Rezensions-Blog 24: Seelengesänge (3)

Posted September 9th, 2015 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

mit diesem Roman begann eigentlich der zweite Teil des „Armageddon-Zyklus“ von Peter F. Hamilton, aber ich wies ja schon darauf hin, dass der Bastei-Verlag damals bei der Publikation jeden dieser in sich schon voluminösen Bände in zwei Taschenbücher aufgespalten hat, so dass aus der Trilogie letzten Endes ein Sechsteiler wurde. Hiermit nähern wir uns dann also quantitativ der Mitte, und auch nach inzwischen fast zweitausend Seiten ist das Garn, das Hamilton spinnt, ungemein packend und mitreißend.

Und so geht die Geschichte weiter:

Seelengesänge

(OT: The Neutronium Alchemist, Part I)

Armageddon-Zyklus, 3. Roman

von Peter F. Hamilton

Bastei 23227

928 Seiten, TB

August 2000, 9.90 Euro

Übersetzt von Axel Merz

Die Gefahr der Besessenen ist von der Dschungel-Siedlerwelt Lalonde entkom­men. Bei dem Versuch, die Bedrohung einzudämmen, hat eine gnadenlosen Schlacht im Lalonde-System stattgefunden, der beinahe auch die Lady Macbeth unter ihrem Kommandanten Joshua Calvert zum Opfer fiel. Stattdessen gelingt es ihm, seine Heimat, das Habitat Tranquility zu erreichen, zu Tode erschöpft, den Schiffsbauch mit zahlreichen Flüchtlingen angefüllt. Joshua bringt eine Re­portage von Lalonde mit, die endgültig den Verantwortlichen der Konföderation zeigt, was für Grauen die Besessenen im Schilde führen.

Die Nachricht kommt zu spät.

Inzwischen haben die Besessenen sich über zahlreiche Welten ausgebreitet und werden an vielen Fronten bekämpft. Dabei fallen das System von New Califor­nia und die Welt Norfolk, auf der Joshuas jugendliche Geliebte Louise Kavanagh lebt, unter die unheimlichen, aus dem Jenseits zurückgekehrten Seelen.

Und doch gibt es Hoffnung. Die Konföderierte Navy vermag mehrere Besessene einzufangen und sogar einen von ihnen durch einen Null-Tau-Tank (eine Art Sta­sisfeld für Raumreisen) von der Possessoren-Seele zu befreien. Bei diesem Mann handelt es sich um einen einstigen Siedler von Lalonde, Gerald Skibbow.

Dummerweise ist ausgerechnet Skibbows Tochter Marie, gleichfalls eine Beses­sene, die Anführerin des Aufstandes gegen die Konföderation auf dem Habitat Valisk, und sie beginnt ein verführerisches Demoband in der Konföderation zu verbreiten, um arglose Jugendliche und Unzufriedene dorthin zu locken und gleichfalls in Besessene zu verwandeln. Dieser Zusammenhang zwischen Vater und Tochter sorgt für ein ziemlich folgenschweres Problem.

Auf der dicht besiedelten Welt New California schwingt sich eine zurückkehren­de Seele rasch zum Herrscher auf. Es handelt sich um niemand anderen als den untoten Gangsterfürsten Alphonse Capone, der im frühen 20. Jahrhundert Chi­cago unter Kontrolle hielt. Capone dekretiert eine Zusammenarbeit zwischen Besessenen und normalen Menschen. Das ist dem einfachen Sachverhalt ge­schuldet, dass auch die Besessenen nicht allmächtig sind. Beispielsweise ver­wandeln sich eigentlich unessbare Gegenstände, die sie in essbare mutieren lassen, im Körper wieder zurück (was zu absurden Konsequenzen führt). Sie brauchen also Leute, die für Landwirtschaft, öffentliche Versorgung und Verwal­tung zuständig sind. Keiner der beinahe gottgleichen Besessenen will sich für solch subalterne Aufgaben hergeben. Damit erwächst ihnen ein weiteres Pro­blem: womit bezahlt man diese Leute?

Außerdem versucht Capone, sich in den Besitz von Antimaterie zu bringen, um seine Machtbasis zu verbreitern. Doch die Abschirmfelder der Antimaterie in­terferieren zu stark mit den Störfronten, die die Besessenen abstrahlen, so dass sie nur „loyale“ nicht-besessene Raumfahrer als Besatzung für solche Raum­schiffe verwenden können.

Es gibt noch andere Schwierigkeiten. Eine scheinbar eher harmlose ist die popu­läre Phantasy-Mood-Künstlerin Jezzibella, die in Al Capone einen neuen Förde­rer und Liebhaber entdeckt und ihn mit unglaublicher Lässigkeit um den Finger wickelt. Auf der anderen Seite gelingt es dem sinistren Quinn Dexter, der für die Ausbreitung der Besessenen auf dem Planeten Norfolk verantwortlich ist, von dort aufzubrechen. Nach wie vor sein Ziel: die Erde.

