Rezensions-Blog 347: Im Schatten des Himalaya

Posted April 13th, 2022 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

als ich vor bald 14 Jahren diesen wunderbaren historischen Band über das doch eher exotische Thema eines britischen Ko­lonialbeamten namens John Claude White im hinterindischen Gebirgsland las, war ich über alle Maßen fasziniert. Warum war ich das?

Weil das hinreißend bebilderte, sehr gründlich historisch recher­chierte und auf breiter Primärquellenbasis fußende Werk mir ei­nen Teil der Welt und Zeit erschloss, von dem ich bislang nur sehr wenig wusste. Ich bin zwar studierter Historiker, aber die britische Kolonialgeschichte ist mir doch in den Details eher fremd, und viele Überblicksdarstellungen kranken an dem, wo­mit dieses Buch gründlich aufräumt: sie kümmern sich um die „klassischen“ Brennpunkte der britischen Kolonialpolitik, neigen nicht selten zum Verschweigen gewisser desaströser Aktionen (wie etwa die Younghusband-Expedition nach Tibet, die in die­sem Buch schonungslos dargestellt wird), und die Ränder des Empire bzw. seine Einflusszonen bleiben oftmals außen vor.

Und bitte, wer kennt schon Sikkim?

Ganz genau, wer hier die Stirne runzelt, ist genau der richtige Leser für dieses Buch. Denn hier wird mit wunderbaren histori­schen Fotografien, entlang einer beeindruckenden biografischen Laufbahn eine Weltregion aufgehellt und gründlich durchleuch­tete, die selbst heute noch zu den entlegenen Gebieten der Erde gehört und die doch andererseits eine so reiche, zahllose Jahrhunderte zurückreichende Geschichte besitzt.

Ich habe mich damals mit großer Begeisterung in das Sikkim-Abenteuer gestürzt, und deshalb kann ich mit vollem Nachdruck das Buch des heutigen Tages empfehlen.

Vorhang auf für:

Im Schatten des Himalaya

Tibet – Bhutan – Nepal – Sikkim

Eine fotografische Erinnerung von John Claude White 1883-1908

(OT: In the Shadows of the Himalayas: Tibet – Bhutan – Nepal- Sikkim

A photographic record by John Claude White 1883-1908)

von Kurt Meyer und Pamela Deuel Meyer

München 2006

196 Seiten, geb., Querformat

Aus dem Englischen von Christine Bendner

ISBN 978-3-485-01095-5

Tibet, das ist am Ende des 19. Jahrhunderts ein verschlossenes, fernes Land am Rande der Zivilisation, irgendwo im finsteren Asien, und der Sitz eines rückständigen Gottkönigtums, dessen Regent, der Dalai Lama, im unerreichbaren Lhasa residiert. Es ist ein Land, über das man normalerweise nie etwas erfährt – so müssen es auch die britischen Behörden erleben, die nach der Erlangung der Oberherrschaft über den indischen Subkontinent in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts daran gehen, ihre geo­politische Strategie auszuarbeiten.1

Bedauerlicherweise mag Tibet archaisch, rückständig und weit entfernt liegen (vor allen Dingen aber durchgängig über 4000 Meter hoch) … leider grenzt es aber sowohl an den auf tönernen Beinen stehenden Koloss China, der nach Einschätzung aller eu­ropäischen Nationen, die im „great game“ des Kolonialismus mitmischen, über kurz oder lang „verteilt“ werden wird, als Ti­bet auch an das Russische Reich grenzt. Und an Indien.

Damit sind die Interessen des Vereinigten Königreichs direkt tangiert, und es werden seitens des Vizekönigs Lord Curzon von Indien Pläne gewälzt, eine Invasion Tibets umzusetzen, auch wenn Weltreisende wie Sven Hedin – einer der wenigen, die es jemals geschafft haben, Tibet überhaupt zu bereisen – davon abraten. Es ging, formell, darum, die „drohende Gefahr“ zu ver­ringern, die für Britisch-Indien von Russland ausging. Ob diese Gefahr jemals existierte, ist heute in der Historikerzunft umstrit­ten. Britische Offizielle glaubten damals jedoch fest daran, ins­besondere eine Fraktion britischer Politiker, die man als „Vor­wärtsgruppe“ bezeichnen kann. Sie grenzte sich von einer eher besonneneren Gruppe von Politikern und Militärs ab, die ange­sichts der zurückliegenden Erfahrungen auf außenpolitischem Gebiet für mehr Zurückhaltung eintraten.

