Rezensions-Blog 139: Flammendes Eis

Posted November 22nd, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

gestattet mir eine Vorbemerkung aus gegebenem Anlass, ehe ich zum Buch des heutigen Tages übergehe: Es freut mich, für kluge und belesene Phantasten zu schreiben, selbst wenn das manchmal bedeutet, mich fehlerhafter Arbeit zu überführen. So geschah es jüngst nach Veröffentlichung meines letzten Rezensi­ons-Blogs. In der Nummer 138 empfahl ich euch Robert E. Howards Geschich­tensammlung „Horde aus dem Morgenland“, und kurz darauf wurde ich darauf hingewiesen, dass sich zwei Fehler eingeschlichen hatten. Das möchte ich gern heute korrigieren.

In der Rezension schrieb ich, in der Story „Braut des Todes“ agierte Etienne Villiers. Das ist natürlich falsch, in Wahrheit kämpft dort an der Seite der Schwarzen Agnes ein Schotte namens John Stuart. Und ich vergaß außerdem, die Person zu erwähnen, die dieses Geschichtenfragment von Howard vollendet hat, wiewohl das im Vorwort des Übersetzers geschrieben steht: es war Gerald W. Page.

Für die aufgetretenen Fehler entschuldige ich mich und ziehe meinen Hut in Re­spekt vor meinem wachsamen Leser – ich liebe es, für kritische Literatur-Gour­mands zu schreiben und hoffe, dass sich so bald weitere Fehler nicht einschlei­chen werden… indes: Menschen sind fehlbar, und Rezensenten wie ich natür­lich ebenfalls.

Kommen wir nach dieser unerwarteten Vorrede nun also zum heute vorzustel­lenden Werk.

Der Titel des Buches mag auf den ersten Blick irritieren, aber ich versichere – er ist sehr passend gewählt und eine bemerkenswert treffende Übersetzung des Originaltitels. Zugleich beinhaltet dieser Roman ein ganzes Bündel faszinieren­der Ideen und schön gezeichneter Charaktere, die andere Autoren vermutlich auf mehrere Werke verteilt hätten. Ich fühlte mich bei der Lektüre an den Erst­ling von Paul Kemprecos erinnert bzw. auch an den ersten Roman von Cussler und Craig Dirgo zur OREGON-Crew (wir kommen dazu beizeiten noch näher, vertraut mir).

Dies hier ist also ohne Frage einer der interessanteren Cussler-Kooperations-Romane, der eine Reihe von äußerst angenehmen Lesestunden im Gefolge hat, wenn man sich auf das Leseabenteuer erst mal einlässt. Ich für meinen Teil musste dazu nicht sehr intensiv überredet werden, nachdem ich die ersten bei­den Abenteuer von Kurt Austin und Joe Zavala schon inhaliert hatte.

Gewiss, es ist „nur“ Abenteuerkost, nichts Weltbewegendes – wenngleich auch nicht ohne Tiefgang, wie ihr sehen werdet – , doch wir nähern uns allmählich dem Jahresende, die Tage werden kürzer, und da ist der Zeitpunkt für einen süf­figen, unterhaltsamen Abenteuerschmöker gewiss richtig gewählt.

Folgt mir also erst einmal ins Jahr 1918 und sodann in eine stürmische politische Gegenwart des Jahres 2002:

Flammendes Eis

(OT: Fire Ice)

Von Clive Cussler & Paul Kemprecos

Blanvalet 37285, 2002

480 Seiten, TB

ISBN 3-442-37285-0

Aus dem Amerikanischen von Thomas Haufschild

Der Erste Weltkrieg ist eine Blutmühle, in der Millionen von Menschen auf eine Art und Weise zu Tode gebracht werden, die vor 1914 schlichtweg unvorstellbar ist. Der Krieg verändert ein für allemal die Geschichte der Welt, fegt Staaten hinweg, leitet an zur versuchten Ermordung ganzer Völker (Armenien), führt zu kulturellen, politischen und extremistischen Umwälzungen weiter Teile der von Menschen besiedelten Welt. Die Erschütterungen sind selbst noch im fernen Osten zu spüren, und manche Narben dieser Krise, die sich auf so monströse Weise entlädt, sind bis heute nicht verheilt.

