Rezensions-Blog 401: Zen in der Kunst des Zuhörens

Posted April 25th, 2023 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

vor gut 8 Jahren schrieb ich meinen ersten Rezensions-Blog, der am 1. April 2015 unter dem Titel „Zen in der Kunst des Schreibens“ ein Ratgeberbuch von Ray Bradbury vorstellte. Es ist schon ein wenig kurios, dass ich das Buch von Rebecca Shafir, das ich erst kurz zuvor gelesen hatte, dann so lange aus dem Blick verlor … aber das zeigt eigentlich nur, wie viele Blogartikel bzw. Rezensionsbücher ich hier noch „vorrätig“ habe. Ich arbeite diese Werke ja nicht der Reihenfolge nach ab, in der sie gelesen und rezensiert wurden, sondern das wird schon thematisch ordentlich durchmischt. Hieran sieht man das mal wieder recht augenfällig.

Das Shafir-Buch ist wie das von Bradbury eines, das ich immer wieder gern zur Hand nehme und in dem ich nach wie vor blät­tere und lese. Außerdem zählt es zu den paar Dutzend Werken, die ich den Mitmenschen gern ans Herz legen möchte, selbst wenn sie sonst nicht so buch-affin sein mögen.

Es geht, wie in der Rezension anno 2004 dargestellt, um sozia­les Verhalten im weitesten Sinn, das sich auf alle Felder unserer Lebensführung ausdehnt und quasi universell anwendbar ist. Sei es, dass Beziehungen zerbrechen, der Brotjob sich auf ein­mal als Stressfaktor Nummer Eins entpuppt, die Familie euch nicht in Frieden lässt oder sich hartnäckige Missverständnisse im Freundeskreis breit machen und scheinbar unmöglich aus­räumen lassen.

Vielleicht ist das meiste davon schlicht eine Kommunikationsfra­ge. Und man muss sich selbst und andere davon einfach über­zeugen, besser zuzuhören, um das Entstehen von Misshelligkei­ten zu verringern.

Schaut euch das also mal genauer an, was ich damals schrieb:

Zen in der Kunst des Zuhörens

Verstehen und verstanden werden

(OT: Zen of Listening. Mindful communication in the age of dis­truction)

von Rebecca Z. Shafir

Ariston-Verlag, 2001

304 Seiten, PB

ISBN 3-7205-2207-5

Übersetzung von Ursula Bischoff

Zen … eine Lehre der Meditation, die im 13. Jahrhundert nach Japan gelangte, japanisches Gepräge annahm und das Geistes­leben der Japaner entscheidend beeinflusste. Für die Z.-Sekten sind Gebet, Kult und das Studium der heiligen Schriften von minderer Bedeutung. Wesentlich ist die Übung der Kontemplati­on, die zu mystischer Versenkung und intuitiver Erleuchtung führt …“

So spricht das Lexikon beim Stichwort Zen-Buddhismus. Also eine fernostasiatische Lehre der Selbstversenkung und, wenn man so will, des Ausklinkens aus der Wirklichkeit. Hat dies nun mehr mit Freizeit zu tun oder mit dem harten Berufsalltag in Deutschland oder Amerika? Letzteres lässt sich irgendwie schwer fassen, nicht zuletzt deshalb muss der Titel des Buches auch zunächst stutzig machen.

Die Autorin Rebecca Z. Shafir ist Leiterin der Sektion Sprach-Pa­thologie an der Lahey Clinic in Burlington in den USA, die unter anderem auch als Stimmberaterin für Medienmitarbeiter, Mana­ger und Politiker arbeitet. Außerdem bietet sie seit Jahren Work­shops und Lesungen über Zen und Zuhören an. Und sie hat die­ses Buch aus einem tiefen Verlangen heraus geschrieben, ihren Mitmenschen zu helfen, das merkt man immer wieder, wenn man aufmerksam liest.

Ihr Ansatzpunkt, Zen, die Kunst des Zuhörens und unser Alltags- und Berufsleben miteinander zu verkoppeln, ist ganz simpel, so einfach vielleicht, dass man von selbst nicht darauf kommt: „Aufmerksames Zuhören ist nicht nur im Verhältnis Arzt-Patient, sondern in jedem erfolgreichen Unternehmen wesentlich, und zwar seitens aller Beteiligten. In sämtlichen Branchen und be­sonders in den häuslichen vier Wänden ist eine effektive Kom­munikation die beste Medizin, Konflikte beizulegen und gut mit anderen auszukommen.“

Sacken lassen.

