Rezensions-Blog 130: Illuminatus! Band 1: Das Auge in der Pyramide

Posted September 20th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

es gibt verschiedene Bücher, die ich mehrmals zu lesen begann, sie aber im er­sten Anlauf nicht zu bewältigen verstand. Leseabenteuer… das kann einem mit jedem x-beliebigen Buch so gehen. Aber üblicherweise beiße ich mich durch die Lektüre durch. Das ist ja auch bei wissenschaftlichen Werken so, die mir unge­achtet meiner Ausbildung bisweilen arges Stehvermögen abnötigen.

Dann wieder gibt es Werke, bei denen ich das stete Gefühl habe, dass sie mich reizen und reizen und reizen… und mit denen ich gleichwohl nicht sofort warm werde. Ein solches Buch ist, auf den ersten Blick wenigstens, die Illuminatus!-Trilogie. Als ich durch einen schönen antiquarischen Zufall die Trilogie in einem dicken Wälzer preiswert in die Finger bekam, mehr als tausend Seiten stark und sehr schön aufgemacht, da entschied ich: Jetzt ist es an der Zeit, einen zweiten Anlauf zu wagen.

Ja, denn einen ersten hatte es mehr als zwanzig Jahre zuvor schon mal gegeben, als ich noch in Wolfsburg lebte und einen ziemlich kläglich-engen Lesehorizont besaß. Inzwischen war ich deutlich weiter und dachte mir, sowohl mit einem abgeschlossenen Geschichtsstudium in der Tasche als auch weit gefächerten Le­seinteressen, ganz zu schweigen von Tausenden von Büchern, die ich zwischen­zeitlich gelesen hatte: Nu isses Zeit. Nu wollen wir uns mal dem harten Brocken stellen.

Um es kurz zu machen: Es war auch diesmal eine Anfechtung, aber ich wage zu prognostizieren, dass, wer immer sich bis Seite 100 des Romans durchgebissen hat, mit der Lektüre wohl kaum mehr wieder aufhören kann. Und ihr kennt mich, ich stufe so etwas als klares Qualitätskriterium von Büchern ein.

Es wird aber auch wirklich ein bizarrer Mix aus historischen Fakten, munterer Erfindung, wahnhaften Verstrickungen und Manipulationen erzählt, die schlussendlich fast in den Dritten Weltkrieg abdriften. Ich glaube, wenn Wilson & Shea heutzutage noch solche Romane schreiben würden, dürften die Comics und Co­micverfilmungen als Ingredienz nicht fehlen, das würde alles noch schriller ge­stalten. Aber es ist auch so schon abenteuerlich genug.

Bereit für ein extraordinäres Leseabenteuer? Na, Freunde, dann schnallt euch mal an, und ab geht die Post mit dem yellow submarine (wobei durchaus nicht nur die Beatles grüßen lassen, aber die natürlich ganz besonders):

Illuminatus!

Band 1: Das Auge in der Pyramide

(Illuminatus! – The Eye in the Pyramid)

von Robert Anton Wilson & Robert Shea

Kailash, Hugendubel 2002

336 Seiten

Erstausgabe: 1978

Übersetzt von Udo Berger

Seid ihr bereit für den totalen Trip? könnte man in einer ironischen Abwandlung eines Zitates von Joseph Goebbels sagen, für eine extraordinäre Erfahrung im Sinne eines Buches, das vorgibt, die Weltformel gefunden zu haben und die Er­klärung für so rätselhafte Dinge wie da etwa sind: der Mord an John F. Kennedy, die Regierungskrise auf dem Eiland Fernando Poo vor der afrikanischen West­küste, Adolf Hitlers triumphalen Aufstieg zur Macht, das Pyramidensymbol auf der amerikanischen Dollarnote, sprechende Delphine, ein yellow submarine, den wahren Grund für den Tod des Gangsters Dillinger, die tieferen Wahrheiten hinter den Freimaurern, H. P. Lovecrafts frühen Tod, die Funktion der UNO, die Tempelritter und ihre Widersacher um den Alten vom Berge usw. usf… seid ihr dafür bereit? Dann auf ins Abenteuer:

