Rezensions-Blog 21: Fehlfunktion (2)

Posted August 19th, 2015 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wie versprochen kehren wir in den Kosmos von Peter F. Hamilton heute zurück. Sein Roman „The Reality Dysfunction“ wurde damals vom Verlag Bastei-Lübbe in zwei Teile gespalten, was zweifellos nicht nur dem dicken Ursprungsmanu­skript, sondern auch Axel Merz´ wortreicher Übersetzung geschuldet war. Und wie das in diesem Zyklus so üblich war, bekam dann jeweils nur ein Teilband den Titel des Originals ab, hier also der vorliegende Band.

Nun, ich verschlang die vorliegenden 840 Seiten im ersten Anlauf in vier Tagen… ich glaube, das sagt alles über die Lesbarkeit aus, nicht wahr? Und worum es genau ging, das erfahrt ihr nun:

Fehlfunktion

(The Reality Dysfunction, Part II)

Armageddon-Zyklus, 2. Roman

von Peter F. Hamilton

Bastei 23222

864 Seiten, TB

März 2000, 9.90 Euro

Übersetzt von Axel Merz

Nahtlos geht die Handlung aus dem ersten Roman (vgl. Rezension „Die unbe­kannte Macht“) weiter, da dieser Band eigentlich nur den zweiten Teil des volu­minösen ersten Werkes der Trilogie darstellt, die Hamilton verfasst hat.

Am Ende des ersten Teils verfolgte der Leser teilweise atemlos die schleichende, bösartige Ausbreitung der unheimlichen Gefahr vom Dschungelplaneten Lalon­de, die ausgerechnet an Bord der Lady Macbeth des jungen Raumfahrtunter­nehmers Joshua Calvert zum Planeten Norfolk übersprang – unbemerkt. Von dort aus verbreiteten sich weitere Infizierte (nennen wir sie vorab schon „Be­sessene“, wenngleich dieser Terminus erst in diesem Band auftaucht) über wei­tere Welten.

Während auf dem Habitat Tranquility weiterhin der Datenträger der unterge­gangenen Rasse der Laymil ausgewertet wird und spektakuläre Entdeckungen gelingen, versucht die heimatlose Dr. Alkad Mzu, die Architektin des monströ­sen Alchimisten, noch immer aus dem Habitat zu entkommen und spricht wei­terhin Raumfahrtkapitäne an. Niemand ahnt, was sie wirklich im Schilde führt. Ein Geheimdienst beginnt sogar schon Pläne auszuarbeiten, um die Physikerin zu liquidieren.

Das alles ist eine Langzeitgeschichte. Weitaus kurzweiliger ist die Entwicklung im System des Kolonialplaneten Lalonde. Die Verwaltung in der Metropole Dur­ringham wird endlich darauf aufmerksam, dass im Hinterland, zu dem die neuesten Kolonisten unterwegs sind, schreckliche Dinge passieren. Die Satelli­ten zeigen ausgebrannte Häuser in Siedlungen, die Berichte der Sheriffs wider­sprechen den optischen Angaben, und so werden Soldaten in Marsch gesetzt, die unverzüglich mit bizarren Phänomenen konfrontiert werden: mit in Quell­wasser badenden, erotischen Nymphen, die sich in menschenverschlingende Ungeheuer verwandeln; mit steinernen Gebäuden, die aus jahrhundertealten Filmaufnahmen stammen könnten; mit Schaufelraddampfern des irdischen 19. Jahrhunderts, schließlich mit ganzen Ritterarmeen. Und bald fällt ein Distrikt nach dem nächsten in dumpfes Schweigen. Der unheimliche Feind okkupiert La­londe mit gespenstischer Geschwindigkeit.

Da auf die konföderierte Navy kein Verlass ist, beschließt die Verwaltung von Durringham, zum Schutz der Siedler in Eigenregie zu handeln. Die Kolonialge­sellschaft LEG organisiert auf Tranquility eine umfangreiche Söldnerarmee, die die „Aufstände“ gewaltsam niederschlagen soll.

