Rezensions-Blog 102: Dämmerung auf der Sechseck-Welt (5/E)

Posted März 8th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

auf zum sinnbildlich letzten Gefecht auf der legendären markovischen Sechs­eck-Welt, im Abschlussband von Jack L. Chalkers „Sechseck-Welt-Zyklus“. Das Ende des Universums droht, die gesamte Schöpfung steht auf dem Spiel, und Nathan Brazil scheint die einzige Person zu sein, die alles noch herumreißen kann.

Gleichwohl hatte ich gewisse Einwände gegen den abschließenden Teil der Ge­schichte, wie ihr unten sehen werdet. Ich vermag durchaus zu verstehen, warum dieser Band so schwierig in der Umsetzung war – meiner Überzeugung nach wollte sich Chalker noch nicht von dieser farbenprächtigen, barocken Welt trennen. Das ist immer eine schwierige Voraussetzung für das Ende eines Zy­klus.

In den 80er Jahren, als dieses Buch erschien, war ja üblicherweise in Romanzy­klen nach 3 Bänden Schluss. Solche Entwicklungen, wie sie später etwa bei Peter F. Hamilton eintraten oder anderen Autoren, die zahlreiche, ineinander übergehende und mehrteilige Romanzyklen schufen (man denke beispielsweise einfach mal an George R. R. Martin und sein „Game of Thrones“, wie es in der Fernsehserie genannt wird), solche Entwicklungen besaßen damals Seltenheits­charakter.

Schaut euch an, was Chalker aus dem Schlussband gemacht hat, und lasst euch von meinen kritischen Einwendungen nicht irritieren:

Dämmerung auf der Sechseck-Welt

(OT: Midnight at the Well of Souls)

von Jack L. Chalker

Goldmann 23804

320 Seiten, TB

Sommer 1981

Übersetzung von Tony Westermayr

Die letzte Auseinandersetzung auf der Sechseck-Welt, jener geheimnisvollen, zentralen und noch voll funktionsfähigen Markovierwelt, auf der in 1560 hexa­gonalen Habitaten genauso viele Rassen leben, leiden und sterben, geht in die entscheidende Phase:

Während der irdische Kom-Bund durch das Einsetzen der sogenannten Zinder-Vernichter, die eigentlich nur Materie in Energie transformieren sollten, in Wahrheit aber sowohl Raum als auch Materie vernichteten, allmählich an dem dadurch erzeugten Raumzeitriss zugrunde geht, stehen die Verbündeten von Mavra Chang vor scheinbar unüberwindlichen Problemen. Zwar ist es ihnen ge­lungen, den rätselhaften Nathan Brazil zu finden und sogar davon zu überzeu­gen, dass die einzige Möglichkeit, die bedrohte Sechseck-Welt, die durch den Raumzeitriss geschädigt wird, zu retten, die ist, den Schacht der Seelen dort zu reparieren. Aber Brazil hat ihnen auch klargemacht, was das bedeutet: der Computer im Schacht der Seelen hält das Universum, wie es bekannt ist, stabil. Wird er abgeschaltet, erlöschen alle Rassen außerhalb der Sechseck-Welt, alle Planeten und Galaxien, ja, sie haben NIEMALS EXISTIERT! Nur Wesen, die auf der Sechseck-Welt leben, sind davon, ungeachtet ihrer Herkunft, ausgenom­men.

Und Brazil kann es nicht ertragen, einen myriadenfachen Genozid zu begehen. Also hat er, da er sich den Argumenten des Superrechners Obie nicht ganz ver­schließen konnte, einen Ausweg gefunden: er wird sich zum Schacht begeben, aber er betritt ihn nicht alleine. Vielmehr muss jemand mitkommen, der IHN auffordert, den Schacht abzuschalten, und dieser Jemand muss damit die Ver­antwortung auf sich nehmen. Brazil sagt auch genau, an wen er denkt: an Mavra Chang, die ihn nicht ausstehen kann.

Das nächste Problem folgt auf den Fuß: durch den Ausfall von Obie müssen Bra­zil und seine Gefolgsleute, darunter Millionen Angehörige der Olympierinnen-Sekte, die ihn als GOTT verherrlichen und schier anbeten, über die alten Marko­vierplaneten zur Sechseck-Welt gelangen. Das heißt ferner, sie müssen den Schacht am Südpol durchqueren, das Zone-Tor. Und hier lebt nach wie vor der – innerhalb von Zone unsterbliche – Serge Ortega, der schon zweimal Gegner war, einmal, als Brazil das letzte Mal die Schachtwelt betrat (Band 1 des Zyklus), das zweite Mal, als Mavra Chang im Krieg auf der Sechseck-Welt mitkämpfte (Bände 2 und 3 des Zyklus). Sie hat ihm geschworen, ihn irgendwann einmal umzubringen…

Infolgedessen können sie nur inkognito auf die Schachtwelt. Das gelingt auch. Und Mavra erzählt Ortega davon, dass sich in kurzer Zeit die Bevölkerungszahl der Sechseck-Welt VERDOPPELN wird (was viele Ökosphären zum Einsturz bringt und Hysterie und Panik zur Folge hat). Ortegas Rolle ist nicht völlig klar, aber es sieht danach aus, als ob er mit aller Macht versucht, zu verhindern, dass Nathan Brazil den Schacht selbst erreicht. Er versucht allerdings auch, Massaker an den ankommenden Olympierinnen zu verhindern, was auch gut gelingt.

