Rezensions-Blog 516: Sherlock Holmes und die Zeitmaschine

Posted Juli 8th, 2025 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ich schätze Sherlock Holmes außerordentlich, das sollte seit lan­gem bekannt sein, wenn ihr meinem Blog schon länger folgt. Und ich bin außerdem ein ausgesprochener Fan von Zeitreisege­schichten und kontrafaktischen Geschichtsverläufen. So sollte man recht eigentlich annehmen, dass ein Roman, der massive Überschneidungen beider Lieblingsgebiete zentral enthält, un­zweifelhaft zu meinem Lesegenuss führen müsste.

Im Grunde ist das korrekt, und wie ihr meiner unten wiederge­gebenen Rezension aus dem Jahre 2017 entnehmen könnt, habe ich auch durchaus positive Worte für die Geschichte ge­funden. Indes kam ich bei aller Kenntnis auch sehr ähnlicher Ge­schichten aus Film und Roman nicht umhin, dann ebenfalls kriti­sche Anmerkungen zu machen. Dies ist eben kein Schönwetter­blog, und wenn es etwas zu kritisieren gibt, nehme ich in der Regel kein Blatt vor den Mund.

So lautete also mein Fazit, dass es sich bei diesem Werk um eine eher durchschnittliche Geschichte handelte, die leider an vielen Stellen der Originalität entbehrte. Sie ist, wie gesagt, nicht ohne Reiz, aber es gibt halt doch energische Abstriche zu machen, wenn man gerecht bleiben möchte.

Dennoch, es bleibt natürlich ein Sherlock Holmes-Abenteuer, und in gewissem Maße ist es durchaus lesenswert, vielleicht so­gar lehrreich. Inwieweit ihr diesen meinen Standpunkt teilt, bleibt natürlich euch überlassen.

Am besten ist es sicher, ihr lest einfach weiter:

Sherlock Holmes und die Zeitmaschine

(OT: Sherlock Holmes and the Coils of Time)

von Ralph E. Vaughan

Blitz-Verlag 3001

Windeck 2012

208 Seiten, TB

ISBN 978-3-89840-323-8

Preis: 12,95 Euro

Aus dem Amerikanischen von Hans Gerwien und Andreas Schiffmann

Sherlock Holmes wird von den Epigonenautoren gern in unmög­liche Situationen gebracht, in die sein Erschaffer, der nachmali­ge Sir Arthur Conan Doyle, ihn zweifelsohne nie guten Gewis­sens geführt hätte. Das soll jetzt nicht bedeuten, dass solche Settings von vornherein zu verwerfen und die Intentionen nach­geborener Autoren, die im Sherlock Holmes-Kosmos tätig wer­den wollen, zu verurteilen wären. Ich wäre der Allerletzte, der dies täte, liegt doch in meinen Fragmentordnern auch eine be­gonnene Holmes-Geschichte, in der ich ihn in direkten Kontakt mit meiner eigenen kreativen Welt, dem Oki Stanwer Mythos (OSM) bringe.

Dennoch … es ist stets eine Gratwanderung, ein Sich-aus-dem-Fenster-Lehnen, und es kann schrecklich schiefgehen, wenn man als Verfasser die auktoriale Perspektive aus dem Blick ver­liert, wenn man vom „Standardpersonal“ abweicht bzw. ahistori­sche Protagonisten einführt oder eben leichtsinnig seiner eige­nen Phantasie die Zügel schießen lässt. Das ist ein waghalsiges Unterfangen, und nicht jeder ist sich darüber vollends im Klaren (was auch für die Verleger derartiger Geschichten gilt, weswe­gen es ja leider eine Vielzahl außerordentlich missratener oder sehr mittelmäßiger Holmes-Epigonen-Werke gibt).

