Liebe Freunde des OSM,

jeder Schriftsteller hat so seine Kniffe und Geheimnisse, mit dem Strom der kreativen Gedanken umzugehen, die ihm in den Sinn kommen und zu neuen Texten inspirieren. Davon nehme ich mich natürlich nicht aus, das ist mir schon seit sehr langer Zeit bekannt.

Manche Autoren neigen dazu, ihren Notizbüchern oder Tagebüchern auch Ge­schichtenideen anzuvertrauen. Andere schwören auf ausgiebige Zettelkästen (Arno Schmid wäre ein Beispiel). Nun, und ich habe eben mein System der Krea­tivkladden.

Ich begann damit etwa im März 1995 zu arbeiten, also kurz vor meinem Umzug nach Braunschweig, aber erst hier wuchs das System der Kreativkladden dann zu einer ansehnlichen Reihe im Laufe der folgenden gut 20 Lebens- und Schreibjahre an. Inzwischen befinde ich mich in Kladde Nummer 12, und sie ste­hen alle griffbereit direkt hinter meinem Schreibplatz im Arbeitszimmer, „im Schatten der Myrte“, wie ich mal vor langer Zeit dichtete.1

Als ich jüngst auf der Suche nach einem bestimmten Archipel-Fragment war, dachte ich mir: Verdammt, ich muss das in irgendeiner Kreativkladde aufge­schrieben haben… aber nur in welcher? Jede der Kladden umfasst immerhin ca. 160 Seiten in einem A5-formatigen roten Kladdenheft. Das war eine Menge Suchraum.

Während ich also diesen frustrierenden Gedanken wälzte, kam mir ein weiterer, der erheblich systematischer war und den ich – aus welchen Gründen auch im­mer – noch nie gewälzt hatte: Ich habe zu fast allem Listen angefertigt, für ge­sammelte Zeitschriften, gesammelte Bücher, Autoren, Blogartikel, E-Books, OSM-Episoden, Ordnerinhalte… weshalb um alles in der Welt habe ich keine Liste der Kreativkladden-Inhalte?

Das war eine wirklich gute Frage. Und da das Grübeln nutzlos und wenig ziel­führend gewesen wäre, machte ich mich umgehend daran, diese Liste anzuferti­gen… das war eine spannende Arbeit, muss ich sagen, und ich entdeckte wäh­rend der zwei Tage, die ich daran schrieb, erstaunliche Dinge. Ja, natürlich das Archipel-Fragment, das ich suchte, richtig.2 Das war lange nicht alles, was ich finden sollte.

Ihr erinnert euch sicherlich noch an den Blogartikel 233 „75 Fragmente… und was die Folge war“ (publiziert am 20. August 2017) und an meinen Verdruss, wie unvollständig die vormalige Auflistung war… nun, ich hätte mich nicht so früh freuen sollen, denn ich fand bei der Kreativkladden-Aufarbeitung nicht we­niger als sechzehn weitere Fragmente! Nun gut, viele davon waren Seitenpfade und Weiterungen vorhandener Geschichten bzw. Variationen davon, aus denen sicherlich keine eigenständigen Geschichten entstehen werden. Aber das betraf durchaus nicht alle.

Wie war das beispielsweise mit „Die Gefangene der See“, ein waschechtes Fantasy-Märchen, das eine wunderschöne Legende des Archipels werden wird?3 Oder diese Idee mit dem Titel „Die Zwerge des Archipels“ vom 11. Au­gust 2003?4 Da juckt es mich definitiv in den Fingern, diese handschriftlichen Fragmente demnächst abzuschreiben und sie in die Ordner der Archipel-Frag­mente einzugliedern. Wundert euch also nicht, wenn da demnächst einige der­artige Archipel-Fragmente in den „Work in Progress“-Berichten auftauchen (ha, bis dieser Beitrag publiziert wird, ist das sicherlich längst geschehen).

Es kamen aber auch noch andere Sachen zutage. Manchmal handelte es sich nur um Ideen, Titelanwürfe, wenn man so will, mitunter aber auch um mehrere Seiten lange Skizzen. Ein paar Beispiele seien erwähnt, um euch einen Eindruck von der Vielfältigkeit der Kreativkladden zu geben:

Allein in der ersten Kladde finden sich solche Ideen wie „Aktion Vampirtod“, „Silberspiegel-Schwestern“, „Sonntagssoldaten“, „Der Blut-Kolibri“, „Sein-Incor­porated“ und „Der Spiegelscherben-Mensch“ – bislang sämtlich nicht realisierte Gedankenfragmente, auf die ich vermutlich irgendwann mal zurückgreifen wer­de, wenn mein kreativer Dynamo erlahmt. Aktuell ist davon wohl eher keine Rede.

Zahllose Gedichte habe ich hier als erste handschriftliche Entwürfe festgehal­ten, die ich später abschrieb und in separaten Gedicht-Ordnern abheftete. Zeit­nahe Planungsskizzen, etwa für die Fertigstellung des KONFLIKTS 20 „Oki und Cbalon – Das Ewigkeitsteam“5, aber auch für die frühen Archipel-Romane wie „Die drei Strandpiratinnen“6 und „Evi und Petra“ sowie „Rhondas Weg“ finden sich in den Kreativkladden.