Irgendwann (man schreibt etwa das Jahr 1975, Watergate ist schon gewesen, aber noch nicht so richtig vorbei – aber auch die Gründung und Zerschlagung des Illuminaten-Ordens im Jahre 1776 bzw. 1785 ist hier noch nicht vorbei, warum nicht, das wird gleich erklärt – und Jimmy Carter bereits an der Regie­rung) explodiert in den Büroräumen der linksgerichteten Zeitschrift Confronta­tion in New York City eine Bombe. Sie richtet nur Sachschaden an, denn die Re­daktionsräume sind leer. Chefredakteur Joseph Malik und sein Chefkorrespon­dent George Dorn sind verschwunden. Die ermittelnden Beamten der New Yor­ker Polizei, Barney Muldoon und sein steinalter Gefährte Saul Goodman entde­cken stattdessen eine ganze Reihe von Memoranden, die Malik offensichtlich über kryptische Zusammenhänge mit einem uralten Geheimbund informieren sollten.

Der Geheimbund, um den es geht, sind die Bayrischen Illuminaten, gegründet von Adam Weishaupt im Jahre 1776, verboten 1785. So steht es in der Encyclo­pedia Britannica. Aber vielleicht, so legen andere Memoranden nahe, ist das auch nicht die ganze Wahrheit und alles geht ein paar Jahrhunderte weiter zu­rück auf Hassan i Sabbah, den Alten vom Berge, der die Sekte der Assassinen gründete. Doch wie passen die UNO, die Chinesen, Adolf Hitler, Außerirdische von der Venus, Atlantis, ein geheimes Königreich in einer gigantischen unterirdi­schen Höhlenwelt unter dem Himalaja und George Washingtons Hanfplantage in diese Geschichte hinein (dies ist übrigens eine höchst unvollkommene Auflis­tung! Warnung! Ich habe stark vereinfacht)?

Je mehr sich die beiden Polizisten mit den anfangs sehr wirren Dingen beschäf­tigen, desto klarer wird ihnen, dass nur Joe Malik hier Sinn hineinbringen kann. Aber Malik ist spurlos verschwunden. Und dann verschwinden auch noch die beiden Polizisten und werden via Drogen einer Art von Gehirnwäsche unterzo­gen.

Derweil erhält der stellvertretende Redakteur des Confrontation, der in einem Ausweichquartier die Stellung hält (aber auch nicht Bescheid weiß) einen Anruf von George Dorn. Befragt, wo er sich gerade aufhalte, erklärt Dorn, er sei von freimaurerischen Sturmtruppen aus dem Gefängnis von Mad Dog, Texas, befreit worden, wo er den Mörder von John F. Kennedy getroffen habe. Inzwischen be­findet sich Dorn aber an Bord der LEIF ERICKSON, einem gigantischen gelben Unterseeboot des einstigen Rechtsanwalts und jetzigen Piraten und Esoterikers Hagbard Celine (ein Norweger, der eigentlich mehr wie ein Sizilianer aussieht und dies unter anderem auf seine genetischen Stammbäume zurückführt, die bis in die Zeit des alten Atlantis vor 10.000 Jahren zurückreichen) auf dem Grunde des Atlantiks, auf dem Weg zu dem legendären, untergegangenen Kon­tinent, wo sich eine goldene Pyramide mit einem Auge darin befindet, die gera­de von Tieftauchrobotern der Illuminaten geplündert werden soll.

Denn, so vertraut Hagbard George an, die Illuminaten sind nach wie vor aktiv, keineswegs ausgerottet oder dergleichen. Sie haben, angefangen mit der Fran­zösischen Revolution und endend mit der Errichtung des amerikanischen Penta­gon, immer noch ein und dasselbe Ziel: die Beherrschung der Menschheit durch ihre Strohmänner, ob die nun Ku-Klux-Klan, Tempelritter, UNO, Kommunisten, Kapitalisten oder Verbrechersyndikate sind oder vermittels religiöser Sekten wie der des Aga Khan oder über den des chinesischen sozialistischen Sonderweges zustande komme, ist vergleichsweise egal. Die Illuminaten sitzen überall.

