Rezensions-Blog 295: Entfessle mich!

Posted November 18th, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

BDSM-Romane sind eine Klasse für sich, und im Nachgang zu dem Roman-Hype um E. L. James und die Verfilmung ihres Ro­manzyklus „Fifty Shades of Grey“ sprangen sehr viele Auto­rinnen auf diesen Zug auf und zimmerten mal mehr, mal weni­ger phantasievoll ähnliche Geschichten zusammen, in denen man üblicherweise auf komplexbeladene dominante Männer stößt, auf die diskreten Clubs und deren „Spielzimmer“ und zu­dem die unvermeidlichen devoten Damen und Mädel.

Ich gebe zu, dass ich solche Romane manchmal dennoch lese, weil ich einfach gespannt darauf bin, wie solche Themen variiert werden. Ähnlich verhalte ich mich bei Parallelweltromanen, Zeit­reisegeschichten, Space Operas und Erstkontaktgeschichten. Man kann sich blasiert auf den Standpunkt zurückziehen „Kennt man einen, kennt man alle“, aber mit demselben Totschlagargu­ment könnte man auch die Literatur an sich in Bausch und Bo­gen verwerfen und behaupten, seit den alten Griechen habe es strukturell keine Neuerungen mehr gegeben.

Von solchen Argumentationen halte ich wenig. Sie wirken über­kandidelt, überzogen kleinlich und stumpfsinnig generalisie­rend. In der Quintessenz tötet so etwas die Freude am Lesen an sich ab. Das scheint mir für das Lesen nicht förderlich zu sein. Im Umkehrschluss muss ich mich aber, zumal als Rezensent, nicht mit jedem Unsinn zufriedengeben und ihn in höchsten Tö­nen loben, wenn der Stoff das nicht hergibt.

So fiel auch meine Rezension über dieses heute vorzustellende Buch zwiespältig aus. Es hat seine interessanten Seiten, es hat auch seine schematischen Untiefen. Je nachdem, was der po­tenzielle Leser schwerer gewichtet, mögt ihr euch dafür ent­scheiden, das Buch für lesenswert zu beurteilen oder als ent­behrlich einzustufen.

Schaut am besten mal selbst:

Entfessle mich!

Von Carmen Liebing

Plaisir d’Amour

364 Seiten, TB (2017)

ISBN 978-3-86495-281-4

Preis: 12,90 Euro

Fangen wir gleich mal mit dem Aufräumen der falschen Erwar­tungen an, ehe der Leser irritiert werden kann: „Den Fängen ihres gewalttätigen Ehemanns entkommen, beginnt Renée ihr neues Leben als Buchhalterin in einem Nachtclub“, so fängt der Klappentext an, und nahezu alles daran ist falsch. Wer immer den verfasst hat, hätte wirklich besser daran getan, den Roman mal zu LESEN, den er beschriftet. Hierum geht es wirklich:

Renée Klinger ist eine attraktive, intelligente Frau, die sehr jung geheiratet und mit ihrem Mann Harald einen Sohn in die Welt gesetzt hat, den zum Beginn der Handlung siebenjährigen Sam. Harald entpuppte sich aber schon früh in der Ehe als gewalttä­tig (insofern passt der Klappentext dann wieder), aber als das Kind ein Jahr alt war, starb er bereits, und Renée musste fortan das Kind allein aufziehen. Dabei hat sie allerdings Unterstüt­zung durch ihre Freundin Jennifer, die allgemein nur Jenny ge­nannt wird (und leider im gesamten Roman keinen Nachnamen bekommt!). Und zwar arbeitet Renée als Buchhalterin, aber wie auf Seite 6 des Romans unmissverständlich klar wird, handelt es sich nicht um einen „Nachtclub“, sondern explizit um ein „Edel­bordell“ – was ja wohl nicht ganz dasselbe ist.