Manchmal ist es dabei erhellend, zu sehen, was mir für Gedanken kamen, die ich dann in den Romanen selbst NICHT anwandte. Diese handschriftlichen Vi­sionen sind in jederlei Weise ursprünglicher und näher an der Inspiration, wes­wegen ich sie für besonders wertvoll halte.

Interessante Hintergrundskizzen zum Oki Stanwer Mythos lassen sich hier ent­decken, etwa zum Komplex des WAHREN LEBENS in KONFLIKT 24 „Oki Stanwer – Der Neutralkrieger“7. Ebenfalls fand ich ein paar faszinierende Skizzen zu mei­ner phantastischen Krimiserie „Barry Carson“, über die ich mir 1998 noch inten­sive Gedanken machte.8

Ebenfalls hier entdeckte ich den zweiteiligen Abriss eines schlichten philosophi­schen Artikels mit dem Titel „Gedanken über eine Philosophie des Mehrwerts menschlichen Lebens“, der mich 1998 beschäftigte.9 Vielleicht verfolge ich das beizeiten mal weiter. Dieser Entwurf blieb damals fragmentarisch.

Ein Grund für meine Ablenkung davon dürfte in meiner Einbindung in die Struk­turen des Science Fiction-Clubs Baden-Württemberg (SFCBW) gewesen sein, denn in der Kladde 4 beginnen mehr oder minder ausführliche Überlegungen zur Entwicklung von Editorials für das SFCBW-Fanzine Baden-Württemberg Ak­tuell (BWA), in dem ich damals zum Chefredakteur avancierte. Planungsgedan­ken zu der Artikelreihe „Bausteine der Kreativität“ schlossen sich an.10

Selbiges gilt dann, als ich 1999 damit begann, im OSM den Romanzyklus um den Xin-Feuerspürer Shorex’uss zu entwickeln. Am 23. September 1999 skizzier­te ich dazu eine weitläufige Entwicklungslinie.11

Manche Ideen wie etwa „Die Wolkenfabrik“12 habe ich später in anderen OSM-Fragmenten weiterentwickelt, wobei ich den Ursprung der Idee aus dem Blick verlor wie in diesem Fall. Dass das OSM-Fragment „Ani und das Wolkenmäd­chen“13 hierauf zurückging, war mir völlig unklar.

Auch sind die Kreativkladden ein quasi unerschöpflicher Quell von Zitaten, die ich niederschrieb – fremde, meistens wenigstens. In der Frühzeit beließ ich es bei einfachen Abschriften. Langjährige Brieffreunde von mir wissen, dass ich früher – und heute noch gelegentlich – die Neigung hatte, Briefe mit Zitaten zu beginnen, um selbige aufzulockern. Interessanter wurde das in der späteren Zeit, wo ich dazu überging, die Zitate zu bewerten und zu kommentieren. Ich nehme an, aus meinen Zustimmungen oder Relativierungen können spätere Le­ser interessante Rückschlüsse auf meine mentale Verfassung zum jeweiligen Zeitpunkt der Niederschrift oder grundsätzlich auf meinen Charakter ziehen.

Ebenfalls fast notwendigerweise finden sich in den Kreativkladden erotische Skizzen, die manchmal in Geschichten oder Romane eingeflossen sind, mehr­heitlich aber in der Aporie enden und sich meist ziemlich ähneln. Nur relativ selten gibt es – oft nach mehreren Etappen, üblicherweise in aufeinander fol­genden Kladden niedergeschrieben – so etwas wie einen abgerundeten Hand­lungsbogen.

Es ist speziell hieran deutlich zu erkennen, dass ich in den frühen Kladden noch ein wenig orientierungslos war und nicht recht wusste, wohin ich diese Ideen fokussieren sollte. Ein sehr früher Ansatz – vor den Kladden – war die Fantasy-Erotik-Serie „Horrorwelt“, die ich ab Ende 1983 schrieb und die auf mehr als 150 Episoden kam, zweifellos stark angelehnt an die damals noch existente MY­THOR-Serie.

Als diese Heftromanserie einging, entwickelte ich deutlich später das Konzept der Serie „Erotische Abenteuer“, die von 1996-1999 auf immerhin 74 Episoden kam. Und dann, das ist in den Kladden überdeutlich zu erkennen, schwenkte ich mit der Realisierung solcher Gedanken nahezu vollständig auf den Archipel um.

Faszinierend ist auch, dass ich gerade in den Jahren 2000 und 2001, wo ich ja an sehr langen Archipel-Romanen arbeitete und noch der Ansicht war, der Archipel drücke sich prinzipiell in Romanen über 300 Seiten Umfang aus (was, wie ich heute weiß, natürlich nicht stimmte), von einer regelrechten Schwemme von Kurzgeschichtenideen heimgesucht wurde. Sie finden sich logischerweise nahe­zu vollständig in den Kreativkladden. Allein 38 noch nicht realisierte Ideen stam­men aus diesem kleinen Zeitfenster.