Besonders drastisch trifft das Schicksal eine Nation, die selbst im internationa­len Vergleich als rückständig gilt und die aus einer gewissen autokratischen Selbstherrlichkeit die Zeichen der Zeit gänzlich verschlafen hat: das russische Zarenreich. Und folgerichtig, muss man wohl sagen, ist es 1918 mit dem Zaren­reich auch vorbei. Der durch Winkelzüge des Deutschen Reiches eingeschleuste Revolutionär Wladimir Iljitsch Uljanow, den man besser unter seinem Kampfna­men „Lenin“ kennt, bringt das schon mürbe und wankende Gemäuer der russi­schen Aristokratie endgültig zum Einsturz. Der Zar Nikolaus wird entmachtet und mitsamt seiner Familie in Jekaterinburg inhaftiert.

Doch das ist noch nicht das Ende vom Lied: denn die alliierten Mächte haben, während sie Deutschland schon niederkämpfen, durchaus nicht vor, Russland und die an die Macht gekommenen Bolschewiki Lenins ungeschoren zu lassen. Vielmehr gehen die Intentionen dahin, Lenin wieder zu stürzen. Ein Bürgerkrieg der Rotarmisten gegen die so genannten „Weißen“ lässt es realistisch erschei­nen, dass die Kommunisten die Macht verlieren.

In dieser Situation entschließt sich Lenin im Juli 1918 zur Flucht nach vorne. Er will den „Weißen“ die künftige Galionsfigur Russlands rauben – den Zaren und seine Familie, und zwar ein für allemal. In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 werden die Angehörigen der Zarenfamilie geweckt und angekleidet in den Keller geführt. Hier fällt ein Überfallkommando aus elf Bewaffneten über sie her und erschießt und ersticht die gesamte Herrscherfamilie. Die Zarenfamilie hört am 17. Juli 1918 auf zu existieren, der Traum des Zarentums ist für immer aus­geträumt.1

Aber was würde wohl geschehen, wenn das nicht die ganze Wahrheit wäre…?

Dieser Roman beginnt mit einer kontrafaktischen Annahme, die nahtlos an das Obige anschließt. Der Prolog spielt in Odessa am Schwarzen Meer, im Jahre 1918: der altersschwache Frachter „Odessa Star“ unter Kapitän Anatoli Towrow wird in einer Nacht- und Nebel-Aktion für eine überraschende Passagierüber­fahrt nach Konstantinopel gebucht. Offensichtlich gehört zu den unerkannt an Bord kommenden Passagieren eine Reihe von Frauen und Kindern. Eine Begleit­mannschaft aus Kosaken, angeführt von Major Peter Jakelew, eskortiert und be­schützt die Passagiere auf der Fahrt über das Meer. Dennoch haben sie Pech – denn sie werden verfolgt und zugleich von Verrätern unter der Mannschaft an­gegriffen. Die Passage endet in einem schrecklichen Desaster. Niemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass sie zugleich eine Legende gebiert.

Jahrzehnte später, kurz nach der Jahrtausendwende, wird der im Ruhestand be­findliche und nun zum Fischer avancierte ehemalige Ozeanograph Leroy Jenkins vor der Küste von Maine Zeuge von etwas eigentlich Undenkbarem: sein Schiff reitet auf einer Tsunamiwoge, die geradewegs seinen Heimathafen zum Ziel hat. Dank seiner Kenntnis können die Menschen rechtzeitig evakuiert werden. Aber Jenkins fragt sich nervös, ob vielleicht dieses große, fremde Forschungs­schiff, das er kurz vor dem Tsunami gesehen hat, etwas mit dem Beben zu tun hat, das völlig untypisch war.

Wenig später ereignet sich im Ägäischen Meer ein spektakulärer Entführungs­fall: das Experimental-Tauchboot NR-1 wird mitsamt seiner Crew bei einem Tauchgang entführt und verschwindet spurlos.

Auf den ersten Blick scheint das alles miteinander nichts zu tun zu haben, aber der Eindruck täuscht natürlich – diese Fakten haben ebenso miteinander zu tun wie ein englischer Lord und die „kleine Meerjungfrau“, aber diese Wendungen der Geschichte muss man besser selbst nachlesen.

Etwa zur selben Zeit, als sich die Entführung in der Ägäis nahe der türkischen Küste ereignet, befindet sich ein kleines Filmteam unter der Leitung der drauf­gängerischen, jungen Kaela Dorn am Schwarzen Meer und möchte eigentlich entweder eine „Story“ über den legendären Berg Ararat und die Arche Noah machen, alternativ über ein Schiff der National Underwater & Marine Agency (NUMA), das hier Forschungsarbeiten durchführt.2 Dummerweise hört Kaela dabei auch von einem verlassenen sowjetischen Marinestützpunkt, und sie beschließt, sich das genauer anzuschauen. Man kann ja nie sagen, ob das nicht eine „Story“ wert ist…

Diese „Story“ kostet sie und ihre Gefährten fast das Leben: zunächst wird ihr Bootsführer, ein ortskundiger türkischer Fischer, vom Ufer aus erschossen, dann wird ihr Schlauchboot zersiebt, und kaum sind die Journalisten einigermaßen heil an Land angekommen, taucht eine grotesk kostümierte Reitertruppe am Strand auf und legt es darauf an, sie wahlweise niederzureiten, mit altmodi­schen Flinten über den Haufen zu schießen oder mit Säbeln niederzumetzeln. Kaela und ihre Kollegen glauben sich in einem grotesken Spektakel, denn die Kerle sehen aus wie leibhaftige Kosaken.

