Rezensions-Blog 158: Sherlock Holmes und die Zeitmaschine

Posted April 4th, 2018 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wie alle Leser meines Blogs seit langem wissen, zähle ich mich – wie sicherlich auch viele von ihnen – zu den Fans des großen „beratenden Detektivs“ Sherlock Holmes, der sicherlich die einflussreichste Schöpfung Sir Arthur Conan Doyles im Bereich der Literatur ist. Im Vergleich zu ihm ist doch etwa ein Professor Challenger eher zu vernachlässigen. Die Konsequenz, ihr wisst es, ist begreiflich: Epigonentum.

Wie, es gibt keine Holmes-Geschichten mehr?“ „Wie, der Autor ist tot, es gibt keinen Nachschub?“ – eine Zumutung im Zeitalter der steten Nachfrage. So ent­stehen stetig neue Werke „toter“ Autoren, wir kennen das etwa im Fall von Ro­bert Ludlum, der schon lange unter der Erde liegt und dessen Epigonen un­ablässig neue Werke produzieren. So verhält es sich traditionell seit Jahrzehn­ten auch mit Sherlock Holmes und seinen Fällen.

Besonders reizvoll ist es hier, den strikt rationalen Holmes in Abenteuer zu stür­zen, die eben des Rationalen entbehren. Ich habe solche Geschichtensammlun­gen schon gelesen und rezensiert.1 Hier haben wir erneut ein derartiges Werk vorliegen. Der Autor Ralph E. Vaughan bringt Holmes in Verbindung mit Herbert George Wells und seinem Zeitmaschinen-Thema. Was dann geschieht, ist be­merkenswert.

Inwiefern? Nun, lest einfach mal weiter:

Sherlock Holmes und die Zeitmaschine

(OT: Sherlock Holmes and the Coils of Time)

von Ralph E. Vaughan

Blitz-Verlag 3001

Windeck 2012

208 Seiten, TB

ISBN 978-3-89840-323-8

Preis: 12,95 Euro

Aus dem Amerikanischen von Hans Gerwien und Andreas Schiffmann

Sherlock Holmes wird von den Epigonenautoren gern in unmögliche Situatio­nen gebracht, in die sein Erschaffer, der nachmalige Sir Arthur Conan Doyle, ihn zweifelsohne nie guten Gewissens geführt hätte. Das soll jetzt nicht bedeuten, dass solche Settings von vornherein zu verwerfen und die Intentionen nachge­borener Autoren, die im Sherlock Holmes-Kosmos tätig werden wollen, zu ver­urteilen wären. Ich wäre der Allerletzte, der dies täte, liegt doch in meinen Fragmentordnern auch eine begonnene Holmes-Geschichte, in der ich ihn in di­rekten Kontakt mit meiner eigenen kreativen Welt, dem Oki Stanwer Mythos (OSM) bringe.

Dennoch… es ist stets eine Gratwanderung, ein Sich-aus-dem-Fenster-Lehnen, und es kann schrecklich schiefgehen, wenn man als Verfasser die auktoriale Per­spektive aus dem Blick verliert, wenn man vom „Standardpersonal“ abweicht bzw. ahistorische Protagonisten einführt oder eben leichtsinnig seiner eigenen Phantasie die Zügel schießen lässt. Das ist ein waghalsiges Unterfangen, und nicht jeder ist sich darüber vollends im Klaren (was auch für die Verleger derar­tiger Geschichten gilt, weswegen es ja leider eine Vielzahl außerordentlich miss­ratener oder sehr mittelmäßiger Holmes-Epigonen-Werke gibt). Eine solche Gratwanderung hat also der amerikanische Autor Ralph E. Vaughan vollführt, indem er die vorliegende Geschichte erzählte. Er bringt hier – durchaus nicht ohne Raffinesse – den Holmes-Kosmos in Kontakt mit den phantastischen Er­zählungen eines Herbert George Wells. Und hierum geht es im Detail:

Man schreibt Anfang April 1894, als ein Totgeglaubter wieder in Erscheinung tritt: Dr. John Watson fällt buchstäblich in Ohnmacht, als sich ein Mann in sei­nem Beinsein unvermittelt in den Detektiv Sherlock Holmes verwandelt, der drei Jahre zuvor in die Schweizer Reichenbachfälle gestürzt ist, augenscheinlich zusammen mit seinem Rivalen und Erzfeind Professor James Moriarty, dem „Napoleon des Verbrechens“.2

