Rezensions-Blog 199: Götter, Gräber und Gelehrte

Posted Januar 16th, 2019 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wir schrieben etwa das Jahr 1975 oder 1976, und ich zählte so circa neun Lenze, als ich in unserer damaligen Wohnung in Wolfsburg ein Buch aus dem gut be­stückten Regal meiner Eltern zog. Ein für mein Alter – ich war an Comics und recht dünne Alben gewöhnt, in denen es primär um Dinosaurier ging – recht ge­wichtiges Werk, dem der Schutzumschlag fehlte. Es war schwarz eingebunden und besaß eine goldene Umschlagprägung, die einen Reiter mit Lanze zeigte, der einen springenden Löwen aufspießt.

Ich hatte, ohne das zu diesem Zeitpunkt zu ahnen, die „Bibel“ meiner späten Kindheit entdeckt. Ein Buch, das mir buchstäblich die Augen öffnete und eine bis heute glühende Leidenschaft entzündete: für die Archäologie, namentlich für die altägyptische Kultur und das benachbarte Zweistromland.

Hätte mir jemand zum damaligen Zeitpunkt erzählt, ich würde später Geschich­te studieren und Historiker werden, ich hätte ihn gewiss ausgelacht, denn so et­was lag mir absolut fern. In Geschichte war ich zu der Zeit eher desinteressiert. Das lag an einer Besonderheit, die natürlich jenseits meiner Familie niemand wissen konnte: Spätestens mit der Lektüre des Buches, das ich euch heute nä­her vorstellen möchte, besonders aber durch meine alljährlichen mehrmaligen Besuche bei meinen Großeltern in Hildesheim – was dann für mich unausweich­lich stets einen Alleinbesuch im Roemer- und Pelizaeus-Museum mit seiner gro­ßen Ägyptenausstellung beinhaltete – , durch diese Faktoren erhielt ich also meine ständige Aktualisierung der historischen „Dröhnung“ des alten Ägypten. Jedes Jahr wieder.

In unserem Geschichtsbuch wurden Jahrtausende pharaonischer Geschichte mit entwürdigender Geschwindigkeit binnen von wenigen Unterrichtsstunden abgehandelt, ehe es dann mit den Griechen und Römern weiterging (die mich nicht interessierten). Und dann kam die europäische Geschichte und das dröge Mittelalter (das mich auch nicht interessierte). Und so weiter.

Ich wollte Ägypten.

In Hildesheim bekam ich Ägypten. Wieder und wieder, jahrzehntelang! Und am Anfang verschlang ich als Dreikäsehoch wieder und wieder das phantastische schwarze Buch mit der goldenen Coverprägung.

Die Bibel meiner pharaonisch geprägten Jugend, wie gesagt. Ein Buch, das defi­nitiv die Entdeckung oder Wiederentdeckung lohnt, vertraut mir. Ihr werdet es merken.

Vorhang auf für dieses Werk:

Götter, Gräber und Gelehrte

Roman der Archäologie

Von C. W. Ceram

Rowohlt-Verlag, Hamburg

Erstauflage: November 1949

Besprochene Ausgabe: 21. Auflage, Juli 1956

532 Seiten, geb.

ISBN 3-499-61136-8

Archäologie, so versuchen sich viele Leute wohl immer noch einzureden, ist eine staubtrockene Wissenschaft, so staubig und trocken wie der Boden, in dem die versponnenen Idealisten graben. Ein Studienfach und eine Wissens­richtung für eine kleine Gruppe extravaganter Menschen, die sich mit Dingen befassen, die sonst eigentlich niemanden mehr interessieren. Ein Vorurteil wie so viele, die es gibt, und so falsch wie die meisten von ihnen.

Ebenso mag man annehmen, dass die Sachbücher, die Archäologen verfassen, eine dröge, trockene Literaturform darstellen, die den Ruinen und ausgegraben­en Knochen, die ihr Metier sind, entsprechen – und entsprechend wenig Inter­esse auf sich ziehen. Und dass es sich deswegen bei Werken, die Nichtarchäolo­gen schreiben, die sich mit Archäologie beschäftigen, notwendig ebenso tro­cken sein müssen.