Als eine Form von Stimmungsbarometer lassen sich die Kreativkladden also durchaus analytisch auswerten. Es ist ebenfalls für die Spätzeit recht klar zu er­kennen, dass ich hier nüchterner wurde, mehr Zitate eintrug, diese stärker kom­mentierte, und sonst verstärkt zu Reiseberichten überging, da ich die Kladden dann auf Reisen mitnahm und entsprechende Eintragungen machte. Ob es sich dabei um einen SF-Con in Bad Urach handelt14, um meinen Besuch bei einer Hochzeitsfeier einer lieben hessischen Brieffreundin15 oder um Dienstreisen im Auftrag meiner historischen Beschäftigung in Projektverträgen…16 das alles fin­det sich eben genau hier.

In der Gegenwart, das merkt man in den späteren Kladden, deren Laufzeiten er­staunlich lang sind, hat das Eintragen deutlich nachgelassen. Das hat verschie­dene Gründe, mehrheitlich, so denke ich, ist das auf die verstärkte Computeri­sierung meines Schreibens zurückzuführen. Nein, das ist gar kein so kryptischer Gedanke, wie es jetzt auf den ersten Blick scheint – denkt mal selbst darüber nach. Wenn man nicht computerisiert ist oder es ein Weilchen dauert, bis man sich an die Schreibmaschine setzt und eine Notiz schreibt, neigt man (ich wenigstens) dazu, schnell und flink handschriftliche Notizen zu machen. Hat man dann eine Kladde zur Hand, ist es offensichtlich, wo eingetragen wird.

Wenn man aber, wie ich heute, den Computer direkt vor sich auf dem Schreibtisch als alltägliches Arbeitsgerät stehen hat, ist es wirklich leichter, so­fort eine neue Datei zu schaffen und Notizen darin zu integrieren, anstatt sie erst in eine Kladde einzutragen und später abzuschreiben. Der handschriftliche Arbeitsgang wird in der Regel übergangen. Ist nicht immer der Fall, aber inzwi­schen sehr häufig. Bis die Kreativkladde 12 also gefüllt und abgeschlossen ist, werden vermutlich noch Jahre vergehen.

Dennoch würde ich sagen, das Instrument der Kreativkladde ist durchweg nicht überflüssig. Bei Reisen leistet es mir ausgezeichnete Dienste, dito, wenn ich irgendwo unterwegs bin und mich eine Idee anfliegt. Neulich hätte sie mir sehr geholfen, als ich jählings in der Mensa von dem Bilderstrom der OSM-Story „Rilaans Geschichte“… ja… geradezu attackiert wurde. So kann man das wohl am ehesten nennen, das war ein echter Überfall. Da die Kreativkladde zu zücken und sofort mit dem Schreiben zu beginnen, das wär’s gewesen!

Vielleicht sollte ich die Kladde tatsächlich wieder zu meinem alltäglichen Requi­sit auf Reisen machen. Das könnte nützlich sein… nun, ich halte euch diesbe­züglich mal auf dem Laufenden, Freunde. Und für jeden von euch, der hin und wieder von Ideen geplagt und heimgesucht wird, empfehle ich ebenfalls das Führen einer solchen Kladde, eines kreativen Tagebuchs oder etwas in dieser Richtung. Ihr werdet schon sehen, das lohnt sich.

Soviel für heute von der kreativen Arbeitsfront. Nächstes Mal suchen wir wie­der einen legendären Schauplatz auf. Lasst euch davon überraschen, um wel­chen es diesmal geht.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Die handschriftliche Vorarbeit dazu findet sich in der Kreativkladde 5 (Laufzeit: 1999/2000).

2 Es handelte sich um das Fragment „Also doch eine Dunkel-Dirne!“, geschrieben am 20. November 2001, das ich in der Kreativkladde 7 entdeckte (Laufzeit: 2000-2002).

3 Niedergeschrieben in der Kreativkladde 7 am 14. Mai 2001.

4 Niedergeschrieben in der Kreativkladde 8 (Laufzeit: 2002-2004).

5 Enthalten in Kreativkladde 1 (Laufzeit: 1995-1997).

6 Ich hatte schon vergessen, dass ich diese Geschichte ursprünglich „Die Pirateninsel“ nennen wollte, so doku­mentiert in der Kreativkladde 2 (Laufzeit: 1997-1998).

7 Dokumentiert in der Kreativkladde 2 gegen Anfang 1998

8 Zu finden in Kreativkladde 3 (Laufzeit: 1998).

9 Ebd.

10 Beginnend in Kreativkladde 5 (Laufzeit: 1998-1999).

11 Sie findet sich ebenfalls in Kreativkladde 5.

12 Enthalten in der Kreativkladde 6 (Laufzeit: 2000).

13 Entwickelt am 23. Oktober 2010.

14 Enthalten in Kreativkladde 11 (Laufzeit: 2010-2016).

15 Enthalten in Kreativkladde 9 (Laufzeit: 2004-2008).

16 Enthalten in den Kreativkladden 10 (Laufzeit: 2009-2010) und 11.

Leave a Reply

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>