Allein das Eingreifen eines wagemutigen Mannes mit einem Leichtflugzeug, der die „Kosaken“ in die Flucht treibt, rettet ihnen das Leben – das Flugzeug ist hin­terher indes Schrott.3 So hat die Hauptperson des Romans ihren Auftritt: Der wagemutige, weißhaarige Hüne hört auf den Namen Kurt Austin und war auf der Suche nach einem „vermissten“ Journalistenteam, das das Rendezvous mit dem NUMA-Schiff „Argo“ nicht eingehalten hat.

Diese Rettung hat nun Konsequenzen von ungeahnter Tragweite: in Moskau wird ein Mann in einem bescheidenen Büro auf diese Ereignisse aufmerksam gemacht. Ein Mann namens Viktor Petrow, der seit langer Zeit eine Personalak­te fast auswendig gelernt hat. Eine Akte über einen Mann namens Kurt Austin von der NUMA. Denn die beiden sind sich in den zurückliegenden zwanzig Jah­ren mehrmals über den Weg gelaufen, als Austin noch bei der CIA war. Austin kennt den Russen nur unter dem Tarnnamen „Iwan“, und nun hat der NUMA-Mann seine Kreise gestört. Er taucht in Istanbul überraschend auf und lässt kur­zerhand Austin kidnappen, um ihm klipp und klar zu sagen, dass er es nicht dul­den werde, falls sich die NUMA um die sowjetische Marinebasis kümmern wol­le. Er solle sich nicht einfallen lassen, diesen Landstrich noch einmal zu betre­ten, anderenfalls werde er es bereuen.

Nun, das ist nicht die Art und Weise, mit der man Kurt Austins Desinteresse för­dern könnte – schon gar nicht deshalb, weil das Verschwinden der NR-1 inzwi­schen höhere Wogen schlägt… und Admiral James Sandecker, seines Zeichens Leiter der NUMA, in Washington hochoffiziell ein Suchverbot durch den Präsi­denten ausgesprochen bekommt. Allerdings kristallisiert sich rasch heraus, dass das Verschwinden der NR-1, ein verschollenes sowjetisches U-Boot der India-Klasse und die Marinebasis klar miteinander zu tun haben.

Austin missachtet also Petrows Warnung und dringt mit seinem Kollegen Joe Zavala heimlich in die (scheinbar) verlassene Marinebasis ein. Damit stört er erst recht die Kreise derjenigen, die hinter den grotesken Kosaken stehen. Es geht dabei um einen Mann namens Mikhail Razow, der den russischen Groß­konzern Ataman Industries leitet und von einem Berater unterstützt wird, den man nur als „Mönch Boris“ kennt und der seine Abstammung auf den wahnsin­nigen Mönch Rasputin zurückführt, der zu Zarenzeiten die Zarin und die Zaren­familie in Hörigkeit zu ziehen vermochte, wie es heißt. Razow, der sich als recht­mäßigen Nachkommen der Zarenfamilie versteht, hat eine Reihe von sehr weit reichenden Plänen.

Einer dieser größenwahnsinnigen Pläne sieht den Sturz der russischen Regie­rung und seine eigene Inthronisation als neuer Zar von Russland vor. Aber das ist leider nur ein kleiner Teil seiner teuflischen Vorstellungen von der nahen Zukunft – und eine gewisse Gruppe von Menschen ist ihm nun gründlich im Weg, zunächst ein gewisser Kurt Austin und die Crew der „Argo“… und dann auch noch Millionen von Amerikanern, die er auf ungeheuerliche Weise zu er­morden trachtet…

