Wochen-Blog 136: Schreibtraining

Posted Oktober 11th, 2015 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

der Beruf eines Schriftstellers ist doch für jemanden, der mehrheitlich „nur“ Le­ser ist – dies ist keine Herabstufung, sondern lediglich eine Einschränkung, die mir aktuell die Gedankensortierung erleichtert – , vermutlich ein sehr fremdes Phänomen. Wie leicht denkt man als Leser wohl, dass die Majorität der Schrift­steller die Anstrengung des Schreibens auf sich nimmt, um… ja, was zu errei­chen? Reich zu werden? Berühmt zu sein? Ewigen Ruhm zu erwerben?

Vielleicht, solche Schriftsteller gibt es zweifelsohne.

Nun, zu dieser Sorte Literat zähle ich mich nicht. Ich komme gewissermaßen vom anderen Ufer, von den Gestaden der Idealisten. Und diese Leute sind noch seltsamer, noch unbegreiflicher als die obigen, die man wenigstens nachvollzie­hen kann. Die obigen Literaten schreiben, um ihre Rechnungen zu bezahlen, ihre Recherchereisen für die nächsten Romane, um ihr Bankkonto zu füllen.

Begreiflich, wie gesagt.

Wie verhält es sich mit den Idealisten wie mir? Natürlich wäre es mir auch lieb, wenn ich mit dem Schreiben hinreichend Geld verdiente, um davon mein Leben zu bestreiten. Danach sieht es allerdings gegenwärtig noch nicht aus. Leute, die der obigen Lebensanschauung zuneigten, würden vielleicht jetzt die Flinte ins Korn werfen und sagen: Okay, ich kann zwar schreiben, aber wohl nicht allzu gut, also lasse ich’s bleiben und suche mir einen anständigen Job, vielleicht an der Bandstraße der Automobilproduktion, wo ich mit stumpfsinniger Arbeit we­nigstens hinreichend Geld scheffeln kann. Oder such mir einen anderen Job, sa­gen wir, hinter einer Supermarktkasse oder beim Zeitungsaustragen oder als Ta­xifahrer…

Es gibt wahrlich genug Wahlmöglichkeiten, nicht wahr?

Tja, aber dem steht etwas wie ein sperriger Steinklotz im Weg, und das ist der idealistische Grundimpuls jener Art, der mich umtreibt. Für Idealisten wie mich ist das Schreiben nicht nur ein Weg, Geld zu machen, bekannt zu werden, be­rühmt womöglich… für mich ist das ein Grundbedürfnis, das es zu befriedigen gilt wie Essen, Trinken, Schlafen und Lesen. Am besten hat das ein alter Seelenverwandter von mir ausgedrückt, über den ich in meinem allerersten Rezensions-Blog am 1. April 2015 geschrieben habe, den ich immer noch zur Lektüre empfehlen kann: Ray Bradbury. Lassen wir ihn zu Wort kommen:

Ich habe auf Reisen die Erfahrung gemacht, dass ich mich unwohl fühle, wenn ich einen Tag vergehen lasse, ohne zu schreiben. Nach zwei Tagen beginne ich zu zittern. Drei, und ich vermute Wahnsinn. Vier, und ich könnte ebenso gut ein Wildschwein sein, das sich im Schlamm suhlt. Eine Stunde Schreiben wirkt stär­kend wie ein Kräftigungsmittel. Ich bin auf den Füßen, laufe im Kreis umher und brülle nach einem sauberen Paar Socken…“

Er beschreibt das Schreiben als eine Form von Rausch, und er sagt weiter: „Blei­ben Sie berauscht vom Schreiben, damit die Realität Sie nicht vernichten kann. Denn das Schreiben liefert Ihnen die richtigen Rezepte für die Wahrheit, für das Leben, die Wirklichkeit – so natürlich, wie Sie essen, trinken und verdauen, ohne dabei in Ihrem Bett nach Luft zu schnappen und wie ein Fisch auf dem Tro­ckenen herumzuzappeln…“

Selbst wenn wir davon ausgehen, dass Bradbury an dieser Stelle ein wenig iro­nisch übertreibt – es steckt mehr als nur ein Gran Wahrheit in diesen Zeilen. Ich weiß es aus eigenem Erleben. Und wenn er die Geschichte vom Pianisten an­bringt, so steckt auch darin eine wichtige Erkenntnis:

Wenn ich einen Tag nicht übe, merke ich es, wenn ich zwei Tage nicht übe, mer­ken meine Kritiker es, und wenn ich drei Tage nicht übe, merkt mein Publikum es.“

Etwas zu drastisch? Vielleicht. Aber die Übertreibung geht nicht sehr weit, finde ich. Ich merke es aktuell gerade auf wunderbare, ja, berauschende Weise (De­tails dazu in fünf Wochen im Wochen-Blog 141).