Eine solche Gratwanderung hat also der amerikanische Autor Ralph E. Vaughan vollführt, indem er die vorliegende Geschichte erzählte. Er bringt hier – durchaus nicht ohne Raffinesse – den Holmes-Kosmos in Kontakt mit den phantastischen Erzählungen eines Herbert George Wells. Und hierum geht es im Detail:

Man schreibt Anfang April 1894, als ein Totgeglaubter wieder in Erscheinung tritt: Dr. John Watson fällt buchstäblich in Ohn­macht, als sich ein Mann in seinem Beinsein unvermittelt in den Detektiv Sherlock Holmes verwandelt, der drei Jahre zuvor in die Schweizer Reichenbachfälle gestürzt ist, augenscheinlich zu­sammen mit seinem Rivalen und Erzfeind Professor James Mori­arty, dem „Napoleon des Verbrechens“.1

Holmes ist zurück, aber er verhält sich höchst eigenartig, und dafür hat er auch allen Grund, denn es trachtet ihm jemand nach dem Leben – in einer raffinierten Finte bringt er jedoch den Attentäter zur Strecke: Oberst Sebastian Moran, den Vertrauten Moriartys, dem er erfolgreich die Urheberschaft an dem Mord an dem ehrenwerten Ronald Adair nachweisen kann.2

Doch kaum verabschiedet sich Holmes am Ende jenes Abenteu­ers wieder von seinem glücklichen Adlatus Watson – und damit sind wir am Beginn des vorliegenden Romans – , da fängt das eigentliche Abenteuer erst an. Denn in London verschwinden Menschen, und zwar ziemlich viele Menschen. Diskret, näch­tens, meist in den Armenvierteln der Stadt, aber schließlich löst sich auch William Dunning in Nichts auf, ein Verwandter von Sir Reginald Dunning, der Holmes inständig darum bittet, tätig zu werden. Der Detektiv beginnt folgerichtig zu ermitteln und stößt dabei nicht nur auf einen rätselhaften, gejagt wirkenden Frem­den, der vor seinen Nachstellungen flüchtet, sondern auch auf Inspektor Charles Kent von Scotland Yard, der seinerseits – in­offiziell – mit dem Dunning-Fall befasst ist.

Zusammen, und damit nimmt Kent die Watson-Rolle ein, ermit­teln sie fortan in einem zunehmend unglaubwürdiger werden­den Setting. Soll man tatsächlich annehmen, dass „blasse Geis­ter“ die Menschen von den Straßen wegfangen? Und was ist mit den abstrusen Theorien über Reisen durch die Zeit? Ist irgendet­was daran, dass die Gefahr aus der Zukunft stammen soll, die es ja bekanntlich noch gar nicht gibt? Erst, als Holmes dann ein leibhaftiger Zeitreisender schwer verletzt vor die Füße fällt, be­ginnt der Detektiv selbst an die ungeheuerliche Geschichte zu glauben: Ja, es gibt Zeitreisen. Und ja: in der fernen Zukunft existiert eine finstere Bedrohung der Menschheit, die sich an­schickt, gerade im viktorianischen London sesshaft zu werden. Niemand Geringeres als zeitreisende Morlocks sind dabei, die Erde der Vergangenheit zu kolonisieren und die Zukunft des Menschengeschlechts auszulöschen …

Wie schon gesagt, der amerikanische Verfasser begibt sich hier auf eine abenteuerliche Gratwanderung und Reise in den Ab­grund der Spekulation, in dem sich Sherlock Holmes eigentlich notorisch unbehaglich fühlen müsste, wo er doch das solide Fundament des festen Wissens verlassen muss, um sich in die windigen Abgründe des Was-wäre-wenn? und der spekulativen Abgründe des Möglichen und Unmöglichen zu verirren.

Dabei kann man als Leser attestieren, dass Vaughan seine Ba­sisliteratur gut kennt, eben die Ausgangsgeschichte um das „leere Haus“ ebenso wie H. G. Wells´ Klassiker „Die Zeitma­schine“. Ebenfalls gut eingefangen ist die Atmosphäre des düs­teren spätviktorianischen London und die etwas blasierte, vor­eingenommene und elitäre Weltsicht zahlreicher Protagonisten.

Die Sprache bereitete beim Lesen anfangs ein wenig Schwierig­keiten, was möglicherweise der Übersetzung geschuldet war – sie wird im Laufe des Buches deutlich besser und weniger zäh. Vielleicht ist das auf die Verteilung der Übersetzer zurückzufüh­ren. Bedauerlich ist es, dass der nur 190 Seiten lange Roman erst auf Seite 29 tatsächlich zu Sherlock Holmes überleitet. Der Klappentext verrät notorisch zuviel und zerstört, zumal für Le­ser, die die genannten Werke schon kennen, jede Menge Span­nung. Dass die Morlocks durchaus imstande sind, die Zeitma­schine des Zeitreisenden nachzubauen, nimmt dann allerdings nicht wunder – war doch schon bei Wells klar, dass die Morlocks die eigentlichen technischen Genies darstellten, Kannibalen hin oder her.

