Rezensions-Blog 120: Der Lovecraft-Zirkel

Posted Juli 12th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

als Howard Phillips Lovecraft im Jahre 1937 im noch recht jungen Alter von ge­rade einmal 47 Jahren von dieser Welt dahinschwand, blieb sein Oeuvre von Geschichten mehrheitlich verstreut in diversen Pulp-Magazinen der angelsäch­sischen Welt, und wahrscheinlich wären er wie seine Werke heutzutage längst vergessen, wenn nicht… ja, wenn es da nicht jene enthusiastische Gruppe von Brieffreunden und Bewunderern gegeben hätte, die dem „Einsiedler aus Provi­dence, Rhode Island“ gedachten. Einer von ihnen, August Derleth, brachte es sogar zu einem eigenen Verlag und publizierte hier nicht zuletzt auch Lovecrafts Schöpfungen und bewahrte so sein Andenken über den Tod hinaus.

Lovecrafts Faszination strahlte schließlich auch über den Großen Teich nach Eu­ropa, erreichte Verlage wie Suhrkamp und die Fankultur. Heftromanautoren nahmen sich hier der „Großen Alten“ an, Fanclubs wie LOVECRAFTS ERBEN wuchsen heran, Magazine wie „The Miscatonic Mirror“ entstanden, und schließlich spross auch ein eigener Verlag, der sich der Tradition Lovecrafts ver­pflichtet fühlte, aus diesen Wurzeln.

Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis eine Kurzgeschichtensammlung wie die vorliegende daraus erwuchs – eine interessante Kollektion von Lovecraftia­na, die bislang noch nicht auf Deutsch veröffentlicht waren (sehen wir von ver­einzelten Geschichten ab, die in verstreuten Anthologien doch schon zugänglich geworden waren).

Als ich diese Sammlung mir zu Gemüte führte und umgehend rezensierte, war ich schon relativ weit von Lovecraft abgedriftet. Dennoch halte ich sie nach wie vor für empfehlenswert und für einen Gewinn, den jeder, der schon alle Love­craft-Werke zu kennen meint, mitnehmen sollte. Werfen wir einen näheren Blick hinein:

Der Lovecraft-Zirkel

Herausgegeben von Frank Festa

Blitz-Verlag Nr. 2603

Paperback, 176 Seiten

1. Auflage (2000)

Unbestritten ist Howard Phillips Lovecraft einer der Großmeister der amerikani­schen Phantastik und Weird Fiction des 20. Jahrhunderts. Wie nur wenige ande­re Schriftsteller prägte er in der Pulp-Ära die Entwicklung der Horrorgeschichte, eine Prägung, die bis zum heutigen Tag andauert.

Mit dieser Storysammlung, in der neben einem Nachruf auf H. P. Lovecraft acht Geschichten von Lovecraft-Freunden untergebracht sind, setzt der Blitz-Verlag die Publikation von Geschichten aus seinem Dunstkreis fort, die mit Die Saat des Cthulhu (Blitz-Verlag Nr. 2602) begonnen wurde. Und wieder sind einige faszinierende Kleinode versammelt worden, die man sonst nicht oder nur in ob­skuren Anthologien finden könnte, die lange vergriffen sind.

Frank Belknap Long macht den Anfang mit einem Gedicht auf Lovecraft, unmit­telbar gefolgt von einer berühmten Geschichte, die ich indes nie las, weil die 1935 im Fantasy Magazine erscheinende Story „Die Bedrohung aus dem Welt­raum“, die Lovecraft zusammen mit Catherine Lucille Moore, Abraham Merritt, Robert E. Howard und Frank Belknap Long verfasste, nie übersetzt wurde. Wer sie liest, wird deutliche Anklänge an Ship of Ishtar von Merritt (im Merritt-Teil) und an The Shadow Out Of Time von Lovecraft (im Lovecraft-Teil) entdecken. Dennoch entbehrt dieses Werk nicht einer gewissen faszinierenden Ausstrah­lung.

Clark Ashton Smith bietet mit „Die Epiphanie des Todes“ in gewohnter Weise schwelgende stilistische Pracht, die man beinahe byzantinisch zu nennen bereit wäre. Theolus macht die Bekanntschaft des dem Vergangenen und Okkulten zu­getanen Tomeron und entdeckt während eines Besuches in den finsteren Tiefen zerfallener Familiengrüfte das wahre Geheimnis seines Freundes. Jenseits der stilistischen Brillanz ist die Geschichte eher schlicht.

Duane Rimel schlägt mit „Das kleine, schwarze Ding“ einen Pfad ein, der beina­he an eine frühe Detektivgeschichte erinnert – zwei Menschen kommen zu Tode, und sie sind auf beunruhigende, undurchsichtige Weise miteinander ver­bunden. Aufzeichnungen geben bestürzende Einblicke in die Natur dieser Ver­bindung.

Robert H. Barlow und H. P. Lovecraft besuchen in der Folgestory „Das Nacht­meer“. Die Geschichte kannte ich bereits, aber ich las sie nach fünfzehn Jahren unter anderem Blickwinkel wieder und muss anerkennen, dass ihre stilistische „Wucht“ der von Smith nahekommt. Streng genommen geschieht hier relativ wenig: ein erschöpfter Maler zieht sich für Monate in die Abgeschiedenheit ei­nes Strandhauses zurück und wird auf beeindruckend beschriebene Weise stim­mungsmäßig Gefangener der Atmosphäre jenes unendlich scheinenden und zu­gleich subtil uralt-bösen Ozeans.