In diesem Haus, mit dessen Personal sie eng befreundet ist (so eng, dass sie sogar den Angestellten Vladim regelmäßig als Chauffeur anfordern kann) und an dem sie eigene Anteile hat, ist sie gleichwohl nur für die Buchhaltung zuständig und hat mit den Mädchen sonst keinen Kontakt. Besonders beunruhigt wird Renée durch die Themenzimmer des Hauses, in denen man bei­spielsweise einen Dungeon für BDSM-Spiele findet. Zwar kann sie nicht leugnen, dass sie dunkle erotische Phantasien besitzt, aber das Trauma durch die Prügelszenen mit ihrem lange ver­storbenen Gatten haben sie doch sehr verschüchtert und ver­stört. Nach außen gibt sie die kühle, beherrschte Geschäftsfrau.

Das geht solange gut, bis zwei charismatische britische Ge­schäftsleute auftauchen, um sich als Gesellschafter am Bordell zu beteiligen, das mutmaßlich in Berlin liegt (die Location wird nur verschwommen beschrieben, was ich beim Lesen als klaren Nachteil empfand). Der Duke von Denham, Derek Thornton, und sein Freund, der Mediziner James Hunter, treffen mit ihr bei ei­nem Essen im Club aufeinander – und ohne dass Renée es ver­meiden kann, fühlt sie sich von Thornton geradezu magisch an­gezogen.

Zugleich merkt sie allerdings auch beunruhigt, dass er unzwei­felhaft dominant veranlagt ist, und was das bedeutet, meint sie genau zu wissen: er ist jemand, der Frauen seinem Willen unter­wirft, gern auch mit Fesselspielen und Hieben – und das weckt ihre finstersten Alpträume zu neuem Leben. Und noch bestürz­ter ist sie, als sie am gleichen Tag erkennen muss, dass Thorn­ton von ihr fasziniert ist.

Er geht sogar noch einen Schritt weiter: Er möchte, dass sie mit ihm eine Spielbeziehung eingeht, damit sie einander besser kennen lernen können. Und zu ihrer Überraschung ist er außer­ordentlich feinfühlig dabei, als sie zögernd auf dieses Ansinnen eingeht und kategorisch Schläge als Hard Limit festlegt. Mit ei­niger Bestürzung muss sie schnell einsehen, dass sie nicht nur eine ganze Menge Hard Limits hat, sondern auch in wahnsinni­ger Weise für diesen energischen, kenntnisreichen Mann ent­flammt, der ihr zu den unglaublichsten Orgasmen verhilft, die sie jemals erlebt hat.

Ihre Beziehung intensiviert sich dementsprechend schnell und weckt auf beiden Seiten ungeahnte Gefühle füreinander, und mehr und mehr ist Renée bereit, tatsächlich Dereks Sub zu wer­den und neue Facetten ihrer Sexualität mit ihm auszuloten.

Aber niemand ist eine Insel, wie sie ebenfalls schnell entdecken muss. Derek Thornton hat eine Vergangenheit, deren Dämonen er zu überwinden trachtet. Und als sie sich auf das Arrange­ment mit ihm einlässt, werden sie entfesselt – und es ist schnell die Frage, was wohl stärker ist, die finstere Seite ihres Geliebten oder ihre eigenen Hemmungen, die sie zunehmend zu ersticken drohen …

Mit Carmen Liebing habe ich eine weitere neue Erotik-Autorin entdeckt, deren Fähigkeit, leidenschaftliche erotische Liebesge­schichten zu schreiben, mir sehr gefällt. Genau genommen so gut, dass ich den Roman in einem Rutsch binnen eines Tages durchschmökerte. Das passiert selbst mir als passioniertem Vielleser bei einem Werk dieses Umfangs selten. Dass das so kam, lag sicherlich nicht nur an dem sehr schönen Titelbild und der Tatsache, dass ich nach dem ausufernden Romanzyklus von Anna Todd („After“) doch mal wieder ein Werk brauchte, das im BDSM-Milieu spielte. Die Autorin vermochte es vielmehr, ein sympathisches Band der Personen mit den Lesern zu knüpfen.