Schade war ab dem Moment, wo die Zeitmaschine dann tat­sächlich auftaucht, dass die Geschichte selbst völlig abhob … und mit der Einführung der Morlock-Königin, der zeitreisenden, entschwand dann die Glaubwürdigkeit der Story, der Holmes-Story (!) ziemlich brüsk.

Bedauerlich war auch, dass die Idee an sich nicht wirklich neu war. Unweigerlich kam hier nämlich die Erinnerung an einen Ki­nofilm auf, der Vaughan zweifelsohne ebenfalls bekannt war: „Star Trek 8: Der erste Kontakt“. Hier wie dort wird bei ei­ner vorher quasi asexuellen Gesellschaft – hie Borg, dort Mor­locks – unvermittelt eine „Königin“ in Stellung gebracht (jüngst übrigens dann auch bei „Independence Day 2“, und hie wie dort ist die Vernichtung der „Königin“ gleichbedeutend mit dem völligen Ausschalten der Bedrohung).

Ehrlich, ich hätte mir deutlich mehr Skepsis seitens von Sher­lock Holmes gewünscht. Und mir wäre es lieber gewesen, wenn er seinen treuen „Eckermann“ Watson mit seinem Revolver an seiner Seite gehabt hätte. Inspektor Kent war, mit Verlaub, doch kein annähernd adäquater Ersatz. Infolgedessen ließ sich das Buch zwar binnen von drei Tagen geschwind und durchaus un­terhaltsam auslesen, indes …

Ich betrachte es gleichwohl nur als recht mittelmäßiges Epigo­nenwerk und kann die Lektüre nur für ausgesprochene Holmsia­ner wirklich empfehlen … oder natürlich für all jene, die das Was-wäre-wenn schätzen und gern wissen möchten, nachdem sie Wells´ Klassiker mit Genuss goutiert haben, was wohl ge­schehen würde, wenn die Morlocks sich auf den Weg in die Ver­gangenheit machten. Aber da wäre ihnen sicherlich mit Stephen Baxters Roman „Zeitschiffe“ mehr gedient.3 Auch hier wandelt der Autor in den Fußstapfen von H. G. Wells, doch weitaus visio­närer, als es Vaughan jemals intendierte. Dafür hinwiederum entbehrt man bei Baxters Buch natürlich des legendären Detek­tivs und ebenso lebendiger Charaktere. Man kann eben nicht al­les haben, sondern ist als Leser unweigerlich zur Kompromissbil­dung gezwungen.

Welches der Bücher ihr euch als Gutenacht-Lektüre auf den Nachttisch legen mögt, solltet ihr also nach gründlicher Abwä­gung der Fakten entscheiden. Vielleicht waren meine obigen Worte dabei ein wenig hilfreich. Und wer weiß, vielleicht er­scheinen ja auch noch mehr Vaughan-Holmes-Romane bei Blitz. Denkbar zumindest ist es sicherlich. Lassen wir uns da mal überraschen.

© 2017 by Uwe Lammers

In der nächsten Woche reisen wir wieder in den Romankosmos von Clive Cussler und durchleben zusammen mit Juan Cabrillo und der OREGON-Crew ein neues temporeiches Abenteuer.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Vgl. Arthur Conan Doyle: „Sein letzter Fall“, veröffentlicht in The Strand, Dezember 1893.

2 Vgl. Arthur Conan Doyle: „Das leere Haus“, veröffentlicht in The Strand, Oktober 1903. Hier ist der Fall ebenfalls auf April datiert, was mit dem Beginn des vorliegenden Romans gut korreliert. In der Zeitlinie von Mike Ashley wird die Geschichte auf Februar 1894 rück­datiert. Vgl. dazu Mike Ashley (Hg.): „Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton“, Bas­tei-Lübbe 14916, Bergisch-Gladbach 2003, S. 731. 

3 Vgl. Stephen Baxter: „Zeitschiffe“, Heyne 1533, München 2002.

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