Rezensions-Blog 88: Familientreffen

Posted November 29th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ich glaube, es ist keine Überraschung für regelmäßige Leser dieses literarischen Blogs, wenn ich an dieser Stelle wieder mal bekenne, ein Verehrer von Ray Bradbury zu sein. Aktuell entdecke ich eines seiner berühmtesten Werke – „Die Mars-Chroniken“ – und bin einfach hingerissen… ihr werdet beizeiten an die­ser Stelle sehen, wie sich das in einer unumgänglichen Rezension ausprägt.

Heute möchte ich euch, wie schon verschiedentlich, Bradburys Kurzgeschichten ans Herz legen, von denen es zahlreiche schöne Ausgaben in deutscher Über­setzung gibt. Es ist mir nicht bekannt, ob es, wie beispielsweise von Patricia Highsmith, auch eine Bradbury-Gesamtausgabe gibt… aber sie wäre zweifelsoh­ne ein literarischer Leckerbissen, der jeden investierten Euro wert sein würde. Was es freilich gibt – ich erwarb das Buch auf dem DortCon 2013 – , das ist Hardy Kettlitz´ Bradbury-Biografie1, die auch noch meines hungrigen Auges harrt. Und wenn sie nur halb so gut gelungen ist wie die Werke des Meisters selbst, dann wird sie gewiss auch rezensiert.

Dass manche Bücher einfach genügend lange in Regalen oder Schränken ab­lagern müssen – wobei sie ein wenig mit gehaltvollem Qualitätswein gemein haben, von dem ich aber, zugegeben, wenig verstehe – , zeugt im Einzelfall von ihrer Qualität. Auf solche Weise kann man relativ gut, Geduld vorausgesetzt, die Spreu vom Weizen scheiden. Qualität von hastig heruntergekurbelter Ge­schwindigkeitsware, die den Trends der Zeit nachhechelt und in fünf Jahren in der Vergessenheit versunken ist.

Zu Bradburys Zeiten war Schriftstellerei noch hochwertige, langfristig auf Be­stand angelegte Arbeit, durchweg harte Arbeit, doch ebenso tiefes, inniges Ver­gnügen, wenn eine Geschichte endlich den letzten Schliff bekommen hatte und ans Licht der Öffentlichkeit treten durfte.

Die in der folgenden Storysammlung vereinten Geschichten gehören zu denen, mit denen er die Welt beglückte. Schlagt die Seiten auf und lasst euch von den Werken verführen:

Familientreffen

(OT: The October Country)

von Ray Bradbury

Diogenes 21415

Zürich 1986

240 Seiten, TB

Preis damals: 9,80 DM

Phantastik aus den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts haftet nur zu leicht das Etikett an, vergilbt, altbacken und angestaubt zu sein… zweifellos gilt das für viele solche Geschichten mit Recht. Stammen sie doch aus einer Zeit der ungebrochenen Zukunftseuphorie, in der es von nuklear betriebenen Automo­bilen, fliegenden Häusern, mühelosen interstellaren Imperien und hochhaus­großen Raumschiffskreuzern nur so wimmelte. Ja, zweifelsohne ist vieles davon heutzutage eher befremdlich zu lesen, mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen der Nachgeborenen, vom Stil der damaligen Zeit wollen wir mal gar nicht reden.

Und dann gibt es Ausnahmen.

Ray Bradbury war eine solche Ausnahme. Er starb, hoch betagt, erst im Juni 2012, mehr als neunzig Jahre nach seiner Geburt. Und fürwahr, dieser Mann, der Literatur verschlang, als wäre es Fastfood, und der fast im gleichen Tempo selbst Literatur produzierte, in unendlich vielfältiger Form, er war schon mit Ende 20 ein Autor, der genau wusste: es sind nicht die exaltierten, verrückten Ideen, die für den Moment begeistern, diejenigen, die letztlich von Dauer sind. Nein, jene Werke sind es, die auf den ersten Blick vielleicht seltsam, abseitig und ungewöhnlich wirken, aber im tiefsten Innern von MENSCHEN handeln (oder von Geschöpfen, die zumindest menschenähnlich sind). Werke, die sich stilistisch auf ungewohnte Weise vom Mainstream abheben.