Hagbard Celine jedoch ist dabei, die inzwischen seit 59 Jahrhunderten aktiven Langzeitpläne der Illuminaten zu durchkreuzen, die dummerweise auf den Dritten Weltkrieg hinzielen. Und das hängt wiederum mit einem kleinen Eiland namens Fernando Poo zusammen und auch einem britischen, paranoiden Geheimagenten mit der Kennziffer 00005…

Wer da eben ein wenig den Anschluss oder den Überblick verloren haben soll­te, lasse sich beruhigen: es ging dem Rezensenten nicht anders, und es ist schon fast zu bedauern, dass er DOD1 ist oder besser DDA.2 Manch einer mag be­haupten, dieses Buch sei ohne eine ordentliche Dosis Hasch nicht zu verstehen, und möglicherweise hat er nicht ganz unrecht.

Ich neige indes dazu, Bücher mit klarem Verstand zu lesen, um die Fakten von dem zu scheiden, was an Phantastereien darin steckt. In dieser Beziehung gab mir das vorliegende Buch allerdings gehörige Probleme auf. Es ist eine Melange, bei der man einfach kaum entscheiden kann, wo die Phantasie beginnt und wo sie aufhört.

Überdies ist der zeithistorische Kontext gestört. Das bedeutet, dass viele, viele Anspielungen auf Personen gemacht werden, die um 1975 politisch oder wirt­schaftlich von Bedeutung waren, häufig gibt es Vergleiche von Handlungsperso­nen mit damals lebenden Menschen (was mir spontan einfällt, war etwa der optische Vergleich eines Protagonisten mit dem damals amtierenden Papst Paul VI. Nun ist der gestorben, als ich noch ein relativ kleines Kind war, ich könnte also nicht sagen, wie er aussah. Infolgedessen sagt mir diese Beschrei­bung wenig).

Weiter erschwert wird die Sache durch die Sprünge. Das bedeutet, wenn man hier auf normale Kapitelblenden fixiert ist, erleidet man so kläglich Schiffbruch, wie ich einst etwa 1982 Schiffbruch erlitt, als ich das Buch zum ersten Mal zu le­sen versuchte. Es erschien mir damals schlicht UNLESBAR, und wenn man nicht eine Menge Grips, Informationen und Geduld besitzt, mag es das tatsächlich sein. Es gibt kein Personenverzeichnis, und selbst wenn alle Handlungspersonen (die bisher bekannt sind, es kommen laufend welche dazu, und bisher sind nur höchst wenige verstorben) endlich aufgetaucht sind, wird die Geschichte nicht einfacher, denn… nun…, sagen wir es mal so: sie verwandeln sich. So kommt es etwa vor, dass sich George Dorn auf einmal im Kopf von Saul Goodman wieder­findet bzw. dieser Bewusstseinstransfer für einen Transfer der Perspektiven ge­nutzt wird. Erklärt wird er in den seltensten Fällen. Manchmal murmeln die Au­toren hier etwas von Telepathie.

Dann sind da die chronologischen Sprünge.

George Dorn erinnert sich beispielsweise, während er im Gefängnis sitzt oder im U-Boot unterwegs ist, an seine anarchistische Kindheit (bedingt durch die anarchistischen Eltern, was einen Exkurs in den Trotzkismus erforderlich macht), an seine studentischen Unruhezeiten, an die Bekanntschaft mit Joseph Malik. Von da kann aber die Handlung aus, sagen wir, 1968, ganz jählings ins Jahr 1932 umschlagen und sich mit dem Verbrecher John Dillinger beschäftigen. Oder mit H. P. Lovecraft und der Miscatonic University. Oder mit einem afrikani­schen Medizinmann, der Nadeln in die Körper des Präsidenten der USA und der Staatsratsvorsitzenden der UdSSR und Chinas sticht, worauf diese an Voodoo-Schmerzen zu leiden beginnen (etwa 1975, vor der Fernando-Poo-Geschichte). Manchmal findet sich der Leser auch übergangslos im Jahr 1776 wieder. Oder im Jahre 1943, während die Krematorien der Nazis rauchten. Oder in der Ge­meinschaft mit einem singenden, hochintelligenten Delphin namens Howard, der mit Hagbard Celine gegen die Illuminaten zusammenarbeitet…