In der Tat schien das angeraten zu sein – der Krimkrieg (1854-1856) war besonders eins gewesen, nämlich teuer und blutig, die beiden furchtbaren Waffengänge in Afghanistan (1842 und 1880) hatten auch keine eindeutige Entscheidung zugunsten Großbritanniens gebracht, in Afrika kam es 1879 und 1885 zu furchtbaren Rückschlägen in der Kolonialpolitik, und als die Jahr­hundertwende nahte, desavouierte der Burenkrieg das Image der Briten als Maß haltende Missionare und Politiker im Ausland endgültig. Es bedurfte ganz offensichtlich eines wesentlichen Kurswechsels der britischen Außenpolitik.

Die „Vorwärtsgruppe“ war dessen ungeachtet weiter davon überzeugt, dass der einzige Weg, eine potenzielle Gefahr für In­dien auszuschalten, in der Eroberung Tibets bestand. Militäri­sche Vorwärtsstrategie schien für sie die sinnvollste Option zu sein, eine typische Abschreckungspolitik und eine Geste der Stärke.

Das Hauptproblem für die Briten scheint aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts speziell in diesem Fall jenes zu sein: wie er­obert man ein Land, wie schlägt man einen Gegner, von dem man auch rein gar nichts weiß? Zum Glück für den Vizekönig und damit auch zum Glück für uns Nachgeborene, die vieles von dem, was damals geschah, verurteilen müssen, gab es bri­tische Kolonialbeamte wie John Claude White, die ihr Erbe hin­terließen. John Claude White war nicht nur ein ordnungslieben­der, disziplinierter Kolonialbeamter, sondern, was im Nachhinein viel wichtiger ist, ein passionierter Fotograf. Und er liebte die Länder des Himalaya, wo er mehr als zwanzig Berufsjahre ver­brachte.

John Claude White kann zudem beinahe als Kind der Region gel­ten. Er kam im Jahre 1853 in Kalkutta zur Welt, seine Mutter war eine Deutsche, der Vater Chirurg im indischen medizinischen Dienst, der in Lucknow Dienst tat, als der Sepoy-Aufstand aus­brach.2 White selbst ging in Bonn zur Schule, ließ sich zum Inge­nieur am Royal Indian Civil Engineering College in England aus­bilden und heiratete schließlich 1876 Nina Ranken, die Tochter eines indischen Offiziers. Anschließend ging das Paar nach Kal­kutta, wo White seine Arbeit im Bengal Public Works Depart­ment (Amt für öffentliche Baumaßnahmen) aufnahm und 1877 ihre gemeinsame Tochter Beryl geboren wurde.

In Verlauf seiner Karriere erwies sich White als der typische Ver­waltungsbeamte – als ausgebildeter Ingenieur baute er Straßen, Brücken, Eisenbahntrassen, Kommunikationssysteme und eine allgemeine Infrastruktur und unterschied sich damit kaum von anderen Kollegen. Aber schon bald begann ihn die Fotografie zu interessieren (das erste Foto, das nachweisbar ist, stammt aus Kathmandu aus dem Jahre 1883). Wirklich bedeutsam wurde diese Verbindung von bürokratischer und organisatorischer Ak­kuratesse und fotografischer Leidenschaft, als er 1888 als Assis­tent des Verwaltungsbeamten von Sikkim, A. W. Paul, in Gang­tok diente. Ein Jahr später wurde er an dessen Stelle als neuer Verwaltungsbeamter „inthronisiert“ und blieb es über zwanzig Jahre lang.

Nun mag man sagen: Tibet ist uns ein Begriff. Aber Sikkim? Was um alles in der Welt ist Sikkim? Wo liegt das nur? White hätte wohl gesagt: es ist ein malerisches, wunderbares, fast verwun­schenes Land in der Hinterhand Indiens, und zusammen mit Bhutan und Nepal „im Schatten des Himalaya“ gelegen. Dies entsprach zweifellos seiner tiefen Überzeugung.

Während seiner Dienstreisen durch das kleine Königreich Sikkim (über das man in diesem Buch sehr viel mehr erfährt, was bes­ser nicht vorweg genommen werden soll – manche Zusammen­hänge sind ziemlich kompliziert, und beinahe nichts davon ist allgemein bekannt) kam John Claude White nahezu in jedes be­deutsame Tal dieses nur aus Bergen und Tälern bestehenden Reiches, lernte annähernd jede wichtige Person kennen und schätzen. Er freundete sich mit Mönchen, Adeligen, Grundbesit­zern und deren Familien an.