Natürlich, gerade wenn man die hiesigen Verhältnisse mit Anna Todd zu vergleichen sucht, fällt die relativ schematische Struk­tur der Personen und die Schlichtheit der emotionalen Konflikte auf. Gewisse Bauähnlichkeit zu Heftromanen a la „Shadows of Love“ ist unübersehbar. Aber wer mit Anna Todd oder ähnlich ausufernden Psychostudien nicht viel anfangen kann, wer eher möchte, das es „zügig zur Sache geht“, der ist hier definitiv besser am Platze. Natürlich ist ebenfalls nicht zu übersehen, dass es mal wieder der dickköpfige, sture Dom ist (a la Christian Grey in „Shades of Grey“), der mit seinen Dämonen ringt und damit die aufkeimende Beziehung gefährdet. Aber sei’s drum – den Preis muss man eben zahlen, wenn man solche Settings entwirft. Dass alte Strukturen wie Dreiecksgeschichten nicht zwingend langweilig sein müssen, wenn man sie gut genug auf­zieht, bewies Anna Todd jüngst etwa mit „Nothing more“ und „Nothing less“, die ich mit Gewinn las.

Schade ist allerdings, dass im vorliegenden Roman eine zentra­le Person quasi kaum charakterisiert wird: Jenny, die als Nach­barin und Freundin von Renée vorgestellt wird, bekommt nicht nur keinen Nachnamen, sie scheint auch keinen Beruf zu haben und hauptamtlich als Babysitterin für den kleinen Sam zu fun­gieren, damit Renée Zeit für Schäferstündchen mit Derek hat. Und je weiter der Roman voranschreitet, desto mehr wird auch vergessen, dass Renée eigentlich einen Beruf besitzt.

Der Tunnelblick wird immer enger, und die meisten Nebenperso­nen bekommen dadurch nur höchst flüchtige, schematische Charakterisierungen – was mich an gewisse unglückliche eigene Frühwerke erinnerte, in denen ich meinen Personen lediglich Vornamen und Funktionen zuteilte, sie aber sonst biografisch überhaupt nicht charakterisierte. Heute halte ich das für einen Ausweis schlechten und unreifen Schreibens … auch wenn viele junge Autorinnen und Autoren das so ähnlich halten, scheint mir das ein definitiv verkehrtes Vorgehen zu sein. Schreibratgeber empfehlen nicht umsonst, dass „Details, Details, Details“ die Es­senz des gelungenen Schreibens darstellen. Wer bei der Dar­stellung der Location oder der Charakterisierung der Personen nachlässig wird, erweist dem Beruf des Schriftstellers nicht die hinreichende Ehre.

Well, vielleicht bin ich aktuell verwöhnt durch Anna Todd und ihre feinverästelten Personenstrukturen, so dass ich besonders sensibel auf diesen Punkt achte. Die meisten Leser erotischer Romane, schätze ich, werden nicht so kritisch urteilen. Und wer die obigen Punkte gering schätzt und sich sagt, dass er doch ohnehin nicht mehr wissen will als wie die beiden Hauptperso­nen sich erotisch umtanzen und näher kommen, der kann die­sen Roman gewiss mit einigem lustvollen Vergnügen lesen. Un­ter diesem Aspekt kann ich ihm mit Fug und Recht eine Lese­empfehlung aussprechen.

© 2018 by Uwe Lammers

Wie schon verschiedentlich betont – das hier ist kein Schönwet­terblog, und nicht alles, was ich bespreche, muss darum auch zwingend interessant sein. Das abschließende Urteil müsst ihr als Leser fällen.

In der kommenden Woche wende ich mich dann wieder den Hel­den von Clive Cussler zu und bespreche eins ihrer jüngeren Abenteuer.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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