Im November 1949 bewies der deutsche Journalist und Lektor des Rowohlt-Ver­lages Kurt Wilhelm Marek (1915-1972), der Öffentlichkeit nachdrücklich das Ge­genteil. Er legte unter dem Ananym C. W. Ceram – gewählt, um sich von den Werken abzugrenzen, die unter seinem bürgerlichen Namen während des Zwei­ten Weltkrieges herausgekommen waren, wo er in einer Armee-Propaganda­kompanie als Kriegsberichterstatter Dienst tat – ein Buch vor, das die Geschich­te der Archäologie nacherzählte und auf höchst beeindruckende Weise in nur sieben Jahren zwanzig weitere Auflagen erlebte. Zu einem Preis von 12 Mark (was heute etwa 30 Euro entsprechen würde) verkauften sich binnen fünf Wo­chen nicht weniger als 12.000 Exemplare, später wurde es in 28 Sprachen über­setzt und weltweit rund fünf Millionen Male verkauft. Marek wurde mit diesem Buch schlagartig berühmt, später benannte das Rheinische Landesmuseum Bonn sogar einen archäologischen Sachbuchpreis nach Marek (Ceram-Preis).

Um zu verstehen, wie es zu diesem Hype kommen konnte, wie man heute sa­gen würde, sollte man sich das Buch genauer anschauen und sich klarmachen, dass manche der obigen Vorurteile durchaus nicht völlig aus der Luft gegriffen waren. Wie das mit den meisten Vorurteilen so ist… sie haben in der Regel ein Gran Wahrheit in sich, anderenfalls können sie sich nicht entwickeln. Aber ebenso sind solche Vorurteile irreführende Übersteigerungen, die auf Abwege führen. Hier ist es wohl besonders deutlich zu sehen.

Ceram – bleiben wir beim Pseudonym, der Gängigkeit wegen – stellt in seinem Werk solide heraus, dass Archäologie in ihren Anfängen und über viele Jahr­zehnte hinweg tatsächlich das war, was man manchmal argwöhnt: ein exzentri­sches Hobby reicher Leute, die fähig waren, die dafür erforderlichen Grundla­gen zu bieten. Man brauchte eine gediegene klassische Bildung, um die Klassi­ker lesen zu können, etwa die griechischen Historiker. Man benötigte Geld, um Reisen in ferne Länder zu finanzieren, womöglich Expeditionen an Orte auszu­statten, die abseits der gängigen Reisewege lagen. Nicht umsonst gibt Ceram an, dass viele frühe Archäologen politische Ämter – etwa Konsularposten ihrer Länder – als Voraussetzung mitbrachten, um sich in den fremden Regionen zu verankern und ein Einkommen zu besitzen, das nicht aus der archäologischen Forschung stammte.

Denn ein weiteres landläufiges Vorurteil ist durchaus nicht unzutreffend: lange Zeit war Archäologie das, was man „brotlose Kunst“ nennt, und viele der frühen Forscher oftmals bettelarm oder doch wenigstens nicht das, was man reich nennen kann (der Widerspruch zum Obigen klärt sich im Buch auf). Die Muse­umskultur war unterentwickelt vor Anbruch der Neuzeit, und so etwas wie eine Literaturszene für archäologische Nachrichten existierte lange Zeit überhaupt nicht. Nicht selten vermischen sich also die Biografien von frühen Archäologen mit Abenteurertum, Schatzsuche, Raubgräberei oder Antikenhehlerei. Dass Fürsten nach „Antiken“ suchten und so etwas wie den Fundzusammenhang ge­ring schätzten, war zu Beginn völlig normal. Von einer ordentlich durchgeführ­ten Archäologie konnte unter diesen Umständen natürlich keine Rede sein.

Gleichzeitig signalisieren diese wenigen Worte schon den zentralen Grund, war­um Ceram das Thema so wichtig fand. Er war Journalist und wusste, dass pa­ckende, abenteuerliche Geschichten die Leser mitzureißen verstanden. Und je mehr er sich in die Vergangenheit vergrub, desto deutlicher wurde ihm, dass man die Allgemeinheit für die Anliegen der archäologischen Forschung begeis­tern könnte… Voraussetzung war, dass man es richtig aufzog. Und das verstand er wirklich meisterhaft. Denn er erzählt die Geschichte der Archäologie als Abenteuer, und durchaus mit Recht.