Brazil und seine engsten Mitstreiter kommen allerdings durch. Und sie sammeln Streitkräfte um sich, ziehen ganze Hexagone auf ihre Seite und versuchen dann, zum Äquator durchzubrechen, um pünktlich zur „Mitternacht am Schacht der Seelen“ zu sein. Denn nur, wenn sie das schaffen, wenn Brazil durchkommt, be­steht eine reelle Chance, dass das Universum neugeschaffen werden kann. Sonst nämlich wird der Schacht-Computer ausfallen, der Kosmos erlöschen, und alles, was existiert, wird die Sechseck-Welt alleine sein…

Im wesentlichen ist dieser Roman eine Weiterführung des letzten und eine strukturelle Wiederholung des zweiten Bandes „Krieg der Sechseck-Welt“. Den­noch gibt es eine Menge lustiger und verblüffender Wendungen, von denen nicht die schlechteste gleich zu Beginn steht:

Ein Trupp Morvath meldet, daß er eben eindeutig Nathan Brazil getötet hat“, sagte der Czillaner müde. Er ließ die Gliedmaßen hängen, und der kürbisartige Kopf erweckte ebenfalls den Eindruck der Erschöpfung.

Serge Ortega seufzte.

Wie viele sind das heute?“

Siebenundzwanzig“, antwortete das Pflanzenwesen. „Und es ist noch früh am Tag…“

Der Roman gewinnt durch überraschende Wendungen ein wenig an Leben. Das Einführen interessanter Personen im vorangegangenen Band, z. B. des zentau­roiden Dillianers Colonel Asam, des erschreckenden, durch Gestein gleitenden Religionsfanatikers Gunit Sangh, des Echsenwesens Marquoz und des undurch­schaubaren „Zigeuners“, der Brazil so verblüffend ähnlich sieht und noch verstö­rendere Fähigkeiten besitzt.

Chalker hat in diesem Roman klar begriffen, dass die Wiederholung von Situa­tionen auf Dauer die Geschichte vor Plattheit nicht retten kann, und dass die ewig gleichen Charaktere, von denen man sicher sein darf, dass ihnen nichts Entscheidendes widerfährt (Brazil KANN beispielsweise nicht umgebracht wer­den, er kann sich auch nicht selbst töten, nur im Schacht könnte er Suizid bege­hen) die Situation nicht verbessern. Die Einführung fremder, in ihrer Bedeutung unklarer Wesen macht den Roman insgesamt spannender und unvorhersehba­rer.

Er enthält wieder eine Menge interessanter Ideen, z. B. zum Thema Religion, Fremdenhass, Überbevölkerung, Verantwortung, Fragen nach dem Ursprung der Seele usw., und in dieser Beziehung ist der letzte Band des Sechseck-Welt-Zyklus faszinierend genug, um den Leser über dreihundert Seiten hinweg zu fes­seln. Man merkt aber wieder ab etwa Seite 140, dass er mehr oder weniger starr auf das Ende zugerast ist und die Umgebung, fremde Völker und Personen eher als Staffage verwendet hat.

Sprich: der Sechseckwelt-Zyklus ist eine sehr farbige, manchmal schön plasti­sche Saga, die in bombastische Bereiche oft genug, insbesondere zum Ende hin, abgleitet (und durchaus beabsichtigt), die aber auf diese Weise die Menschlich­keit gewissermaßen verliert. Das klingt jetzt seltsam, aber ein Analogon aus der aktuellen Zeit gibt es bei Stephen Baxters Xeelee-Zyklus, wo neben den giganti­schen kosmologischen Visionen die Personen blutleer, bedeutungslos und amorph wirken.

Das mag notwendigerweise so sein müssen angesichts der Proportionen, aber der Leser braucht auch Handlungspersonen, die er begreifen kann. Baxter ist unpersönlicher als Chalker, aber wer – beispielsweise – lebendige Charakterisie­rungen aus Biographien oder den Romanen von Diana Gabaldon gewöhnt ist, wird von Chalker nicht restlos befriedigt werden können. Wer hingegen unter­haltsame Phantastik sucht, gepaart mit einigen durchaus sehr intelligenten Ide­en, dann und wann einer Prise Humor und einer Menge subtiler Überraschun­gen, dem ist dieser Zyklus sehr empfehlenswert. Nicht umsonst kann man eines dieser Bücher binnen von zwei, drei Tagen lesen und immer noch Hunger auf mehr haben (Vergleiche mit dem Flusswelt-Zyklus von P. J. Farmer oder dem ebenfalls von ihm stammenden Zyklus der „Welt der tausend Ebenen“ sind nicht von der Hand zu weisen).

Bon Appetit!

© 2001 by Uwe Lammers

Ja, wie erwähnt, kritische Töne schleichen sich ein. Aber das ist völlig in Ord­nung so. Es ist und bleibt dennoch ein Romanzyklus, den ich gern mehrmals ge­lesen habe und der einfach gute Laune macht und inspirierend auf kreative Le­ser wirkt.

Ein kleines bisschen ist das auch in der kommenden Woche der Fall, wo wir in die Romanwelten von Clive Cussler zurückkehren und zu einer fernöstlichen Verschwörung. Mehr dazu in sieben Tagen an diesem Ort.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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