Holmes ist zurück, aber er verhält sich höchst eigenartig, und dafür hat er auch allen Grund, denn es trachtet ihm jemand nach dem Leben – in einer raffinier­ten Finte bringt er jedoch den Attentäter zur Strecke: Oberst Sebastian Moran, den Vertrauten Moriartys, dem er erfolgreich die Urheberschaft an dem Mord an dem ehrenwerten Ronald Adair nachweisen kann.3

Doch kaum verabschiedet sich Holmes am Ende jenes Abenteuers wieder von seinem glücklichen Adlatus Watson – und damit sind wir am Beginn des vorlie­genden Romans – , da fängt das eigentliche Abenteuer erst an. Denn in London verschwinden Menschen, und zwar ziemlich viele Menschen. Diskret, nächtens, meist in den Armenvierteln der Stadt, aber schließlich löst sich auch William Dunning in Nichts auf, ein Verwandter von Sir Reginald Dunning, der Holmes in­ständig darum bittet, tätig zu werden. Der Detektiv beginnt folgerichtig zu er­mitteln und stößt dabei nicht nur auf einen rätselhaften, gejagt wirkenden Fremden, der vor seinen Nachstellungen flüchtet, sondern auch auf Inspektor Charles Kent von Scotland Yard, der seinerseits – inoffiziell – mit dem Dunning-Fall befasst ist.

Zusammen, und damit nimmt Kent die Watson-Rolle ein, ermitteln sie fortan in einem zunehmend unglaubwürdiger werdenden Setting. Soll man tatsächlich annehmen, dass „blasse Geister“ die Menschen von den Straßen wegfangen? Und was ist mit den abstrusen Theorien über Reisen durch die Zeit? Ist irgend­etwas daran, dass die Gefahr aus der Zukunft stammen soll, die es ja bekannt­lich noch gar nicht gibt? Erst, als Holmes dann ein leibhaftiger Zeitreisender schwer verletzt vor die Füße fällt, beginnt der Detektiv selbst an die ungeheuer­liche Geschichte zu glauben: Ja, es gibt Zeitreisen. Und ja: in der fernen Zukunft existiert eine finstere Bedrohung der Menschheit, die sich anschickt, gerade im viktorianischen London sesshaft zu werden. Niemand Geringeres als zeitreisen­de Morlocks sind dabei, die Erde der Vergangenheit zu kolonisieren und die Zukunft des Menschengeschlechts auszulöschen…

Wie schon gesagt, der amerikanische Verfasser begibt sich hier auf eine abenteuerliche Gratwanderung und Reise in den Abgrund der Spekulation, in dem sich Sherlock Holmes eigentlich notorisch unbehaglich fühlen müsste, wo er doch das solide Fundament des festen Wissens verlassen muss, um sich in die windigen Abgründe des Was-wäre-wenn? und der spekulativen Abgründe des Möglichen und Unmöglichen zu verirren. Dabei kann man als Leser attestie­ren, dass Vaughan seine Basisliteratur gut kennt, eben die Ausgangsgeschichte um das „leere Haus“ ebenso wie H. G. Wells´ Klassiker „Die Zeitmaschine“. Ebenfalls gut eingefangen ist die Atmosphäre des düsteren spätviktorianischen London und die etwas blasierte, voreingenommene und elitäre Weltsicht zahl­reicher Protagonisten.

Die Sprache bereitete beim Lesen anfangs ein wenig Schwierigkeiten, was mög­licherweise der Übersetzung geschuldet war – sie wird im Laufe des Buches deutlich besser und weniger zäh. Vielleicht ist das auf die Verteilung der Über­setzer zurückzuführen. Bedauerlich ist es, dass der nur 190 Seiten lange Roman erst auf Seite 29 tatsächlich zu Sherlock Holmes überleitet. Der Klappentext ver­rät notorisch zu viel und zerstört, zumal für Leser, die die genannten Werke schon kennen, jede Menge Spannung. Dass die Morlocks durchaus imstande sind, die Zeitmaschine des Zeitreisenden nachzubauen, nimmt dann allerdings nicht wunder – war doch schon bei Wells klar, dass die Morlocks die eigentli­chen technischen Genies darstellten, Kannibalen hin oder her.

Schade war ab dem Moment, wo die Zeitmaschine dann tatsächlich auftaucht, dass die Geschichte selbst völlig abhob… und mit der Einführung der Morlock-Königin, der zeitreisenden, entschwand dann die Glaubwürdigkeit der Story, der Holmes-Story (!) ziemlich brüsk. Bedauerlich war auch, dass die Idee an sich nicht wirklich neu war. Unweigerlich kam hier nämlich die Erinnerung an einen Kinofilm auf, der Vaughan zweifelsohne ebenfalls bekannt war: „Star Trek 8: Der erste Kontakt“. Hier wie dort wird bei einer vorher quasi asexuellen Gesell­schaft – hie Borg, dort Morlocks – unvermittelt eine „Königin“ in Stellung ge­bracht (jüngst übrigens dann auch bei „Independence Day 2“, und hie wie dort ist die Vernichtung der „Königin“ gleichbedeutend mit dem Ausschalten der Be­drohung.