Wenn man das Buch aufschlägt, stößt man zuvorderst auf die Rekonstruktion einer antiken Königin, der Regentin Schub-ad aus Sumer, die vor mutmaßlich 5.000 Jahren gelebt hat. Und der Leser beginnt schon hier zu staunen, der viel­leicht nicht geglaubt hat, dass die menschliche Kulturgeschichte so weit zurück­reicht.

Das Leserinteresse ist geweckt, und man erwartet nun unwillkürlich, abzutau­chen in die ferne Vergangenheit… und wird wieder überrascht. Denn Ceram teilt das Werk in 5 Bücher ein.1 Und zugleich sagt er im Vorwort, vielleicht sei es für den Leser am sinnvollsten, mit dem zweiten (!) Buch zu beginnen, dem „Buch der Pyramiden“. Alsdann könne er zum Anfang zurückblättern und auch den Anfang im „Buch der Statuen“ lesen.

Gewiss, chronologisch macht das einen gewissen Sinn (obwohl man dann eher mit Buch 3, dem „Buch der Türme“ beginnen sollte, das sich mit der noch älte­ren mesopotamischen Geschichte befasst). Aber Ceram dachte wahrscheinlich mehr an die Strahlkraft von Tut-ench-Amuns Grabentdeckung durch Howard Carter, die zum Erscheinen des Buches gerade mal ein Vierteljahrhundert zu­rücklag und darum frisch im Gedächtnis der Leser sein musste. Die pharaoni­schen Ägypter seien uns, so resümierte er, offenbar näher als andere, zeitlich näher liegende historische Epochen, so seltsam das auch klingen mag. Es ist aber nur halb so verblüffend, wie man denkt, wenn man Cerams Ausführungen folgt.

Ich empfehle gleichwohl, das Buch so zu lesen, wie man üblicherweise Bücher liest: von vorn nach hinten, ohne dabei Teile auszulassen und zu überspringen, die vermeintlich uninteressant sind. Das kommt einfach der Erzählstruktur zu­gute, die eine achronische ist. Ceram fängt also nicht bei der frühesten Ge­schichte an, die uns sehr fern und fremd ist, sondern er beginnt quasi „mitten­drin“, nämlich im Italien der Renaissance anno 1738.

Der Zufall will es, dass unmittelbar vor einem Ausbruch des Vesuv im Boden klassische Kunstwerke entdeckt werden. Als kunstsinnige Adelige weiter nach­forschen lassen, entdecken sie eine versunkene Stadt der römischen Antike: Pompeji. Und, nach entsprechendem Studium der antiken Klassiker, vornehm­lich Plinius, bald danach eine weitere in der Nähe: Herculaneum. Beide versun­ken im August des Jahres 79 nach Christus durch einen verheerenden Ausbruch des Vulkans, an dessen Fuß sie angelegt wurden.

Die Wiederentdeckung dieser beiden Städte markiert nach Ceram den Beginn der systematischen Archäologie. In all den Jahrhunderten zuvor wurden die an­tiken Ruinenstätten und Gräberfelder mehr als Steinbrüche verwendet. Man riss beispielsweise weite Teile des Colosseums in Rom oder des dortigen Forum Romanum ab, um Baustoffe für Neubauten zu gewinnen. Man plünderte die Bauten der Altvorderen, um Kunstwerke für Galerien oder Wunderkabinette der Adeligen zu gewinnen, viele andere bronzene Kunstwerke wurden kurzer­hand eingeschmolzen, Tempel der Akropolis zerschlagen, weil man ihren Wert nicht schätzte. Bildersturm gibt es nicht erst seit der Lutherzeit oder seit dem Is­lamischen Staat im 21. Jahrhundert! Das ist leider eine kulturbanausenhafte Konstante durch die Jahrtausende.

Diese weit verbreitete Missachtung gegenüber den Hinterlassenschaften der Altvorderen änderte sich sehr langsam im 18. Jahrhundert, und davon erzählt Ceram in seinem ersten Buch, dem „Buch der Statuen“, bei dem es in der Tat wesentlich um Statuen geht. In 8 Kapiteln führt er den Leser von Oberitalien zur abenteuerlichen Biografie von Winckelmann, die er mit der von Heinrich Schlie­mann kontrastiert. Schliemann hat einen anderen Zugang zur Vergangenheit, und auch er wird anfangs als Außenseiter herzlich verlacht. Wie kann er nur dazu kommen, die alten Griechen, namentlich Homer, wörtlich zu nehmen? Niemand hat Troja jemals zu Gesicht bekommen, und Figuren wie der König Agamemnon sind natürlich Legendengestalten, so wie Thor und Odin in der nordischen Mythologie. Niemand käme ja auch auf die Idee, Walhall ausgraben zu wollen, nicht wahr?

