Rezensions-Blog 283: Meeresdonner

Posted August 26th, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

immer, wenn Romane versuchen, Historisches und Fiktives mit­einander zu vermischen, erweist sich das als eine Gratwande­rung, die von dem Autor eine ganz besondere Finesse verlangt. Ebenso wie etwa im Fall von Sherlock Holmes-Epigonen gibt es nahezu unzählige Fallen, in die man tappen kann. Sei es, dass man zu flüchtig recherchiert und beispielsweise Krawatten hun­dert Jahre zu zeitig in die Story einführt, sei es, dass man Haus­personal vergisst und kurzerhand irgendwelchen Hausfreunden Schlüssel anvertraut … alles schon erlebt, ehrlich.

In dieser Beziehung erweist sich das Gespann Clive Cussler & Justin Scott als ausgesprochen trittsicher. Insbesondere der Hauptautor Scott taucht richtig in die Zeit ein und versteht es, mit den Isaac Bell-Abenteuern um eine (fiktive) Detektiv-Agen­tur ein historisches Setting zu verbinden, das selbst den gestan­denen Historiker schlicht überzeugt. Ob es da um Technik geht, Alltagskultur, Manieren, Bekleidung oder Verkehrsverbindungen – das sitzt einfach, das wird glaubwürdig kommuniziert und zu­dem noch in eine packende Krimihandlung eingebettet.

So verhält es sich auch mit dem vierten Abenteuer von Isaac Bell, bei dem eine Rückfahrt aus Europa mit einem Ozeanriesen ziemlich aus dem Ruder läuft und ihn und seine Kollegen gera­dewegs in eine mörderische Verschwörungsgeschichte hinein­zieht.

Neugierig geworden? Gut, dann folgt mir ins Jahr 1910 und auf die Mauretania:

Meeresdonner

(OT: The Thief)

Von Clive Cussler & Justin Scott

Blanvalet 38364

480 Seiten, TB, Mai 2014

Übersetzt von Michael Kubiak

ISBN 978-3-442-38364-1

Man schreibt den Mai 19101, als der Ozeanliner Mauretania von England nach Amerika zurückkehrt. Unter den Reisenden befin­den sich Isaac Bell und Archibald Angell Abbott IV., beides Agen­ten der Van Dorn Agency, die in Übersee einen Verbrecher ge­fasst haben und ihn nun, getarnt als Versicherungsangestellte, als Gefangenen zurück in die Staaten bringen. Ebenfalls mit von der Partie sind Bells Freundin, die Schauspielerin Marion Mor­gan, und Archies Frau Lillian. Dass die viertägige Reise der Auf­takt zu einer Kette lebensgefährlicher Ereignisse werden soll, ist nicht einmal entfernt abzusehen … aber dann rettet Isaac Bell, als das Schiff noch dicht an der irischen Küste ist, zwei Männern das Leben, die von einer Gruppe Schläger von Bord entführt werden sollen.

Die Attacke endet auf dramatische Weise – die beiden Opfer werden zwar befreit, aber der Anführer der Angreifer, ein Mann mit bizarr affenartig langen Armen, ist so skrupellos, dass er seine Gefährten kurzerhand über Bord wirft und sich dann selbst in den Tod stürzt. Wenigstens sieht es so aus.

Die beiden Geretteten sind der österreichische Erfinder Profes­sor Franz Bismark Beiderbecke und sein Gefährte Clyde Lynds. Sie vermuten, dass die Entführer unter ihrem rätselhaften An­führer, den man nur „den Akrobaten“ nennt, sie im Auftrag ei­ner deutschen Rüstungsfirma, Krieg-Rüstungswerk-GmbH, ent­führen wollten. Über die Gründe sagen sie wenig – nur, dass die Firma auf diese Weise in den Besitz ihrer Entführung kommen wollte, die sie „Sprechende Bilder“ nennen.

Ist das eine Waffe?

Nein, sagen beide.

Aber warum sollte sich eine Rüstungsfirma sonst darum bemü­hen?

Isaac Bells Misstrauen erwacht. Irgendetwas stimmt hier nicht. Also lässt er nachforschen und entdeckt, dass Clyde Lynds an­geblich wegen Desertion aus dem deutschen Heer gesucht wird. Was Lynds kategorisch bestreitet. Das sei erfunden worden, da­mit die deutschen Behörden ihn verfolgen könnten. Aber wenn sie erst einmal in Amerika seien, würde der lange Arm der Deut­schen ihn nicht mehr erreichen können.

Dies ist ein frommer Wunsch, der fern jeder Realität ist.