Das Muster ist kein Muster, es ist nicht vorhersagbar, was wann wo eingeblen­det wird, wo man sich auf der nächsten Seite befinden wird und was für Entde­ckungen die handelnden Personen und der Leser machen werden. Das ist für einen Leser, der einen konstanten Handlungsfluss erwartet, eine enorme An­fechtung und Beanspruchung. Ich schweige mal davon, dass man eigentlich alle möglichen Nachschlagewerke zu Rate ziehen sollte (inklusive solchen über Kabbalistik, Schwarze Magie, Zahlenmystik und Schöpfungskulte, Biowaffen, internationale Politik der 70er Jahre, die Prohibitionszeit und das Gangsterunwesen in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts… und die Freimaurerei), um einen Großteil der erwähnten Details zu erschließen. Das muss man sich wohl für das zweite und dritte Lesen aufsparen.

Ich empfehle den interessierten Lesern – und jeder, der für intelligente Phantas­tik schwärmt und sie sucht, sollte Illuminatus! mal gelesen haben, es ist ein wunderbares Training für die Lachmuskulatur! – , vielleicht als „Trockenübung“ vorweg Das Foucaultsche Pendel von Umberto Eco zu lesen, das eine ähnliche Geschichte erzählt. Doch während Eco bierernst eine weltweite Verschwörungs­geschichte zu erzählen sucht und dabei unvermittelt seine Protagonisten auf eine WIRKLICHE Verschwörung stoßen lässt, was eine Katastrophe auslöst, ist Il­luminatus! einfach nur köstlich. Nicht genug damit, dass die Autoren die Welt­geschichte, die Geheimbünde und vieles andere mehr auf die Schippe nehmen, nein, sie verschonen auch sich SELBST nicht!

Auf Seite 265 findet der geneigte Leser den Ansatz einer Selbstrezension des Buches, die folgendermaßen vom fiktiven Rezensenten namens Wildeblood be­gonnen wird: „Es ist einfach ein grässliches Monster von einem Buch… Die bei­den Autoren halte ich für völlig inkompetent – nicht eine Spur von Stilgefühl oder für Gliederung. Es fängt als Kriminalroman an, springt dann über zu Science Fiction, gleitet anschließend ab ins Übernatürliche und ist überladen mit den ausführlichsten Informationen über Dutzende von entsetzlich langweiligen Themen. Zudem ist der Zeitablauf völlig durcheinander, was ich als eine anma­ßende Imitation von Faulkner und Joyce werte. Am allerschlimmsten aber ist, es hat die obszönsten Sexszenen, die du dir vorstellen kannst. Ich bin sicher, dass es nur deshalb verkauft wird…“ Das geht noch ein bisschen so weiter, aber ich schweige hier. Ich habe jedenfalls vor Lachen schier am Boden gelegen.

Die Autoren sind unheimlich selbstironisch, und manchmal, wenn die Sache gar zu heftig wird, fragt man sich wirklich, ob nicht nur Adam Weishaupt „stoned“ sein musste, um den Illuminaten-Orden 1776 zu erfinden, sondern auch die Er­schaffer dieser völlig bizarren Welt. Sie macht jedoch einfach nur Spaß und ist unglaublich unterhaltsam. Selten ein so köstliches Buch gelesen. Ich freue mich schon auf die beiden Folgebände.

© 2003 by Uwe Lammers

Na, habt ihr den Kopf wieder ordentlich durchgelüftet, Freunde? Das war not­wendig, glaube ich. Und es tut gut, in der nächsten Woche einfach in einen gu­ten, soliden Abenteuerroman der jüngeren Vergangenheit abzutauchen. Es geht wieder hinüber zu Clive Cussler. Lasst euch mal überraschen, welches Buch ich euch da diesmal vorstellen werde.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe

 

1 „Dauerhaft ohne Dope“

2 „Dauer-Drogen-Abstinent“

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