So, verinnerlicht? Dann weiter: „Wenn das Selbstwertgefühl lan­ge Zeit im Argen liegt, sind Leistungsdefizite am Arbeitsplatz und zerrüttete Familienverhältnisse die Folge, während die Un­fähigkeit, aufmerksam zuzuhören, an die nächste Generation weitergegeben wird.“

Fühlt sich irgendwer von den Lesern angesprochen? Gut so.

Genießt einen kleinen, von Shafir eingestreuten Bonmot, den man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen kann. Er kommt von Henry David Thoreau, dem Autor von „Walden Pond“, und er meinte im 19. Jahrhundert: „Das größte Kompli­ment habe ich erhalten, als mich jemand nach meiner Meinung gefragt und aufmerksam zugehört hat.“

Nicht wahr, das ist selten? Beiläufig zuhören, das ist in Zeiten der ständigen Reizüberflutung kein Problem. Aber ebenso rasch, wie man sie gehört hat, sind auch die Informationen des Gehör­ten wieder aus dem Sinn entschwunden. Statt dann nachzufra­gen (meistens ist dem Zuhörer so etwas peinlich – man müsste damit ja eingestehen, nicht gut genug gelauscht zu haben), wird häufig mühsam im Geiste rekonstruiert, was gesagt wurde. Dadurch tritt eine Meinung an die Stelle der Wahrheit. Und wie schrieb schon der römische Philosoph Epiktet vor fast 2000 Jah­ren? „Der Mensch erregt sich nicht durch eine Angelegenheit, sondern durch seine Meinung über eine Angelegenheit (Hervor­hebung UL).“

Dies erlebt man alltäglich, wenn man mit anderen Personen über Dinge diskutiert, die man selbst nicht erlebt hat, sondern jetzt nur aus zweiter Hand hört. Die Empörung ist da schnell un­sichtbarer Gast, und in ihrem Gefolge wandeln Missverständnis, Zorn und Erbitterung. Meistens völlig zu Unrecht. Weil man nicht richtig und konsequent zuhört. Weil man es nicht gelernt hat. Weil der innere Monolog das Zuhören blockiert.

Rebecca Shafir merkte eines Tages während ihrer medizinischen Tätigkeit, dass sie enormen Stress am Arbeitsplatz empfand, dass die Leute, die sie beriet, irgendwie mit ihrer Betreuung nicht zufrieden waren, aber nicht zu sagen verstanden, weshalb nicht. Infolgedessen fühlte sich die Autorin ausgebrannt, über­fordert, irgendwie als Versagerin. Der Stress am Arbeitsplatz nahm zu, die Frustration trug sie mit in die Familie … erst spät entsann sie sich eines Hinweises ihres Lieblingsprofessors am College, der einst gesagt hatte: „Wenn Sie nicht in Erfahrung bringen, wer der Patient ist (biografischer Hintergrund, Erwar­tungshaltungen usw.), können Sie ihn weder verstehen noch da­mit rechnen, dass er Ihrem Rat vertraut.“

Man muss also die Warum-Frage stellen. Warum benimmt sich mein Kunde so? Warum ist mein Gegenüber unzufrieden? War­um ist das Vorstellungsgespräch gescheitert? Und so weiter. Am besten sollte man sich diese Warum-Fragen im Vorfeld stellen, um Misserfolge zu vermeiden.

Schließlich fand Shafir Zugang zu Zen-Kursen, begann mit Atemmeditationen, um selbst ruhiger zu werden, und sie arbei­tete sich geduldig durch Ratgeberliteratur. Und irgendwann wirkte sich das auf ihre Arbeit aus: Menschen kamen und gin­gen hoch befriedigt wieder, obgleich Shafir ihnen kaum etwas Substantielles sagen konnte. Was hatte sich geändert?

Sie hatte ihnen intensiv und mit voller Aufmerksamkeit zuge­hört, sich „in den Film des Gegenüber eingeblendet“. Und die Patienten spürten das. Sie öffneten ihre Herzen und Seelen und sprachen all das aus, was sie sonst niemandem anvertrauen konnten, weil in der Familie, in der Partnerschaft oder im Betrieb stets nur Leerfloskeln kamen, die unterschwellig signalisierten: Ich bin nicht an deinen Problemen interessiert. Ich habe selbst genug davon. Lass mich doch in Frieden und rede nur über die jetzt gerade für die Arbeit notwendigen Dinge. Punkt.

Viele Menschen reagieren so, achtet mal darauf. Wenn man erst einmal die Augen dafür geöffnet bekommen hat, sieht man vie­le Dinge und viele Menschen aus ganz anderen Blickwinkeln. Aufmerksames Zuhören, lernte Rebecca Shafir auf diese Weise, ist ein rares Gut in dieser Welt, und sein Wert ist arg unter­schätzt.