Es ist schon seit Jahrzehnten ein tief verwurzeltes Gefühl in mir, dass ein Tag, an dem ich nichts schreiben konnte, weil ich anderweitig abgelenkt war, ein verlo­rener Tag für meine Kreativität ist. Lange bevor ich im August 2012 Ray Bradbu­rys Buch „Zen in der Kunst des Schreibens“, aus dem ich eben zitierte, erwarb und binnen kürzester Zeit verschlang, lange zuvor schon war es meine feste Überzeugung, dass stetes Training die beste Methode sein würde, um mein Ge­spür für die Sprache, für die Wortmelodien, für die tieferen Verflechtungen von Satzzeichen, Formulierungen und Absätzen zu schärfen.

Man verstehe dieses Schreibtraining jetzt jedoch nicht so, wie es Dichter tun, das wäre ein Missverständnis, und hier möchte ich an dieser Stelle differenzie­ren: Dichter sind Menschen mit einem eher musikalischen Verständnis der menschlichen Sprache, für sie haben Texte eine gewisse Melodie, eine innere Harmonie und Symmetrie, die gebieterisch fordert, dass gewisse Etiketten und Grenzen eingehalten werden. Man merkt das beispielsweise bei den asiatischen Haikus, in denen strenger Formalismus und die Beschränkung auf sehr wenige Zeilen, sehr wenige, präzise gesetzte Worte Wert gelegt wird.

Während Dichter also eher Juweliere der Worte sind, würde ich die Romanciers und die Autoren, die mehr der Langform zuneigen – also Leute wie ich – als leb­haft sprudelnde und dahinschießende Wildbäche verstehen wollen, voller Ener­gie, Elan, unbändig strudelnd und mäandernd im weiten Feld der Worte. Wo die Dichter sich auf einen schmalen, edlen Pfad beschränken und strikteste Dis­ziplin walten lassen, wo sie gleich Bonsaigärtnern jeden Wildwuchs beschnei­den, um schließlich die reine, konzentrierte Essenz zurückzulassen, da neige ich eher dazu, mehr Worte zu machen.

Mein Schreibtraining, das ich mir tagtäglich angedeihen lasse, ist weniger ein Stutzen, ein Ringen nach erlesenen, exquisiten Formulierungen, es ähnelt viel­mehr dem, was Ray Bradbury einstmals tat – umfangreiche Wortlisten anlegen, aus dem Brunnen der Gedanken Worte schöpfen und sie in ständig wechselnde Formen unterschiedlichster Größe und Tiefe gießend.

Wer dies nur als Arbeit begreift, hat mich nicht verstanden.

Fragt doch einen Bildhauer, ob es ausschließlich Arbeit ist, eine Idee aus einem Marmorblock zu modellieren, bis er ein Kunstwerk vor sich hat, wie es die Welt noch nicht sah.

Fragt doch einen Musiker, der unablässig Noten aneinanderreiht, bis die Melo­die, die in seinem Verstand verführerisch säuselt und ihn nicht zum Schlaf kom­men lässt, endlich jene Gestalt gefunden hat, mit der er die Welt bezaubern kann.

Nein, das ist nicht nur harte Arbeit, das ist sehr viel mehr Erfüllung.

Und das stete Schreibtraining eines Literaten wie mir ist ganz dasselbe. Es ist tatsächlich für mich so, wie Ray Bradbury es geschrieben hat: „Wenn Sie ohne Leidenschaft, ohne Gusto, ohne Liebe, ohne Freude schreiben, sind Sie kein ech­ter Schriftsteller. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, ein Auge auf den kommerzi­ellen Markt zu werfen oder ein Ohr für erlesene Zirkel der Avantgarde zu haben, dass Sie nicht wirklich Sie selbst sind. Dass Sie sich selber gar nicht kennen. Denn was ein Autor zuallererst sein sollte, ist – erregt! Aus Fieber und Enthusi­asmus sollte er bestehen. Ohne solche Energie kann er eben so gut Pfirsiche pflücken oder Spargel stechen; Gott weiß, es wäre besser für seine Gesundheit…“

Ich denke, dies ist es wesentlich, was mich von den eingangs erwähnten Litera­ten unterscheidet, die tatsächlich mit der Intention schreiben, viel Geld zu ver­dienen oder berühmt zu werden. Der Elan. Die Tatsache, dass ich das Schreiben mit Liebe und Leidenschaft betreibe.