Nun, Schliemann denkt anders. Der Selfmade-Kaufmann verliert seinen Kind­heitstraum nicht aus dem Blick, sondern er realisiert ihn, als er vermögend ge­nug ist. Und, unglaublich genug: er findet die homerischen Stätten. Troja gräbt er auf kleinasiatischem Boden aus, in Griechenland forscht er erfolgreich nach Orten wie Mykene und Tiryns. Und inspiriert so, ungeachtet der vielen Fehler, die er in seinem seligen Überschwang begeht – viele seiner Datierungen erwei­sen sich später als falsch – , weitere Forscher dazu, anderen Mythen nachzuge­hen.

Man weiß natürlich Ende des 19. Jahrhunderts von den wesentlichen Zivilisatio­nen des alten Orients, und dank Schliemann ist sogar erwiesen, dass die Zeug­nisse der Altvorderen nicht nur reines Spintisieren waren. Aber sind die Ägyp­ter, die Griechen und die Römer tatsächlich schon alle wesentlichen Kulturen? Der Brite Arthur Evans, der um 1900 den Spaten auf Kreta ansetzt, wo man schon länger von größeren Ruinenstätten weiß, die aber noch keiner Kultur zu­geordnet sind, ergräbt sich in 25 Jahren eine weitere vergessene Kultur, die auch ihre Spuren im Mythos und den Legenden hinterlassen hat: die minoische Hochkultur. Sagen wie die um den legendären Minotaurus erhalten auf einmal ebenfalls Substanz. Und für die Zeitgenossen Anfang des 20. Jahrhunderts wird immer deutlicher: die Vergangenheit mag tot sein und vielfach vergessen, aber das muss sie nicht bleiben, sondern sie kann zu völlig neuer Strahlkraft erweckt werden, wenn man es recht anfängt… wer hier das zentrale Motiv von Cerams Buch durchschimmern sieht, spürt, wie eng er am eigentlichen Thema bleibt, auch wenn er scheinbar erratisch durch die Jahrzehnte und Jahrhunderte eilt. Tatsächlich baut Ceram geschickt Handlungsbögen auf.

Mit dem neunten Kapitel begibt er sich, einen Zeitsprung zurück machend, in das „Buch der Pyramiden“ und damit in jenen zentralen Teil des „Romans der Archäologie“, der womöglich die größte und nachhaltigste Strahlkraft entfessel­te. Er beginnt mit einem kleinen Korsen, der als General den Plan fasst, die briti­sche Weltmacht dort zu treffen, wo er ihr am meisten Schaden zufügen kann: seltsamerweise in Ägypten. Und mit dem Feldzug von Napoleon Bonaparte Ende des 18. Jahrhunderts nach Ägypten beginnt ein Abenteuer, das bis heute nachhallt.

Im Gefolge Napoleons sind Dutzende von Wissenschaftlern, die nun erstmals wissenschaftlich beginnen, die Nilzivilisation zu erforschen und zu dokumentie­ren. Männer wie Vivant Denon sind geradezu fiebrig vor Unglauben, als sie die farbenprächtige und völlig kryptische ägyptische Kultur der Pharaonenzeit ent­decken. Ja, man weiß von ihr aus alten Reiseberichten, aber das Pharaonen­reich war schon im Niedergang begriffen, als die alten Griechen das Land be­reisten. Als sich Alexander der Große im 4. Jahrhundert vor Christus dort als Gott krönen ließ, waren die Hieroglyphen schon lange unlesbar. Alle Entziffe­rungsversuche waren fehlgeschlagen. Ebenso, wie Napoleons Expedition zu ei­nem militärischen Fehlschlag wurde.

Doch das wissenschaftliche Werk, das in seinem Gefolge in Frankreich publiziert wurde und einen wahren Sturm der Ägyptenbegeisterung auslöste, hatte weit­reichende (und nicht nur positive) Folgen. Eine davon bestand in der energi­schen Anstrengung zahlloser Gelehrter, nun die in reicher Zahl vorliegenden rät­selhaften Symbolzeichen der alten Ägypter, die Hieroglyphen, lesen zu wollen. Aber erst Jean-François Champollion sollte dies gelingen.