Nach dem eher etwas mäßigen Buch „Brennendes Wasser“ ist das dritte Abenteuer von Kurt Austin (im Impressum mit „Kust Austin“ angegeben, was natürlich Quatsch ist), wieder deutlich bemerkenswerter. Sieht man einmal von dem Titelbild ab, das mit dem Inhalt nichts zu tun hat (im ganzen Roman kom­men keine Haie vor), hat das Lektorat hier ebenso wieder solidere Arbeit geleis­tet als auch das Autorenduo selbst. Der Titel ist ausgesprochen passend, da es sehr zentral um Methanhydrat geht, einen faszinierenden realen Stoff, der kaum besser denn als „brennendes Eis“ beschrieben werden kann. Zwar reicht Kemprecos´ Roman nicht an Frank Schätzings „Der Schwarm“ heran, das grundsätzlich viel mit Methanhydrat zu tun hat4, aber das physikalische Szenario, das entwickelt wird, ist äußerst realistisch. Der Meeresboden STECKT voller Methanhydrat, und wenn die globale Erwärmung oder tektonische Bewegungen große Mengen davon freisetzen, kann es zu Katastrophen sehr ähnlicher Art in der Wirklichkeit kommen, wie sie im Buch beschrieben werden.

Die kontrafaktische Grundannahme, dass in Jekaterinburg eben NICHT alle An­gehörigen der Zarenfamilie getötet wurden, besitzt historisch einen weiteren interessanten Reiz, auch der verschollene Zarenschatz (meines Wissens bis heu­te nicht gefunden) sowie die absolut plausiblen Erläuterungen zur Schichtung und Entstehung des Schwarzen Meeres runden die Geschichte ab.

Das Sahnehäubchen darauf sind jedoch die beeindruckenden Charaktere. Der scheue Leroy Jenkins, der faszinierend indifferent beschriebene Petrow, die „klassischen“ Charaktere der NUMA (Austin, Zavala, Gamay und Paul Trout, San­decker, Julien Perlmutter) und ihre immer wieder schön aneinander knallenden Interessen, die scharfzüngig-humorvollen Dialoge, das alles im Zusammenspiel macht einfach Spaß. Und Abenteuer wird genug geboten: ob entführte U-Boo­te, verblüffend zutrauliche Wachhunde, Kosakenschießereien, ein waschechtes, grässliches Geisterschiff, eine regelrechte Seeschlacht mit einem historischen Segelschiff im Hafen von Boston und vieles andere mehr… es wird echt nicht langweilig in dieser Geschichte.

Natürlich gibt es einen Wermutstropfen, und der bezieht sich auf Razow und seinen arg schematischen Mönch „Boris“. Nach anfänglich durchaus reizvoller Einführung verschwinden die beiden fast völlig in der Versenkung, und das Plus, das beispielsweise ein Petrow im Gegenspiel zu Austin für sich verbuchen kann, das fehlt an Charakterisierung bei den Bösewichtern, die in jederlei Weise leichtsinnig sind. Man mag das für den Ausfluss von akutem Größenwahn und Unbesiegbarkeitsglauben halten, aber das hat doch die Glaubwürdigkeit der Gegenseite erheblich geschmälert.

Sonst jedoch – beeindruckende Unterhaltungskost, unbedingt zur Lektüre emp­fohlen!

© 2012 by Uwe Lammers

Soviel also zu einem empfehlenswerten Roman der jüngsten Vergangenheit. In der kommenden Woche möchte ich wieder mit der Vorstellung eines Mehrteilers beginnen, dem ich, zugegeben, selbst lange Zeit skeptisch gegenüberstand, ehe mich sein „Zauber“ buchstäblich einfing. Es mag genügen, einfach mal zwei Worte zu nennen, die inzwischen international berühmt sind, damit ihr genau wisst, in welchen Kosmos wir in der kommenden Woche aufbrechen: Hogwarts und Quidditch.

Zauberhafte Stunden stehen uns bevor – ab nächste Woche.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. dazu beispielsweise das GEO EPOCHE-Heft Nr. 6: „Im Reich des Zaren“, 2002.

2 Ich gebe zu, die Beschreibung von Kaela Dorn erinnerte mich fatal an Kylie Minogue, was mir die Vorstellung der Person doch sehr erleichterte. Und das Mädel gehört auch zu den gut beschriebenen Personen im Ro­man.

3 Man erinnere sich – im zweiten Roman fährt Austin gleich zu Beginn ein neues Rennboot zu Schrott. In die­ser Beziehung ähnelt er sehr Cusslers ursprünglichem Helden Dirk Pitt, der oft ähnlich dramatische Auftritte hinlegt.

4 Vgl. dazu Frank Schätzing: „Der Schwarm“, Köln 2004 (6. Auflage). Man merkt an der annähernd gleichzeiti­gen Abfassungszeit, dass das Thema Methanhydrat damals regelrecht „in der Luft gelegen“ haben muss. Es ist heutzutage nicht weniger aktuell, man spricht nur weniger drüber. Das Buch ist in Vorbereitung für den Rezensions-Blog.

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