Nach wie vor fliegen mir die Ideen zu, umkreisen mich in mal nahen, mal fernen Orbits, und ich muss nur die Hand danach ausstrecken, um die glühenden Fun­ken neuer Geschichten zu erhaschen, Geschichten ohne Zahl… angefüllt mit le­bendigen, humorvollen, Furcht einflößenden Protagonisten, die mich auf Wel­ten oder in Zeiten und Dimensionen entführen, die ich niemals zuvor gesehen habe.

Schreiben ist Abenteuer.

Schreiben ist Leben schlechthin für den Idealisten.

Schreiben wie im Fieber, wie auf Bradburys Buch steht, ist für mich nicht nur eine leere Worthülse, sondern tagtägliche Realität, und es macht ein Mordsver­gnügen.

Das ist der Nebeneffekt des Schreibtrainings, wenn man es richtig macht und wenn man tatsächlich die richtige Person dafür ist – es ist in gewisser Weise wie eine Droge, die am Schreibtisch festhält, bis das Tageslicht draußen verblichen ist und man die Lampe anschalten muss, um überhaupt noch etwas zu erken­nen. Eine Droge wunderbarster Art, die selbst den Lockruf des Bettes übertönt, wenn die Bilder im Verstand aufblühen gleich exotischen Pflanzen, wenn man auf einmal wissen möchte, was hinter der nächsten Ecke lauert, um die noch nie ein Mensch zuvor geschaut hat.

Dies zu erschließen, dies niederzuschreiben und später moderat nachzuschlei­fen… und letztlich diese Werke auf euch, meine Leser, loszulassen… das ist der wahre Genuss des idealistischen, intuitiven Schriftstellers.

Es mag sein, dass damit nicht viel Geld verdient wird, vielleicht gar keins.

Das spielt nicht die entscheidende Rolle.

Wichtig ist es, zu wissen, dass diese Arbeit, die man gerne tut, getan wird. Dass die Werke entstehen, die man aus den Bergwerken seines Verstandes gleich ei­nem pfiffigen, findigen Mineur ans Tageslicht befördert, veredelt und dann letztlich als geschliffenes Schmuckstück präsentiert.

Nein, die Arbeit, die darin steckt, die seht ihr nur in den allerwenigsten Fällen. Und vielleicht gibt es Autoren, die müheloser und geschickter mit Worten um­gehen können… einerlei. Sie würden nicht die Worte finden, die ich finde. Sie sind nicht an meiner Stelle, haben nicht meine physischen, nicht meine meta­physischen Augen.

Diese Welten sehen kann nur ich selbst.

Und ich kann sie nur dann beschreiben, wenn ich regelmäßig mein Schreibtrai­ning fortsetze, sei es in diesen Blogartikeln, in Rezensionen, in Editorials oder Artikeln für Fanzines, sei es in E-Books oder Kurzgeschichten und Romanen, die ihr heute noch nicht zu sehen vermögt.

Vieles von dem, was im Rahmen solcher täglichen Schreibaktionen entsteht, werdet ihr vermutlich nie zu Gesicht bekommen – beispielsweise die zahllosen Privatbriefe, die ich schreibe und die eben genau dies sind: privat – , oder auch sehr lange Werke, für die ich gegenwärtig noch keine probate Möglichkeit der Veröffentlichung gefunden habe. Oder kommentierte Episoden des Oki Stanwer Mythos (OSM), die als Vorstufen für die spätere Ausarbeitung dienen. Einerlei… all dies zählt zu meinen tagtäglichen Schreibübungen.

All dies sorgt dafür, dass ich nicht einroste.

Und vor allen Dingen: ich tue das alles unendlich gern, es ist mir nicht Pflicht und Fron, sondern von Herzen angenehm. Wenn die Worte strömen, wie jetzt etwa, unter dem Einfluss inspirierender Musik (derzeit: Mike Oldfield – Music of the Spheres), dann genieße ich das Schreiben, ganz gleich, welcher Art.

Und dann sagen mir die inneren Bilder ganz von selbst, wie lang sie sich auf dem Papier respektive Bildschirm ausdehnen wollen. Wenn ich also hin und wieder betone, dass meine Geschichten so lang werden, wie sie es wollen, dann ist das kein Kokettieren, kein böswilliger Scherz auf eure Kosten, sondern die lautere Wahrheit.

Nun, und heute und an dieser Stelle war es mir ein Herzensbedürfnis, mal ein wenig über das Thema des Schreibens an sich zu philosophieren. Solche Launen überkommen mich bestimmt wieder, ich kann aber nicht sagen, wann… lasst euch davon einfach mal überraschen.

In der kommenden Woche reisen wir im Rahmen unserer Erörterungen zu den „Annalen der Ewigkeit“ zurück ins Jahr 1992 und direkt in eine Wüste. Was das genau bedeutet? Schaut einfach nach am 18. Oktober.

Bis dann, meine Freunde, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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