Aber es gibt auch interne Streitigkeiten innerhalb der Gruppe der Besessenen. So taucht unversehens ein Galan auf, der Louise Kavanagh und ihre kleine Schwester davor rettet, das schreckliche Schicksal zu teilen, das Kindern und jungen Mädchen unter Besessenen zuteil wird. Erst allmählich kristallisiert sich heraus, wer dieser Beschützer ist – niemand Geringerer als der Anführer der Meuterer von der Bounty – ein Mann namens Fletcher Christian. Andere Beses­sene bringen es nicht übers Herz, Kinder zu quälen und so für die Possession vorzubereiten. Noch andere kämpfen damit, sich lebende Nahrung zu besorgen (göttlich die Szene, wie der Possessor Moyo Hühner zu fangen versucht, „ohne sie zu rösten“…).

Endgültig dramatisiert sich die Lage, als es Dr. Alkad Mzu gelingt, aus dem Habi­tat Tranquility zu flüchten und ihre Pläne fortzusetzen, den gefürchteten Neu­tronium-Alchimisten einsatzbereit zu machen, eine Waffe, die imstande ist, gan­ze Planeten zu vernichten. Ein wahnsinniger Wettlauf nach Dr. Mzu beginnt, denn welche Seite auch immer in die Lage versetzt wird, den Alchimisten einzu­setzen, könnte das Schicksal der Menschheit entscheiden…

Mit dem dritten Band des Zyklus profiliert Hamilton ausdrücklich die interessanten und ein wenig stiefmütterlich behandelten Personen. Die schon im ers­ten Band erwähnte Jezzibella tritt hier als zickige, launenhafte und absolut sex­besessene junge Frau in Erscheinung, die selbst Al Capone an den Rand seiner Kräfte bringt. Louise Kavanagh und ihre kleine Schwester wachsen auf beispiel­lose Weise über sich hinaus und sprengen die Grenzen ihrer engen Welt Nor­folk. Und dann bricht der Autor das enge Raster von Freund-Feind-Denken auf, indem er demonstriert, dass eben auch Besessene „nur Menschen“ sind.

Sehr beeindruckend wird der Kampf gegen die Ausbreitung der Besessenheit geschildert, auch die Wirkungen, die die Existenz eines Jenseits, in das (offen­bar) ausnahmslos alle Seelen einzugehen haben, auf das menschliche Durchhal­tevermögen hat. Es ist eine ähnliche Lage wie bei den Totenköpfen in meinem Oki Stanwer Mythos (OSM), nur dass ich eine solche Demoralisierungswelle aus metaphysischen Beweggründen in der SF-Literatur noch nie gesehen habe. Das beeindruckt stark. Damit erhält Hamilton mehr Tiefe und Wirkungskraft, als es beispielsweise ein Stephen Baxter jemals haben könnte. Wenn man, beispielsweise, Baxters Multiversum-Zyklus liest, wird glasklar, dass er nicht an die Existenz einer Seele glaubt. Solche Wesen kommen bei Hamilton auch vor, aber als die Natur der Besessenen erkennbar wird, zerschellen die Ansichten solcher Dogmatiker an der Klippe des Glaubens – und versinken anschließend in dem Hades, der dahinter lauert. Solche Widerstreite zu schildern, ist eine große Kunst. Der plumpe Autor weicht so etwas aus, nicht so Hamilton! Und das macht ihn realistisch, glaubwürdig.

Zum Ende des Romans ist nach wie vor alles offen, aber während sich die relativ unorganisierten Besessenen auszubreiten suchen, bemühen sich verschiedene Fraktionen der menschlichen Rasse, sich dem Problem grundlegend zu nähern. Und es scheint fast so, als läge die Antwort auf die Fragen irgendwo dort drau­ßen – bei den fremden Völkern, die das, was die Menschheit jetzt durchmacht, schon einmal durchgestanden (und überlebt) haben.

Aber vielleicht haben die Menschen ja weniger Glück…? Die nächsten Romane werden es zeigen. Momentan ist ja erst Halbzeit im Zyklus.

© by Uwe Lammers, 2004

Man sieht, auch nach drei voluminösen Romanen des Zyklus war ich von der wendungsreichen, facettenreichen Geschichte nach wie vor schwer beein­druckt. In drei Wochen erfahrt ihr, was ich vom vierten Band des „Armageddon-Zyklus“ gehalten habe. Doch in der kommenden Woche machen wir eine sehr humorvolle Stippvisite in der Publikationsgegenwart. Lasst euch mal überra­schen, was für einen absolut non-phantastischen Roman, der mich gleichwohl fast zum Totlachen brachte, ich euch dann sehr ans Herz legen möchte.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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