Als dies erst einmal geschafft war, wurde die ägyptische Vergangenheit ein offe­nes Buch – und unglaubliche Dinge schienen jählings möglich zu sein. Die Bau­werke den Herrschern zuzuordnen, beispielsweise. Herauszufinden, was die al­ten Ägypter über Wissenschaft, Technik und Medizin gewusst hatten. Mumien, seit Jahrhunderten bekannt und vielfach für Quacksalberei ausgebeutet und als „Mumia“ zermahlen und als Medizin verkauft, gerieten ins Zentrum des Interes­ses. Und natürlich nicht zuletzt die legendären Grabstätten der Pharaonen – die Pyramiden von Gizeh zuvorderst, dann aber auch das geheimnisumwitterte Tal der Könige, das viele Jahrzehnte lang erforscht und in dem nahezu jeder Stein umgedreht wurde, bis man schließlich Anfang des 20. Jahrhunderts der festen Überzeugung war, es könne dort kein unentdecktes Pharaonengrab mehr ge­ben.

Dann kam Howard Carter und fand 1923 nach hartnäckiger, ja, verzweifelter Su­che das Grab des Kindkönigs Tut-ench-Amun und seine unermesslichen Grab­beigaben. Und die Legende vom „Fluch des Pharao“ begann zu kursieren.

Für Ceram stellte anno 1949 noch die spektakuläre Entdeckung des Pharaonen­grabes Tut-ench-Amuns den Höhepunkt der Entwicklung dar, die man nicht mehr „toppen“ konnte. Es sollte über 70 Jahre konstanter Forschung dauern, bis mit KV 5 (KV steht für „Kings Valley“) am Eingang zum Tal der Könige eine Grab­anlage in ihrer wahren Bedeutung exploriert werden sollte, die seit Jahrhunder­ten weitgehend verschüttet war. Das Grab der Ramsessöhne, das der amerika­nische Ägyptologe Kent Weeks seither ausgräbt und das über zahllose Kammern und Seitengänge verfügt, ist die größte Grabanlage, die man überhaupt in Ägyp­ten entdeckt hat, und sie ist heute immer noch nicht vollständig erforscht.2

Nach der Entdeckung des Howard Carter macht Ceram einen weiteren Sprung ins frühe 19. Jahrhundert – ich sagte ja, er geht achronisch vor und ordnet die einzelnen Abschnitte der Erforschung der Archäologie thematisch Kulturberei­chen zu, da die rein chronologische Abfolge den Leser zweifelsohne verwirren würde. Diesmal, im 3. Buch, dem „Buch der Türme“, reist der Leser ins Zwei­stromland zwischen Euphrat und Tigris. Da, wo heute der immer noch von Kriegswirren erschütterte Irak liegt, befindet sich uraltes Kulturland, das aller­dings im 19. Jahrhundert, als rückständige Provinz des osmanischen Reiches, al­les andere als glanzvoll war.

Soweit die dortigen Bewohner historischen Glanz für sich reklamierten, galt er für die islamische Zeit, für jene Epoche ab dem 7. Jahrhundert nach Christus, als sich der mohammedanische Glaube hierhin ausdehnte und prächtige Städte wie Bagdad aufblühen ließ. Wen interessierten denn da schon die staubigen Weiten des flachen Landes? Wen die grauen Hügel, die Tells? Die meisten Men­schen hier waren Viehzüchter, Bauern und Nomaden. Und als der Glanz des os­manischen Reiches im 19. Jahrhundert immer stärker verblasste, da sank auch Mesopotamien allmählich in die völlige Vergessenheit zurück.

Doch war das nicht immer so gewesen, und gerade die aufblühende Archäolo­genzunft wusste darum. Es gab Legenden, es gab die Bibel. Da war die Rede von blühenden Reichen in dieser Region, man wusste vom Turm zu Babel, von dem nun nichts mehr zu sehen war, von der babylonischen Gefangenschaft, der Sprachverwirrung… aber das waren nur fromme Legenden, nicht wahr?

Als jedoch im Gefolge von Napoleons Expedition die jahrhundertelang krypti­schen Hieroglyphen entziffert worden waren, wandten sich die Philologen, die sich mit alten Schriften befassten, einer weiteren Sorte rätselhafter Zeichen aus, die wirkten, als seien „Vögel über nassen Lehm gelaufen“. Kleine Schriftta­feln und bisweilen monumentale, hoch in Fels gemeißelte Inschriften waren von Abertausenden solcher Zeichen bedeckt, die Keilschriftzeichen genannt worden sind. Lesen konnte sie niemand.