Außerdem erkannte er die schreckliche Rückständigkeit der Straßen, die man eigentlich gar nicht so nennen konnte, die im­merzu von Hunger und Armut geprägten, eher ärmlichen Le­bensverhältnisse … und mit der unbändigen Energie und sei­nem Drang, den Menschen helfen zu wollen, revolutionierte er während seiner Dienstjahre gründlich den Straßenbau, die staatlichen Finanzen, das Bildungssystem und schuf darüber hinaus auch ein System von staatlichen Forsten, das den Wald­bestand von Sikkim bis in die Gegenwart sichern half. Man könnte fast sagen, dass es White gelang, Nationalparks in Sik­kim zu installieren, bevor sie weltweit allgemein bekannt wur­den.

In seiner Eigenschaft als britischer Repräsentant in Sikkim oblag es ihm natürlich auch, die angrenzenden Staaten Bhutan und Nepal zu bereisen und umfassende Verbindungen zu knüpfen. Er lernte die Sprachen, drang tief in die Mentalität und die selt­same Melange aus Hinduismus und Buddhismus ein, die teilwei­se stark vom tibetischen Buddhismus geprägt war. Selbstver­ständlich wurde White auf diese Weise schließlich zum An­sprechpartner für Lord Curzons Beauftragten Francis Younghus­band, als dieser 1903 die Invasion Tibets mit Hilfe des bhutani­schen Penlop3, Ugyen Wangchuk (später wurde er Regent Bhut­ans) realisierte.

Das Tibet-Abenteuer, das zwar für die Briten im Wesentlichen erfolgreich verlief (und dennoch auf seltsame Weise erfolglos blieb, wie man nachlesen kann), dokumentierte aber zugleich einen Tiefpunkt militärischer Tradition für die britische Armee. Niemand war allzu stolz darauf, Soldaten, die mit Speeren, Pfeil und Bogen und altmodischen Hinterladern ihre Heimat vertei­digten, mit Maschinengewehren niederzumähen, wie es ge­schah.

John Claude White, der die Kultur der Himalaya-Bewohner viel zu sehr schätzte und sehr tief darin verwurzelt war, dokumen­tierte zwar auch die Etappen der tibetischen Invasion fotogra­fisch, wie er seine einzelnen Reisen in die Himalaya-Staaten do­kumentiert hatte, doch fällt deutlich auf, dass er nirgends die „klassischen“ Motive gewählt hat: siegreiche Soldaten, Ar­meeoffiziere oder ähnliches fehlen gänzlich. Stattdessen kon­zentrierte er sich sehr auf die überwältigende Gebirgslandschaft und die baulichen Besonderheiten, insbesondere die Klöster und die beeindruckenden Festungen, die er auf seinen Glasplatten für die Nachwelt festhielt. Er missbilligte diesen Eroberungsfeld­zug ganz zweifellos, dessen Sinn er nicht sehen konnte.

Als John Claude White im Jahre 1909 nach England zog, um hier den Ruhestand zu genießen, war seine Gesundheit durch die ex­tremen Klimate, in denen er sich jahrzehntelang aufgehalten hatte, gründlich ruiniert. Dennoch bereute er wahrscheinlich nichts und wusste zur Genüge, dass sein Name in den Himala­ya-Staaten auch nach seinem Tode wohlbekannt und gern ge­nannt sein würde. Damit behielt er Recht. Man kennt White dort bis heute und schätzt ihn als den wohl positivsten Vertreter bri­tischer Kolonialkultur, den man dort jemals kennen lernte.

Bis zu seinem Tode am 19. Februar 1918 in London hielt White zahllose Vorträge und schrieb viele Artikel über seine reichen Erfahrungen im Himalaya. Viele seiner Fotos fanden den Weg in die frühen Hefte der Zeitschrift „National Geographic“. Die Ori­ginale, die sich wie wohl die meisten Glasplatten auch im Besitz der Fotografenfirma Johnston und Hoffmann in Kalkutta befan­den, sind leider heutzutage zerstört (ein Feuer verwüstete ihr Studio im Jahre 1990). Insofern kann man für diesen Bildband dankbar sein, der die fotografischen Schätze von Whites uner­müdlicher Tätigkeit für die Nachwelt wieder zugänglich macht.