Sie begann sich zu fragen, woran das wohl liegen könnte und suchte nach Ratgeberliteratur für diese spezielle Frage. Mit zu­nehmender Verwirrung stellte sie fest, dass es so gut wie nichts dazu gab. Zuhören, so resümierte sie (auch in diesem Buch), schien allgemein für eine Fähigkeit gehalten zu werden, die man im Kindesalter erlernte und danach quasi nicht mehr zu schulen brauchte. Aber sie erkannte ebenso, dass das ein Irrtum war.

Im Kindesalter erlernt der Mensch insbesondere gewisse innere Barrieren und Automatismen. Durch falsche Kommunikations­strategien werden Kinder durch Gleichaltrige, besonders aber durch Eltern und Lehrer so trainiert, dass sie die falsche (selekti­ve) Art des Zuhörens lernen.

Dabei wird zusammen mit dem Zuhören auch eine falsche Form des Selbstwertgefühls „programmiert“. Man hat instinktiv Angst vor den Werturteilen der anderen, man empfindet sich als Ver­sager, wenn jemand feststellt, dass man nicht zugehört hat, man fühlt sich blamiert, das Selbstwertgefühl erleidet dabei ständigen Schaden. Die Bereitschaft, offen zu reden und sich nicht hinter Halbwahrheiten oder Lügen zu verschanzen, nimmt dramatisch ab. Wenn jeder so reagiert, so sagt sich das Unter­bewusstsein, warum soll man selbst dann offen und ehrlich sein? Das sei doch nur von Nachteil.

Auf diese Weise schafft man aber durch fortgesetzte Unehrlich­keit sich selbst und der Welt gegenüber ein endemisches Stress­potential und einen unnötigen Erfolgsdruck, der in persönlichen Krisen katastrophale Ergebnisse zeitigen kann. Das kann bis zum Selbstmord führen.

Konsequent entwickelt Shafir darum in diesem Buch in 12 Kapi­teln eine Strategie, diese frühe mentale Programmierung lang­sam zu verändern und dadurch mehr Lebensqualität zu gewin­nen.

Im ersten Kapitel erläutert sie die mentalen Voraussetzungen für gutes Zuhören, dann lässt sie den Leser testen, wie gut er zuhören kann (hier kann man gut erschrecken!), definiert „die hohen Mauern des Missverständnisses“ und taucht dann ein in Gespräche und Diskussionen, bei denen man sich wirklich manchmal „im falschen Film“ wähnt. Fast sechzig Seiten lang beschreibt die Autorin, wie man „sich selbst zuhört“. Man lernt eine Menge über seinen eigenen intuitiven Reaktionsstil und seine Vor- und Nachteile (glaubt mir, die Nachteile überwiegen meistens, eigene Diagnose!).

Dann geht es ans Eingemachte: Unter Stress zuhören, bei Strei­tigkeiten die Ruhe bewahren, Panikattacken auslösende Mee­tings und Vorträge überstehen … alles durchaus nicht unmög­lich, wenn man die Sache recht gründlich vorher durchdenkt, Shafirs Ratschläge beherzigt, vielleicht Meditationsübungen durchführt und sich klarmacht, wer das Gegenüber ist und wie er oder sie „tickt“, welche Erwartungshaltung man annehmen muss, um Erfolg im Gespräch zu haben.

Dabei ist intensives, gutes Zuhören keine One-Man-Show. Es geht hier nicht um Aufwertung des eigenen Egos, das ist allen­falls ein nützlicher Nebeneffekt. Shafir erklärt auch gut, wie man anderen helfen kann, aufmerksam zuzuhören. Sie geht auf empirisch belegte, medizinische Befunde ein, wie achtsames Zuhören die Gesundheit, sowohl die physische wie die psychi­sche, verbessert. Und gegen Ende hat sie noch mal einen richti­gen Hammer parat, den ich auch aus eigenem Erleben der letz­ten Jahre bestätigen kann. Es geht um die zunehmende Diskus­sion via Internet.

Viele Menschen glauben ja ernstlich, die Kommunikation via E-Mail und das Aufhalten in Chatrooms würde eine angemessene Synthetisierung normaler brieflicher, telefonischer oder persön­licher Interaktion sein. Das ist ein Irrtum, Leute. Verabschiedet euch davon. Schaut euch das mal an:

Nach einem anstrengenden Arbeitstag glauben Sie vielleicht, dass es Ihrer Gesundheit förderlich ist, sich abends in den eige­nen vier Wänden einzuigeln, um endlich Ruhe zu haben. Sind Sie sicher?

1998 untersuchten Wissenschaftler der Carnegie Mellon Uni­versity die psychosozialen Auswirkungen des Internet-Surfens in Privathaushalten. 169 Internet-Benutzer füllten einen Frage­bogen aus, der Aufschluss über ihre psychologische Gesundheit und das Ausmaß ihrer Depression und Einsamkeit gab.