Ehrlich, ich hätte mir deutlich mehr Skepsis seitens von Sherlock Holmes gewünscht. Und mir wäre es lieber gewesen, wenn er seinen treuen „Ecker­mann“ Watson mit seinem Revolver an seiner Seite gehabt hätte. Inspektor Kent war, mit Verlaub, doch kein annähernd adäquater Ersatz. Infolgedessen ließ sich das Buch zwar binnen von drei Tagen geschwind und durchaus unter­haltsam auslesen…

Ich betrachte es gleichwohl nur als mittelmäßiges Epigonenwerk und kann die Lektüre nur für ausgesprochene Holmsianer wirklich empfehlen… oder natür­lich für all jene, die das Was-wäre-wenn schätzen und gern wissen möchten, nachdem sie Wells´ Klassiker mit Genuss goutiert haben, was wohl geschehen würde, wenn die Morlocks sich auf den Weg in die Vergangenheit machten. Aber da wäre ihnen sicherlich mit Stephen Baxters Roman „Zeitschiffe“ mehr gedient.4 Auch hier wandelt der Autor in den Fußstapfen von H. G. Wells, doch weitaus visionärer, als es Vaughan jemals intendierte. Dafür hinwiederum ent­behrt man bei Baxters Buch natürlich des legendären Detektivs und lebendiger Charaktere. Man kann eben nicht alles haben, sondern ist zur Kompromissbil­dung gezwungen.

Welches der Bücher ihr euch als Gutenacht-Lektüre auf den Nachttisch legen mögt, solltet ihr also nach gründlicher Abwägung der Fakten entscheiden. Viel­leicht waren meine obigen Worte dabei ein wenig hilfreich. Und wer weiß, viel­leicht erscheinen ja auch noch mehr Vaughan-Holmes-Romane bei Blitz. Denk­bar zumindest ist es sicherlich. Lassen wir uns da mal überraschen.

© 2017 by Uwe Lammers

Ihr seht, auch wenn ich Sherlock Holmes-Fan bin, macht das nicht restlos be­triebsblind. Es gibt eben solche und solche Werke, und dieses hier ist, bei allem Respekt vor der Leistung des Autors und der Übersetzer, doch durchwachsen. Zum Schluss hin hebt es dann leider arg ab, dafür hätte sich womöglich eine ge­scheitere, bodenständigere Lösung finden lassen… aber sei’s drum. Es gibt ja noch mehr Epigonengeschichten. Zweifellos werdet ihr an dieser Stelle noch weitere solche Werke besprochen vorfinden, das ist allein eine Frage der Zeit. Wir sind hier ja nicht auf einem reinen Holmes-Blog, nicht wahr?

Ja, der hätte zweifelsohne auch seinen Reiz, aber diese Baustelle bewirtschafte ich nun wirklich nicht, das soll jetzt niemand von mir erwarten.

In der kommenden Woche kehre ich wieder einmal zu einem meiner Lieblings­autoren und seinen Kooperationspartnern zurück… richtig, zu Clive Cussler. Worum es diesmal genau geht und wie sich die Helden der NUMA aus der Gefahrenschlinge ziehen, erfahrt ihr in sieben Tagen.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Man vgl. hierzu beispielhaft den Rezensions-Blog 146: „Schatten über Baker Street“ vom 10. Januar 2018.

2 Vgl. Arthur Conan Doyle: „Sein letzter Fall“, veröffentlicht in The Strand, Dezember 1893.

3 Vgl. Arthur Conan Doyle: „Das leere Haus“, veröffentlicht in The Strand, Oktober 1903. Hier ist der Fall eben­falls auf April datiert, was mit dem Beginn des vorliegenden Romans gut korreliert. In der Zeitlinie von Mike Ashley wird die Geschichte auf Februar 1894 rückdatiert. Vgl. dazu Mike Ashley (Hg.): „Sherlock Holmes und der Fluch von Addleton“, Bastei-Lübbe 14916, Bergisch-Gladbach 2003, S. 731. Vgl. zu dieser schönen Antho­logie auch den Rezensions-Blog 5 vom 29. April 2015.

4 Vgl. Stephen Baxter: „Zeitschiffe“, Heyne 13533, München 2002.

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