Er wusste, dass man viel Unterschiedliches lesen musste, dass man eine tiefe Seele zu entwickeln hatte, wenn man wirklich Geschichten schaffen wollte, die von zeitloser Dauer sind. Bradbury besaß den weiten Horizont dafür, die Bele­senheit und die quecksilbrige Seele, die leicht entflammbare Phantasie, die da­für vonnöten war. Und er lebte in aufregenden Zeiten, die den Stoff für Ge­schichten an jeder Ecke anboten.

Da gab es die weiten Kornfelder des Mittleren Westens, es gab die getriebenen Existenzen der 30er Jahre, als die auf das Jahr 1929 folgende Wirtschaftsde­pression Hunderttausende entwurzelte und durchs Land trieb (unter anderem seine Eltern und ihn huckepack). Zugleich war es eine Zeit des stürmischen Fort­schritts, ständig pochte der Herzschlag der technischen Moderne und stieß be­ständig zu neuen Gipfeln vor. Die weißen Flecken auf den Landkarten lösten sich erforscht in Nichts auf. Kämpferische Ideologien rangen um die Weltherrschaft, dann wurden die Kräfte des Atoms entfesselt, der Wettlauf zum Mond packte die Menschheit…

Fürwahr, stürmische Zeiten für Phantasten wie Ray Bradbury.

Und er schrieb und schrieb und schrieb.

Die in diesem Band zusammengefassten dreizehn Erzählungen stammen aus den Jahren 1947 bis 1955, und wie einleitend gesagt, könnte man glauben, sie hätten uns heute nicht mehr viel zu sagen – ah, weit gefehlt, meine Freunde, wirklich, weit gefehlt. Ich gebe euch ein paar Schnupperhappen, die neugierig machen sollten.

Das Skelett – Da ist etwa der bemitleidenswerte Mr. Harris, glücklich verheira­tet, der Probleme mit seinen Knochen hat, die er nicht versteht. Sie schmerzen ihn. Sein Hausarzt, Dr. Burleigh, stuft ihn deshalb als Hypochonder ein… aber die Schmerzen nehmen zu, geradezu pathologisch stark. Mr. Harris´ Nerven sind angegriffen. Vielleicht sollte er doch einen Spezialisten hinzuziehen? Da kommt ihm der rätselhafte Dr. Munigant ganz recht, der sich besonders mit Knochen beschäftigt. Sehr intensiv sogar…

Das Glas – Jahrmärkte sind immer für amerikanische Bürger Quellen von Über­raschungen und wohligem Grusel. So geht es auch Charlie, als er dort bei einem Schausteller ein großes Glas mit Konservierungsflüssigkeit entdeckt, in dem ir­gendetwas Unheimliches schwimmt… er kann nicht exakt sagen, was es ist, aber es zieht ihn magisch an. Durch glückliche Umstände (na ja, vielleicht) kann er es tatsächlich erwerben und bei sich dann zum Grusel seiner Freunde zur Schau stellen. Es gibt nur eine Person, die das ausnehmend grässlich findet, und das ist seine Frau Thedy… und das führt zu schaurigen Konsequenzen…

Die Reisende – Cecy ist ein seltsames Mädchen in einer vielleicht noch eigenar­tigeren Familie. Während die meisten Angehörigen der Sippe sich tagsüber in den Keller in ihre Mahagonisärge zurückziehen, ist Cecy deutlich anders. Sie schläft die ganze Nacht, frühstückt, und danach liegt sie den gesamten Tag auf dem Bett und scheint überhaupt nichts zu tun… aber dieser Eindruck täuscht auf furchtbare Weise. Besonders schlimm bekommt das Onkel Jonn zu spüren, als er dabei ist, die Sippe zu verraten…

Die Sense – Eigentlich ist es ein Glücksfall, dass ihnen das Benzin ausgeht, gera­de als das einsame Farmhaus auftaucht. Drew Erickson und seine Frau Molly so­wie die Kinder gehören zu den entwurzelten Existenzen auf dem Weg gen Wes­ten, die durch die Wirtschaftskrise den Boden unter den Füßen verloren haben. Und nun ist da dieses Haus mit vollen Vorratsräumen, einem gewaltigen, präch­tigen Weizenfeld direkt vor der Tür… und einem friedlich still gestorbenen alten Mann im Schlafzimmer, der dem Finder seines Körpers dies alles vermacht.

Ein Glückstraum? Vielleicht. Jedenfalls scheint es so. Wäre da nicht die Ver­pflichtung, das Weizenfeld zu ernten, täglich die Sense zu schwingen. Und es scheint auch kein normaler Weizen zu sein, denn das gemähte Getreide verfault quasi auf der Stelle. Und der abgeschnittene Weizen sprießt sogleich wieder grün empor.