Aber wenn man die Hieroglyphen lesen konnte… dann vielleicht auch diese ei­genartigen Symbole? Aber wo war der Schlüssel dazu? Wo der Stein von Roset­ta, der ihnen den Zugang ermöglichte?

Der dritte Abschnitt des vorliegenden Buches beschäftigt sich mit solchen The­men. Es geht darum, wie viel Wahrheitsgehalt in den Büchern der Bibel enthal­ten ist. Wir verfolgen Insektenkundler, Konsuln und Hilfslehrer dabei, wie sie die Keilschrift zu entschlüsseln suchen, wie sie sich in der noch rätselhafteren Ge­schichte des Zweistromlandes verirren und Dinge finden, die selbst die Einhei­mischen für unmöglich halten. Wir sehen Fabelwesen aus den grauen Schutthü­geln auftauchen wie mythische Ungeheuer. Städte, die man für reine Legende und Erfindung hielt, erhalten physische Präsenz. Selbst das antike Babylon wird wieder aus dem Schutt der Geschichte befreit (man muss nur mal das Perga­mon-Museum in Berlin besuchen, um zu begreifen, was die damaligen Forscher freilegten – einfach atemberaubend, vertraut meinem Urteil!).

Und im vierten Buch von „Götter, Gräber und Gelehrte“ machen wir dann einen weiteren historischen Sprung, fort aus dem bisher schwerpunktmäßig um das Mittelmeer kreisenden Archäologie. Denn selbstverständlich ist das nicht alles. In „Das Buch der Treppen“ reisen wir als Leser zurück ins 16. Jahrhundert und überqueren mit Kolumbus und Cortez den Atlantik, um im alten Mexiko mit der aztekischen Kultur zusammenzutreffen – eine Kultur, die in einem abenteuerli­chen, sehr riskanten Coup letztlich „geköpft“ wird… und dann kommt das Chris­tentum, das sich in diesem Punkt kultureller Verbrechen schuldig macht, indem es nahezu das vollständige überlieferte schriftliche Wissen der Azteken dem Scheiterhaufen überantwortet.

Das hat weit reichende Konsequenzen. Wie Ceram zutreffend berichtet, hat das, was oben geschildert wurde, namentlich die starke Zentrierung auf die rö­mische, griechische, schließlich die ägyptische und mesopotamische Geschichte zur Folge, dass eine Art von kultureller Eindimensionalität in die Gedanken der Forscher einzog. Eindimensionalität der Art, dass bestimmte Regionen der Welt als kulturelles Brachland betrachtet wurden, das erst dann aufzublühen begann, als Kulturträger aus dem europäischen Raum einwanderten. Will heißen: An­fang des 19. Jahrhunderts galt es selbst für nordamerikanische Forscher als aus­gemacht, dass man in Mexiko oder weiter im Süden natürlich „nur“ die Kultur der spanischen Konquistadoren finden würde, nichts Älteres. Davor hatte es ja nichts gegeben, nicht wahr? Wer sich für alte Geschichte interessiert, der reist nach Europa, besucht die griechischen und römischen Stätten, macht Visiten im Heiligen Land und bei den Pyramiden. Aber eine Reise nach Mittelamerika fällt nahezu niemandem ein. Dort gibt es doch nichts von kultureller Bedeutung zu entdecken!

Selbst Stätten wie die monumentale Ruinenstadt Teotihuacan nahe der Haupt­stadt Mexiko-City, deren gigantische Treppentürme gen Himmel strebten, wur­den geflissentlich ignoriert. Heute klingt das unfasslich, aber es ist tatsächlich Realität. Als John Lloyd Stephens als amerikanischer Konsul Yucatan aufsuchte (1838), da war selbst den einheimischen Maya völlig unklar, dass nur wenige Ki­lometer von ihren Dörfern entfernt im fieberheißen Dschungel mächtige ver­sunkene Städte verborgen lagen, die ihre Ahnen einst geschaffen hatten. Allein deshalb war es möglich, dass Stephens eine ganze Stadt – die Mayastadt Copan – für 50 US-Dollar dem Landlord abkaufen konnte, auf dessen „nutzlosem“ Grund sie lag.