Man könnte meinen, dass Internet-Benutzer glücklicher sind als andere, weil sie via Chat-Ecken, MBS (Mailbox-Systeme) und E-Mail kommunizieren. Doch die Forscher stellten fest, dass sozia­le und psychologische Aspekte dabei zu kurz kamen. Sie stell­ten die Hypothese auf, dass Cyberspace-Beziehungen nicht die gleiche psychologische Unterstützung und Zufriedenheit bieten wie Kontakte im wirklichen Leben. Professor Robert Kraut erklär­te: ‚Wir gehen davon aus, dass man häufiger oberflächliche Be­ziehungen entwickelt, die in einem allgemeinen Rückgang der Sozialkontakte zu anderen Menschen resultieren.’“1

Unangenehm? Nun, die Schlussfolgerung ist sehr realistisch, aus einem Grund, den Shafir ausführlich in diesem Buch erklärt.

Kurz gefasst resümiert sie: „Dieses Medium [Internet, UL] ist in der Lage, Botschaften schnell, billig und zuverlässig zu übermit­teln. Die Frage ist, welche Botschaften. Erinnern Sie sich, dass nur sieben Prozent des Gedankeninhalts verbal übermittelt wer­den? 93 Prozent dessen, was ein Mensch zum Ausdruck brin­gen will, werden von seinem Gesprächspartner aus Gesten, Tonfall und Mimik abgeleitet. Da durch E-Mail und Chat-Geplau­der ein Großteil dieser nonverbalen Kommunikation verloren geht, programmieren wir Missverständnisse und Misstrauen in einem nie gekannten Ausmaß.

Könnte der Mangel an persönlichen Interaktionen in Echt-Zeit ein emotionales Fallout erzeugen, das unsere Lebensdauer ver­kürzt? Laufen wir Gefahr zu vergessen, wie man bedeutungsvol­le Beziehungen zu Familienangehörigen herstellt und Freund­schaften außerhalb des Internet schließt? Wäre es möglich, dass die Fähigkeit, zwischenmenschliche Kontakte herzustellen, zusehends verkümmert oder uns vollkommen abhanden kommt …? [Betonungen im Originaltext enthalten. UL]“

Unbequeme Gedanken?

Eingedenk der Diskussion um ein eskalierendes SFCBWler-Internet-Forum und dort um sich greifende Missverständnisse und allseitiges Misstrauen scheint es sehr sinnvoll zu sein, sol­che Gedanken einmal auszusprechen und auf die (vielleicht) krankhafte Verarmung der Kommunikation in diesem Milieu hin­zuweisen.2

Doch das ist eine Randweisheit in diesem sehr lesenswerten Buch. Wer es nachdenklich, langsam und eindringlich liest, wird eine Menge mehr mitbekommen von dem, was in ihm innere Barrieren aufrichtet und die Kommunikation mit der Welt behin­dert. Vieles steht hier zu lesen über Hierarchiedenken, Status­denken, Vorurteile, Meinungen statt Wissen … es lohnt sich, Shafirs Buch zu lesen und jede Menge Anstreichungen zu ma­chen. Ich behaupte, diese paar hundert Seiten gehören zum un­erlässlichen Rüstzeug für jeden, der Schwierigkeiten in der Fir­ma, im Berufsleben insgesamt, im Privatleben oder mit dem an­deren Geschlecht hat.

Hm, klingt nach einem allseitigen Ratgeber, was? Ein Buch, das jeder im Regal haben sollte. Schaut einfach mal nach, ob das stimmt. Es ist in jedem Fall gut investiertes Geld.

© 2004 by Uwe Lammers

Ja, ein denkwürdiges Buch, wahrhaftig. Ersetzt im Extremfall eine ganze Bibliothek psychologischer Ratgeber, wenn man vie­les von dem, was darin steht, beherzigt. Ich sagte ja, ein wichti­ges Werk – in der kommenden Woche kommen wir zu etwas, das ich zwar auch rezensierte, von dem ich aber inzwischen nicht mehr so überzeugt bin.

Lasst euch mal überraschen, wovon ich dann rede.

Bis bald, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Auch wenn mir persönlich die Datenerhebungsgrundlage von 169 Menschen viel zu gering ist, scheint die Tendenz dieser Auswertung doch schon beunruhigend genug zu sein, um ein wenig genauer darüber nachzudenken.

2 Anmerkung von 2022: Dies bezieht sich auf die Entstehungszeit der Rezension und den Science Fiction-Club Baden-Württemberg (SFCBW), in dem damals eine durchaus krisenhafte kommunikative Stimmung gab.

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