Robert E. Howard entführt den Leser in den „Wald von Villefére“, die ähnlich wie die Story von Smith sehr transparent ist. Zudem weist sie – in meinen Au­gen – den Nachteil auf, dass sie viel zu kurz ist. Man bekommt nicht mit, wann die Geschichte spielt. Allein die Degen sind ein Hinweis auf vergangene Jahr­hunderte (vielleicht Frankreich im 17. Jahrhundert). Es ist ein Frühwerk von Ho­ward, das schon die Keime der Entwicklung späterer Geschichten in sich trägt, aber noch mehr wie ein ungeschliffener Diamant daherkommt.

Richard F. Searight erzählt in seinem Werk „Die versiegelte Urne“ ebenfalls eine relativ biedere Geschichte eines gierigen Mannes, der nach dem Tod seines Wi­dersachers Opfer von dessen Rache wird.

Ganz anders hingegen ist die vom selben Autor stammende (und ältere), direkt dahinter folgende Story „Das Hirn“, die in jeder Beziehung raffinierter ausge­führt ist. Allein der historische Kontext ist es wert, hervorgehoben zu werden: Am Ende des Ersten Weltkriegs befindet sich ein alliierter Spion in einem deut­schen Krankenhaus, in dem Experimente angestellt werden. Stets in Gefahr, enttarnt zu werden, entdeckt er schließlich ein Geheimlabor und darin ein in ei­ner Nährflüssigkeit lebendes Gehirn, das allmählich übersinnliche Fähigkeiten zu entwickeln beginnt. Sehr beeindruckend geschildert.

Die Krönung des Bandes ist aber, sowohl vom Umfang her als auch von der Tie­fe der Geschichte ohne Zweifel „Hort des Bösen“ von Henry S. Whitehead. Der Geistliche aus Florida, der in seinen letzten Lebensjahren auch einmal von Love­craft besucht wurde, arbeitet hier seine immensen Kenntnisse über die Karibik, die Maya-Zivilisation ein, vermischt sie mit okkultem Wissen und seinen religi­ösen Informationen und schafft eine Story, die schwer beeindruckt und mindes­tens zu Beginn den Leser regelrecht in die Geschichte einsaugt. Drei Freunde, Canevin (der Erzähler), Dr. Pelletier und Wilkes (ein Pilot) machen einen Ausflug über dem Dschungel der Halbinsel Yucatan und landen schließlich, als sie mit ihrem Flugzeug eine kreisrunde Lichtung vorfinden, in deren Zentrum sich ein unglaublich großer Baum befindet. Ihnen entgeht vollkommen – bis Pelletier sie schließlich darauf hinweist – , dass es keinerlei tierisches Leben gibt, nicht mal Insekten. Sie picknicken ausgiebig, werden jedoch durch eine jähe Böe aus dem Nichts darin grundlegend gestört. Sie verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist, aber Wilkes´ Jacke ist in die Krone des Baumes hochgeweht worden. Der erboste Pilot klettert hinauf, um sie zurückzuholen… und verschwindet spurlos. Der Leser hängt am Haken: denn er weiß genau, keiner der anderen kann das Flugzeug fliegen. Zu Fuß können sie nicht zurückkehren, dafür sind sie nicht ausgerüstet. Also klettert Canevin hinterher. Und was er findet… nein, das muss der Leser selbst lesen, das kann man fast nicht beschreiben. Höchst beeindruckend. Und ganz unvorhersehbar.

Muriel E. Eddy erinnert sich in „Howard Phillips Lovecraft“ auf warmherzige Weise an einen Lovecraft, der so gar nicht an den mürrischen Eigenbrötler und „Einsiedler von Providence“ (Rottensteiner) erinnert.

Alles in allem eine sehr gelungene Kurzgeschichtensammlung, die mit einfühlsa­men und informativen Einleitungstexten zu den jeweiligen Autoren und Ge­schichten versehen worden ist (ich mutmaße, sie stammen von S. T. Joshi, leider wird nirgendwo gesagt, von woher sie übersetzt wurden. Das wird nämlich durchaus erwähnt). Es gibt natürlich kleinere Schwächen, die aber durchaus nicht gravierend sind – peinlich ist beispielsweise, dass auf dem Umschlag Frank Belknap Long unvermittelt zu „Frank Belkamp Long“ mutiert. Ärgerlich ist auch, dass die zweite Hälfte von Whiteheads Geschichte, die so schön beginnt, eine ganze Reihe von Logikfehlern beinhaltet. Ich möchte nur einen nennen: die Protagonisten übernachten, werden von einem nächtlichen Schauer völlig durchnässt, und am kommenden Morgen zünden sie sich Zigaretten an… nun ja.

Ansonsten gibt die von der Qualität sehr abwechslungsreiche Anthologie dem Leser einen faszinierenden ergänzenden Einblick in das Literaturleben der Phantastik, das sich im unmittelbaren Umkreis Lovecrafts entwickelte und das er ebenso prägte wie es ihn prägte. Wer immer sich für die 20er und 30er Jahre, Lovecraft und die amerikanischen Pulps interessiert, sollte an diesem Band nicht achtlos vorbeigehen.

© 2003 by Uwe Lammers

Doch, das ist ein kleines Schmankerl für den Phantasten, der die dunklen Seiten der phantastischen Literatur schätzt, und es sei meinem alten Brieffreund und heutigen Verleger Frank Festa gedankt, dass er diese Geschichten hier zu­sammengeführt hat.

In der kommenden Woche möchte ich euch ein Werk vom anderen Ufer vor­stellen: von der Warte der harten wissenschaftlichen Fakten kommend be­trachten wir dann ein interessantes, ewig spannendes Thema – die Zeit.

Näheres in sieben Tagen an dieser Stelle.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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