Der vorliegende, opulente Bildband gewinnt nicht nur Bedeu­tung durch die singulären Fotografien John Claude Whites, ob­wohl sie im Zentrum der Betrachtung stehen. Die Herausgeber – Kurt Meyer ist Schweizer und hat 40 Jahre als Architekt in den USA gearbeitet, bevor er für zehn Jahre mit seiner Frau nach Ne­pal ging und hier am Zentrum für nepalesische und asiatische Studien an der Tribhuvan-Universität in Kathmandu tätig waren – kennen sich selbst sehr gut in der Region aus und haben für die Recherchen zu dem Buch jahrelang die Himalaya-Staaten bereist, wobei sie zahllose Kontakte zu Regierungsstellen und Nachkommen derjenigen Familien aufnahmen, die in den Be­richten von John Claude White erwähnt werden. So fanden sie John Claude Whites immer noch stehenden Amtssitz in Gangtok, Sikkim, sie konnten seltene Dokumente einsehen und aus Brief­wechseln Stationen von Whites Lebensweg rekonstruieren.

Vielleicht am beeindruckendsten sind die Querverbindungen zwischen der tiefen Vergangenheit (die Geschichte Sikkims, Bhutans und Nepals wird intensiv beleuchtet, besonders im Wechselspiel mit China und Tibet) mit der jüngsten Vergangen­heit und Gegenwart. So wird vieles dokumentiert, was beispiels­weise während der von Mao Tse-tung angeordneten „Kulturrevo­lution“ zerstört wurde, und die langfristigen, meist positiven Konsequenzen von Whites organisatorischer Tätigkeit zeigen, wie weit reichend er gedacht und geplant hat.

Jan Morris schreibt in „Pax Britannica“ 1968: „Von den unter­schiedlichen Menschen, die zum Entstehen des ‚British Empire’ beigetragen haben, lebten vielleicht 20 Millionen über die gan­ze Welt verstreut – als Siedler, Verwalter, Kaufleute und Solda­ten. Doch es war ein anonymes Weltreich: Der britischen Öf­fentlichkeit war kaum einer ihrer Gouverneure namentlich be­kannt … Diese Aktivisten waren bemerkenswerte Männer, aber nur wenige, nicht mehr als eine Handvoll, waren damals be­rühmt oder blieben nach ihrem Tode noch vielen Menschen im Gedächtnis.“

Nun, John Claude White gehört zu ihnen, und er tut es im bes­ten Sinne des Wortes. Wer sich intime Einblicke in die Verwal­tung des britischen Empire in Innerasien verschaffen möchte und – beispielsweise – mit der naiven Vorstellung aufräumen will, dass der Potala-Palast in Lhasa einzigartig ist (er ist es nicht! Die Bilder in diesem Band beweisen schlagend das Ge­genteil), der sollte keinen Bogen um dieses wunderbare Buch machen, das ein Kapitel der Weltgeschichte genauer beleuch­tet, von dem kaum jemand Kenntnis besitzt.

Es sei denn, man wohnt in Sikkim. Aber wer tut das schon?

© 2009 by Uwe Lammers

Natürlich könnt ihr sagen: dies sei ein wenig zu euphorisch … euer gutes Recht. Aber ich finde, manche Werke verdienen das einfach. In der nächsten Woche finden wir uns wieder auf dem europäischen Kontinent und im 20. Jahrhundert, und es werden sehr viel weniger Worte gemacht, versprochen!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. dazu auch den Roman von Jamyang Norbu „Das Mandala des Dalai Lama“, Ber­gisch-Gladbach 2004. Wer es gern kürzer mag, schaue sich den Rezensions-Blog 132 von mir an, der am 4. Oktober 2017 hier erschien.

2 Allerdings muss man in diesem Zusammenhang eine gewisse Skepsis an der Art und Weise äußern, wie der Autor Michael Crichton in seinem Roman „Der große Eisenbahn­raub“ (München 1976) die Details des Sepoy-Aufstandes beschreibt. Er erzählt dort unter anderem, dass kein britischer Soldat und Zivilist die Massaker überlebt hat, schildert sie dafür aber sehr detailliert, was ohne Augenzeugen schlicht nicht möglich ist … das spricht also dafür, dass er der reißerischen Berichterstattung in den damali­gen Zeitungen aufgesessen ist und sie unkritisch übernommen hat. Vgl. dazu die Re­zension zu Crichtons Roman im Rezensions-Blog 42 vom 13. Januar 2016.

3 In etwa könnte man das mit Distrikt-Gouverneur übersetzen. Ugyen Wangchuk war damit einer der fünf wichtigsten Fürsten von Bhutan. Ihre Zusammenarbeit bei der In­vasion Tibets war die Grundlage einer intensiven Freundschaft zwischen Ugyen Wang­chuk und John Claude White, die in diesem Band gut dokumentiert ist. Mich hat Wang­chuk irgendwie ein bisschen an Sir Peter Ustinov erinnert.

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