Schnell stellt sich nämlich heraus, dass der „Akrobat“ keines­wegs bei seinem unglaublichen Sprung über Bord gestorben ist (und wie er das gemacht hat, bleibt lange ein Geheimnis), son­dern sich immer noch auf dem Schiff befindet. Die Gefahr ist also alles andere als vorbei. Die Kette von Störfällen reißt denn auch nicht ab, und schließlich führt dies dazu, dass der Prototyp der Maschine zerstört wird und der Professor sein Leben ein­büßt. Clyde ist indes der Meinung, dass das den Fortschritt nicht wird aufhalten können, denn – er habe die Idee immer noch im Kopf und werde einfach in Amerika ein Labor benötigen, um die Erfindung zu rekonstruieren und zu perfektionieren. Und damit schwebt er automatisch in akuter Lebensgefahr. Solange er lebt und in Freiheit ist, kann der Auftrag des „Akrobaten“ immer noch scheitern.

Inzwischen ist Bell durch Gespräche mit seiner Lebensgefährtin klar geworden, was ihm zuvor unklar blieb: was gegenwärtig die Unterhaltungswelt dominiert, ist der Stummfilm, der in der mo­dernen Variante durch ein Humanova-Orchester und hinter der Leinwand verborgene Schauspieler mit Leben gefüllt wird, weil es sich als unmöglich erwiesen hat, Tonspur und Bildspur beim Film zu synchronisieren. Beiderbeckes und Lynds’ Erfindung ver­spricht hier Abhilfe – und infolgedessen ein Millionengeschäft. Wenn den beiden gelungen ist, was sie behaupten, haben sie gewissermaßen den Heiligen Gral des Filmgeschäfts entdeckt und damit geradezu eine Goldgrube.

Isaac Bell überredet seinen Chef, Joseph Van Dorn, inkognito auf Lynds´ Verfahren zu setzen und zugleich den Erfinder zu schüt­zen. Denn inzwischen ist klar, dass der „Akrobat“, der titelge­bende „Dieb“ noch dort draußen ist und ihn entführen und seine Erfindung stehlen will.

Dummerweise stellen sich in den USA auch noch andere Proble­me in den Weg: das Filmgeschäft wird an der Ostküste primär vom Edison Trust dominiert, der mit harten Bandagen alles dar­an setzt, Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. Und der Ver­such, Clyde und den prominenten Erfinder Thomas Alva Edison zusammenzubringen, geht auch ernüchternd schief. Damit wird deutlich, dass Lynds´ Erfindung eindeutig Potenzial hat und kostbar ist, aber die Realisierung wird zunehmend erschwert. Andere Produzenten, die angesprochen werden, sagen dem Ton­film von vornherein keine Zukunft voraus und haben nicht vor, zu investieren.2

Erst als die Russin Irina Viorets, eine Freundin Marion Morgans, die innerhalb der ersten Romanhälfte zu Marion Bell wird, eine Verbindung zur kalifornischen Gesellschaft Imperial Films her­stellt, bessert sich die Situation. Aber auch an Imperial Films ist irgendetwas sehr eigenartig – niemand scheint die Finanziers dieser Gesellschaft zu kennen, was erneut Bells Misstrauen weckt. Bis der scheinbar sichere Hafen von Imperial Films er­reicht wird, erfolgen allerdings eine Reihe von Attentatsversu­chen auf den Erfinder, die selbst Isaac Bell und die Van Dorn Agency beinahe überfordern.

Rasch wird dem Detektiv klar, dass der phantomhafte „Akro­bat“ nicht allein handelt, sondern über eine regelrechte Organisation in den USA verfügt und über jede Menge Kapital. Beides hat sei­nen Ursprung augenscheinlich in Deutschland, so dass das Ber­liner Van Dorn-Büro eingeschaltet wird … was schließlich zu Mord und Totschlag führt.

Also nimmt Isaac Bell in Amerika die scheinbar aussichtslose Jagd auf den Namenlosen auf und zieht langsam das Netz um den mörderischen Agenten zu – der seinerseits mit gnadenlos-militärischer Präzision sein Ziel verfolgt. Ein Ziel, dessen militä­rischer Wert lange immer noch nicht klar ist …

Auch im inzwischen vierten Roman, den Cussler und Justin Scott über den amerikanischen Detektiv Isaac Bell vorlegen, kann man nicht von einer Art von „Gewöhnungskost“ reden. Erneut finden wir uns als Leser in der Frühzeit des 20. Jahrhunderts und werden mit faszinierenden technischen und gesellschaftlichen Details bekannt gemacht, die zumeist heute in Vergessenheit geraten sind. Dazu gehört insbesondere die Einrichtung des Hu­manova-Theaters, das mir selbst als Historiker nur vage dem Namen nach bekannt war. Hier erlebt man es in Aktion, das ist schon recht beeindruckend.

Ebenfalls spannungssteigernd – wie das Thema insgesamt schon – wirken sich von neuem die technischen Unzulänglichkei­ten der Zeit aus, die insbesondere in Europa dazu führen, dass sich ein informatorischer Handlungsstrang fast totläuft (und auch hier erfährt man beispielsweise etwas über „Kanonenbah­nen“, die ich so nicht kannte). Grundsätzlich sind es diese klei­nen, detailfreudigen und historisch akkurat recherchierten Puz­zlestücke, die die uns doch inzwischen recht fremde Zeit nahe bringen, die den Roman zu einem faszinierenden Leseerlebnis machen. Und auch der packende Informationskrieg, den sich Isaac Bell mit dem „Akrobaten“ und seiner Organisation liefert, lässt keine Langeweile aufkommen.