Als Drew Erickson herausfindet, was für eine Aufgabe sich wahrhaftig mit der Sense verbindet, ist es längst zu spät…

Es war einmal eine alte Frau – Tante Tildy ist eigensinnig. Natürlich ist sie alt, und sie hat nie geheiratet. Wie sie nicht müde wird zu betonen, hat sie das des­halb getan, um nicht zusehen zu müssen, wie ihr einfach so der Ehemann wegstirbt. Sie glaubt einfach nicht an den Tod und denkt nicht daran, irgend­wann so zu sterben.

Doch dann ist da auf einmal dieser schweigsame, junge Mann, und bei ihm sind die vier Träger mit diesem großen Weidenkorb, und sie befinden sich in Tante Tildys Wohnzimmer. Sie denkt gleichwohl nicht daran, aufzugeben, als ihr klar wird, warum sie wohl hier sind… und wie gesagt, Tante Tildy kann sehr, sehr ei­gensinnig sein…

Der wunderbare Tod des Dudley Stone – Ernest Hemingway nahm die Büchse und pustete sich das Lebenslicht aus. F. Scott Fitzgerald wurde durch den Alko­hol ruiniert. Der Erste Weltkrieg mähte reihenweise Literaten dahin oder trau­matisierte sie so sehr, dass sie nicht mehr zu schreiben vermochten. Aber was, zum Teufel noch mal, passierte mit Dudley Stone? Seine in die Jahre gekomme­nen Leser und Fans wissen eigentlich nur, dass er vor rund 25 Jahren schlagartig verkündete, er werde aufhören zu schreiben. Sein letztes Schreiben lautete: „Sehr geehrte Herren! Heute, im Alter von dreißig Jahren, trete ich von der Büh­ne ab, gebe das Schreiben auf, verbrenne alles, was mir teuer ist, werfe mein letztes Manuskript auf den Müll, rufe Ihnen meinen Gruß und mein Lebewohl zu.“

Ja, und das war es. Aber warum? Weshalb? Das nächste seiner Bücher wäre das beste überhaupt geworden, sagten selbst seine Agenten. Aber ist er nun leben­dig oder tot?

Im Auftrag der Stone-Fans nimmt Mr. Douglas den Auftrag an und reist an die Küste, um Stone ausfindig zu machen, den rätselhaften Literaten – tja, und dann steht er tatsächlich da am Bahnsteig, der „tote“ Dudley Stone, und er hat eine unglaubliche Geschichte davon zu erzählen, wie man tot sein kann und doch wieder nicht…

Fürwahr, viele dieser Geschichten sind faszinierende stilistische Vignetten, Kleinodien mit tiefen Weisheiten darin, nicht zuletzt die eben noch genannte Dudley Stone-Geschichte, an der sich so mancher Literat der Gegenwart viel­leicht ein Beispiel nehmen könnte. Und Geschichten wie „Die Sense“ sind auch heute noch so grausig, dass es dem Leser kalt über den Rücken läuft.

Lasst euch nicht von dem dämlichen Titelbild irre machen, das echt nicht gelun­gen ist. Lasst euch von dem Namen Ray Bradburys verzaubern und von seinen Geschichten. Vergesst das Alter der Werke, genießt einfach.

© by Uwe Lammers 2014

Ja, das ist schon ein höchst einfallsreicher Mann mit quecksilbrigem Verstand gewesen, der gute Ray Bradbury – und ich freue mich sehr, dass ich noch lange nicht alle seine Geschichten und Romane gelesen habe. So gibt es vieles, auf das ich mich noch zu freuen vermag. Und ich hege keinen Zweifel daran, dass die Werke, die ich noch nicht kenne, von einem ebensolchen Fluidum der Zeit­losigkeit durchströmt sind wie jene, die mir schon bekannt wurden.

In der kommenden Woche gehen wir einige Jahrzehnte in der Zeit zurück, in eine finstere Epoche des vergangenen 20. Jahrhunderts. Und anhand des Be­richts einer Zeitzeugin können wir sie durchleben, zur ewigen Mahnung des Vergangenen und Warnung des Zukünftigen.

Das solltet ihr nicht versäumen!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1Vgl. Hardy Kettlitz: Ray Bradbury. Poet des Raketenzeitalters, SF Personality 24, Shayol, Berlin 2013.

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