oberflächlichkeit seiner morali­schen Ansprüche. Das Schisma erschütterte die Grundlagen der zentralen mit­telalterlichen Institution und verbreitete ein tiefes und umfassendes Unbeha­gen. Die Menschen fühlten sich unkontrollierbaren Einflüssen unterworfen, wie Treibgut hin und her geworfen in einer Welt ohne Sinn und Richtung. Sie lebten in einer Epoche, die kämpfte und litt, ohne sichtbar voranzukommen. Sie sehn­ten sich nach Heilung, nach Erneuerung des Glaubens, nach einer Stabilität und Ordnung, die niemals kam…“

Lest das Buch, es lohnt sich!

© by Uwe Lammers, 2008

Natürlich merkt man gewissen Passagen dieser Rezension ihre klare Zeitgebun­denheit an. George W. Bush ist inzwischen nicht mehr Präsident (leider wurde er für seine Verbrechen und Lügen, die er zu verantworten hat, nicht vor Ge­richt gestellt und abgeurteilt, wie es notwendig gewesen wäre), sein Nachfolger Barack Obama hat zwar (meines Erachtens eher unverdient) den Friedensnobel­preis erhalten, ist sonst aber bedauernswert unvisionär geblieben, und es steht zu fürchten, dass ihm jemand ins Weiße Haus folgt, der noch viel doktrinärer ist als frühere Präsidenten… doch die Weisheiten im obigen Buch, insbesondere die überzeitlichen historisch-menschlichen Komponenten darin haben auch heute an Gültigkeit nicht verloren. Leider, möchte ich betonen.

Vergleicht man das 14. Jahrhundert mit der Gegenwart, dann kann man echt verzweifeln. Gleich Philip Kindred Dick hatte Barbara Tuchman ein ausgeprägtes Gespür dafür, was in der Geschichte wichtig war und wo die Keime visionärer Vorschau lagen.

In der kommenden Woche könnt ihr euch, was den Umfang der Rezension an­geht, wieder etwas entspannen. Inhaltlich eher nicht, denn dann geht es um eine packende, auch zeitlose Frage: Was ist, wenn der TOD nicht nur ein jeden Menschen betreffendes Phänomen ist, sondern eine PERSON? Eine Person, die man einfangen kann?

Neugierig geworden? Dann schaut in der kommenden Woche rein, welcher Au­tor sich wohl diese Frage gestellt und wie er sie gelöst hat.

Bis dann, mit Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. Barbara Tuchman: „August 1914“, Bern 1964. Die Rezension ist für den Rezensions-Blog in Vorbereitung.

2 Vgl. Barbara Tuchman: „Sand gegen den Wind“. Amerika und China 1911-1945“, Stuttgart 1973.

3 Ähnliches geschieht übrigens, darin auf eine noch verzwicktere, aber durchaus sehr mit Gewinn zu lesende Weise für die erheblich spätere Zeit in C. V. Wedgwoods Klassiker „Der 30-jährige Krieg“, München 1967.

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