Und was waren das für Städte! Was waren das für vollkommen fremdartige Schriftzeichen? Wenn es Schriftzeichen waren. Vielleicht handelte es sich ja auch um Ornamente? Um Bilder? Und sie glichen wirklich rein gar nichts, was man aus dem indoeuropäischen Kulturkreis kannte. Allenfalls die Hieroglyphen schienen dem noch nahe zu kommen.

Was, so begannen sich Stephens – und nachdem er und sein Zeichnergefährte Frederick Catherwood reichlich Bildmaterial publiziert hatten – und andere For­scher zu fragen, was war das für eine Kultur gewesen? Wie alt war sie? Wo war sie geblieben? Handelte es sich um einen hier auf einen anderen Kontinent verschlagenen Stamm Israels? War das eine Kolonie der legendären Atlanter?

Denn – natürlich, so das kulturelle, europazentrierte Vorurteil – eine einheimi­sche Kultur konnte das ja nicht sein, da die Kultur ausschließlich aus dem Mit­telmeerraum stammte… ein Vorurteil, das die Forschung lange massiv behin­dert hat.

Auch über die abenteuerliche Erforschung der frühen mesoamerikanischen Kul­turen liefert Ceram in der Folge in diesem Abschnitt des Buches einen packen­den Bericht. Er schlägt sich mit den frühen Forschern durch den tropischen Ur­wald, ringt mit aufständischen Soldaten, feilscht mit ungläubigen Adeligen, taucht in schlammige Brunnenlöcher auf der Suche nach Schätzen und Bestäti­gung historischer, als unglaubwürdig angesehener Quellen.

Und es werden Entdeckungen über Entdeckungen gemacht… und es bleiben na­türlich Rätsel offen (bedenkt: wir schreiben hier maximal das Jahr 1956!).

Wahrhaftig, das Buch ist ein Leseabenteuer, das selbst nach siebzig Jahren sei­nesgleichen sucht. Cerams wortmächtige, mitreißende Erzählungsform, die uns sowohl den zeithistorischen Horizont nahe bringt wie auch die Biografien und bisweilen wilden Zeitläufte schildert, veranlasst selbst den in solchen Dingen kundigen und erfahrenen Historiker als Leser, ein Kapitel nach dem nächsten zu verschlingen… ich tat mich, offen gestanden, sehr schwer damit, möglichst nur ein Kapitel pro Tag zu lesen, einfach deswegen, weil ich dieses Leseabenteuer genießen wollte. Und wenn das Buch den Leser mitreißt, dann kommt man ein­fach nicht umhin, es gut zu nennen. Denn das will ein Autor schließlich errei­chen – begeisterte Lesefreude. Hiermit gelingt es.

Ich nehme an, ohne es jetzt genauer zu wissen, dass ich damals, als ich das Buch schätzungsweise 1975 oder 1976 das erste Mal las (also im Alter von 9-10 Jahren), sehr viel langsamer vorging. Immerhin war das für mich alles Neuland und unterschied sich doch massiv von den sonst gängigen „Was-ist-was?“-Bü­chern, die für diese Altersgruppe eher geeignet sein sollten. Auch damals war ich schon ein eher unkonventioneller Leser… das lag irgendwie nahe, denn mei­ne Großeltern väterlicherseits wohnten in Hildesheim, und sehr schnell wurde ich dort im Roemer- und Pelizaeus-Museum mit seinem starken Schwerpunkt Ägyptologie Stammbesucher, anfangs wohl noch in elterlicher Begleitung, sehr rasch aber allein.3

Das war gewissermaßen das, was ich gern die „regelmäßige pharaonische Dröhnung“ nannte, die mich für immer prägte. Und meine „Bibel“, wenn man so will, war das vorliegende Werk, C. W. Cerams „Götter, Gräber und Gelehrte“, das ich zahlreiche Male verschlang, bis ich wesentliche Teile des Anhangs – der ägyptischen und mesopotamischen Königslisten – auswendig konnte (wie ich vorher schon die Namen zahlreicher Dinosaurier hatte herunterbeten können, das war die frühere Leidenschaft gewesen).