Das stimmungsvolle Cover, das gut zum Anfang des Romans passt, trägt zum Gesamtkunstwerk ebenfalls bei. Vom Titel her kann man das indes nicht sagen. Zweifellos klang „Der Dieb“ zu nichts sagend, um vom deutschen Verlag akzeptiert zu werden, aber „Meeresdonner“ passt ebenso wie das Cover nur zu den ersten rund 130 Seiten, danach ist von Meer und Donner nicht mehr viel zu sehen. Wer also einen primär maritimen Roman er­wartet, sieht sich rasch enttäuscht. Es wäre deutlich klüger ge­wesen, einen deutschen Titel in Zusammenhang mit der frühen Filmindustrie zu suchen – aber das hätte sich dann zweifellos mit dem Cover gebissen. Vermutlich gab es hier keinen akzepta­blen Kompromiss.

Ein wenig hilflos war dann die Einführung der deutschen fiktiven Rüstungsfirma, die sich in der deutschen Übersetzung natürlich etwas albern liest, „Krieg-Rüstungswerk“ steht sicherlich im amerikanischen Original in Deutsch geschrieben und macht was her. Es ist allerdings unrealistisch, dass eine deutsche Firma so hieße … aber sei’s drum, der Rest der Geschichtet tröstet über diese Tapsigkeit leicht hinweg.

Ich habe mich jedenfalls über eine Woche lang angenehm von dem Roman unterhalten lassen, den man am besten in kleinen Dosen über eine Reihe von Tagen konsumieren sollte (was dann allerdings dazu führt, dass man die zweite Hälfte des Buches in­nerhalb eines Tages verschlingt, weil es so spannend wird). Es ist sehr verständlich, dass hiernach noch eine ganze Reihe wei­terer Isaac Bell-Abenteuer erschienen sind. Während bei man­chen Coautoren Cusslers – etwa im Rahmen der Fargo-Adventu­res – nach spätestens 3 Romanen die Luft raus war, kann man das von Justin Scott definitiv nicht sagen. Hier haben sich zwei Autorenfreunde gefunden, die wirklich gut miteinander harmo­nieren und ein Langzeit-Setting, die Van Dorn Agency, gefunden haben, das noch in vielerlei Hinsicht ausbaufähig ist. Ich bin sehr gespannt auf die nächsten Abenteuer.

Klare Leseempfehlung!

© 2018 by Uwe Lammers

Ihr seht – ich war absolut beeindruckt. Und da die Cussler- & Scott-Romane ein wenig wie edler Wein reifen können, neige ich dazu, sie mir in ziemlich großen zeitlichen Abständen lesend einzuverleiben. Es wird also ein Weilchen dauern, ehe ich den fünften Band der Reihe bespreche … doch keine Sorge, es gibt ja noch reichlich Cussler-Nachschub, von anderen interessanten Werken ganz zu schweigen.

Das werdet ihr auch in der kommenden Woche erleben – ein Ro­man, der mich schon zum Lachen brachte, ehe ich das Buch selbst wirklich angefangen hatte. Warum? Weil der Autor ein paar Statements seiner Testleser voranstellte. Und einer von ih­nen wünschte sich tatsächlich, „dass den Personen mehr Ge­walt angetan worden wäre“. Das klingt nicht nett? Nein, stimmt. Aber ich konnte dieses Statement nach der Lektüre des Buches bestens verstehen. Jeff Baker in mancherlei Augen einfach ein Mistkerl – aber den lernt ihr nächste Woche kennen, verspro­chen.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Dieses Datum ist allerdings so gut im ersten Kapitel versteckt, dass selbst ich als His­toriker Nachschlagewerke zu Rate ziehen musste, um es herauszufinden – eine Knif­felaufgabe, der sich wohl wenige Leser stellen.

2 Eine klassische Fehlkalkulation, wie wir heute wissen, die wir Kino, Fernsehen und Streaming-Serien goutieren … aber solche Fehlentscheidungen von mächtigen, aber visionsschwachen Menschen sind nicht selten. Es sei in diesem Zusammenhang auch an die krasse Fehleinschätzung der Firma IBM erinnert, die noch in den 70er Jahren der festen Überzeugung war, die Personal Computer würden sich nicht durchsetzen, und der Markt sei mit wenigen hundert Exemplaren weltweit bereits gesättigt – darüber kann man heute wirklich nur noch lachen. Aber wer weiß, wie die Welt heute aussähe, wenn Bill Gates diese Prognose akzeptiert und seine Arbeit eingestellt hätte. Wir wür­den sie wohl kaum wieder erkennen.

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