Inzwischen aber ist eine Aufzeichnung in die Konföderation gelangt, auf der ein Reporter den berüchtigten edenitischen Verbrecher Laton gefilmt hat, der La­londe verlässt. Die Konföderation gerät daraufhin prompt in Hysterie, hat doch Laton schließlich vor mehr als 20 Jahren bei seiner Flucht aus dem edenitischen Herrschaftsbereich ein ganzes Habitat als „Ablenkungsmanöver“ mitsamt sei­nen Bewohnern zerstört. Nun also wird die Navy aktiv und beschließt, sowohl Lalonde abzuschotten als auch zu verhindern, dass die Söldner landen. Das aber kann nicht mehr ganz verhindert werden, und erst recht nicht, dass Besessene zu den Orbitalschiffen zurückkehren. Die Folge ist eine schreckliche Raumschlacht im Lalonde-System. Und das alles ist nur der Beginn…

Im zweiten Band von Hamiltons packendem SF-Zyklus kommt der Leser eigent­lich gar nicht mehr zur Ruhe. Man fiebert unwillkürlich so sehr mit, dass man sich zwingen muss, die Seiten langsam und nacheinander zu lesen.

Es gibt ein schönes Wiedersehen mit der zunehmend charismatischer werden­den Ione Saldana, der Herrin von Tranquility, man trifft von neuem die sehr sympathische edenitische Voidhawk-Pilotin Syrinx, der unheimliche Laton er­hält neue, Furcht erregende Züge, und der Leser wirft einen Blick auf die ent­setzliche Leere, aus der die gepeinigten Seelen der Besessenen kommen. End­lich wird dieser so unbegreifliche Feind ein wenig klarer erkennbar. Was nur heißt, dass es insgesamt noch monströser wird. Horror trifft hier recht handfest auf Science Fiction, eine Mischung, die nicht unbedingt negativ zu beurteilen ist. Und es werden langfristige Perspektiven angelegt, etwa mit dem Kult des „Schlafenden Gottes“ oder mit dem, was als „Realitäts-Fehlfunktion“ titelge­bend war.

Natürlich ist nach wie vor nicht ganz klar, was dort geschieht, noch viel weniger aber, wie man diese Lawine aufhalten kann, die sich scheinbar unaufhaltsam durch die Konföderation zu wälzen beginnt. Lalonde hat vermutlich nach die­sem Roman als Handlungsschauplatz weitgehend ausgedient, aber es gibt noch eine Reihe anderer. Und, das ist vielleicht das Spannendste, Hamilton beginnt die „dunkle Seite“ zu diversifizieren. Individuen werden nach und nach erkenn­bar, und einige haben einen faszinierenden Charakter.

Alles in allem enthält dieser Roman viele Anlagen für künftige Schrecken, doch man kann sich ebenso sicher sein, dass der dritte Band des Zyklus uns wieder neue Schauplätze bringen wird und alte in neuem Licht erstrahlen, meist in ziemlich düsterem. Ich sage nur: Norfolk und Omuta.

Vier Tage Lesezeit für 864 Seiten, das ist, glaube ich, seit Gabaldon nur selten da gewesen bei mir. Guter Stoff. Und es steht zu befürchten, dass mich auch der dritte Teil mit über 900 Seiten nicht viel länger beschäftigen wird. Dafür ist die Sache einfach zu gut gemacht…

© by Uwe Lammers, 2004

Ja, ja, wer mit dem Band 1 der Saga Feuer gefangen hat, der hat hier die erst­klassige Chance, einfach zum Seitenverschlinger zu mutieren und sich die Tage und Nächte um die Ohren zu schlagen, um ganz in Hamiltons Kosmos aufzuge­hen. Auch mit einer Distanz von mehr als 10 Lesejahren kann ich nach wie vor konstatieren: gutes Lesefutter, höchst unterhaltsam geschrieben und übersetzt.

Stürzt euch ins Vergnügen, Freunde! In der kommenden Woche marschieren wir direkt hinüber ins Reich der Philosophie und Psychologie. Wie das aus­schauen soll? Na, da lasst euch mal brav überraschen und schaut wieder rein am 26. August.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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