Natürlich ist Cerams Buch in weiten Teilen historisch überholt, keine Frage. Er schreibt nur kursorisch (im 5. Teil) über die Entdeckung der hethitischen Kultur, die in der Bibel eher kursorisch erwähnt wird.4 Von dem syrischen Qatna hatte er keine Ahnung. Über die hellenistischen Diadochenreiche hört man wenig, dasselbe gilt für die Phönizier, der ferne Osten bleibt völlig dunkel, und nie­mand braucht darauf zu hoffen, viel von Nan Madol zu erfahren. Auch sind na­turgemäß viele eher spätere Entwicklungen der archäologischen Praxis hier noch unbekannt. C14-Analysemethode: ein Fremdwort. Unterwasserarchäolo­gie? Findet kaum statt. Dendrochronologie? Unbekannt. Und so weiter und so fort.

Aber ich wiederhole: das Buch bildet den Zeithorizont des Jahres 1949, in der Neuauflage den des Jahres 1956 ab. Und Ceram gibt selbst zu, dass es Felder gibt, die er nicht bearbeiten konnte. Die Hethiter werden dort erwähnt, die Inka (die vorinkaischen Kulturen kennt er nicht), auch die phönizische Geschichte wäre eine Untersuchung wert, ganz zu schweigen von all den afrikanischen Kul­turen. Gemessen am Horizont der Zeit greift Ceram selbst Forschungsergebnis­se des Jahres 1947 auf, also jüngste zeithistorische Forschung, und er gibt be­reitwillig zu, dass viele Geheimnisse noch ungeklärt sind. Ja, er kokettiert sogar ein wenig, indem er spekuliert, dass vielleicht Leser seines Buches dereinst manche dieser Mysterien aufhellen können.

Ich halte es für außerordentlich realistisch, dass genau das geschehen ist. Cerams Buch hat aufgrund seiner geschmeidigen und gefälligen Schreibform und des eher unorthodoxen, absolut nicht dogmatischen Zugangs dafür ge­sorgt, dass weltweit Millionen Menschen die Faszination des Themas zu begrei­fen begannen. Und ich denke, das ist mit weitem Abstand sein größtes Ver­dienst: dass er das vermeintlich staubgraue, uninteressante Thema der Archäo­logie, wo also seltsame, schrullige Leute im Staub knien und mit Pinsel und Pin­zette in wochenlanger Kleinarbeit Gräber und Ruinenstätten erforschen, die jahrhundertelang niemand mehr angeschaut hat, ins Licht der breiten Öffent­lichkeit hob und Neugierde stimulierte.

Nein, ich kann nicht behaupten, dass das Buch, so veraltet manche der Erkennt­nisse auch sein mögen, uninteressant geworden ist. Das Buch ist nicht ohne Grund ein Klassiker der Archäologie. Und wer immer sich für die Vergangenheit der vielfältigen menschlichen Zivilisationen zu interessieren beginnt und gern mehr wissen möchte, für den ist dieses Buch als Einstiegslektüre nach wie vor immer noch perfekt geeignet. Auch wenn dem Ahnungslosen nach der Lektüre schier der Kopf platzt, weil es so unglaublich viel an Information enthält – es ist ein Ratgeber, auf den man nicht verzichten sollte. Weder jetzt noch in dreißig Jahren.

© 2018 by Uwe Lammers

In der nächsten Woche gibt es dann ein wenig „Abkühlung“. Wie das konkret aussieht, werdet ihr in rasch verstehen.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 In der Ursprungsauflage waren es nur 4, das letzte mit dem Titel „Bücher, die noch nicht geschrieben wer­den können“, fügte er später hinzu.

2 Für nähere Einzelheiten vgl. Kent Weeks: „Ramses II. Das Totenhaus der Söhne“, München 1999.

3 Ich kannte es übrigens damit noch in seiner ursprünglichen architektonischen Gestalt. Der moderne Bau ist da weniger geheimnisumwittert… aber man beachte bei einem Besuch bitte das Treppenhaus, das architek­tonisch der Großen Galerie der Cheopspyramide nachempfunden ist! Der Ägypten-Kenner merkt das, sonsti­ge Besucher registrieren das vermutlich kaum.

4 Vgl. dazu C. W. Cerams bald danach erschienenes Werk „Enge Schlucht und schwarzer Berg – Die Entde­ckung des Hethiterreiches“, Hamburg 1955. Ebenfalls übrigens ein sehr empfehlenswertes Buch… wenn­gleich heute vom Kenntnisstand natürlich auch überholt.

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