Rezensions-Blog 382: Feuerflut

Posted Dezember 14th, 2022 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wir leben in einer Medienwelt, die sich zunehmend zentral auf digitale Dienstleistungen stützt, das ist wohl ein Faktum, das heute noch viel mehr gilt als, sagen wir, vor dreißig Jahren, als das Internet in den Kinderschuhen steckte. Heutzutage haben wir uns daran gewöhnt, in Datennetzen über Kontinente in Echt­zeit zu surfen, Millionen von Filmen in Datenbanken jederzeit zur Verfügung zu haben, uns mit GPS-Daten zu orientieren, Heimarbeit via Computer zu realisieren, Online-Seminare abzu­halten usw.

Kann sich jemand vorstellen, wie die Welt aussähe, wenn das auf einmal alles ausgemerzt würde, und zwar von einem Mo­ment zum nächsten?

Ja, das ist ein Alptraum, keine Frage, und nicht nur für die Tech­niknerds, sondern nahezu für alle Lebensbereiche und die darin Tätigen. Charles Sheffields Hard-SF-Roman schildert genau solch ein Szenario … aber obwohl der Roman mit mehr als 600 Seiten Umfang ein durchaus opulentes apokalyptisches Szena­rio darbieten könnte, war ich von dem Roman letzten Endes doch so enttäuscht (wiewohl er lesenswerte Ansätze bietet, das sei hier nicht verschwiegen), dass ich ihn vor rund 20 Jahren aus meinem Bestand nach der Lektüre ausgliederte. Deshalb sind auch die bibliografischen Angaben nur rudimentär in dieser Rezension ausgeprägt.

Es könnte ein beeindruckender Roman sein, wenn der Autor je­mand anderes gewesen wäre, der sich fähig gezeigt hätte, eine globale Katastrophe auch wirklich global darzustellen … und nicht als ein Szenario, das auf dem inneramerikanischen Schau­platz versumpft. Wer also lesen möchte, wie die Folgen einer Supernova-Explosion auf die amerikanische Gesellschaft wirken könnte, der sollte sich dieses Buch antun und wird es vermutlich mit Gewinn lesen.

Schaut es euch mal genauer an:

Feuerflut

von Charles Sheffield

Heyne 6365

672 Seiten, TB

Juli 2001, 9.95 Euro

Übersetzt von Christine Strüh

Der Alptraum stammt aus der Zeit des Kalten Krieges. Er trägt drei Buchstaben furchterregend in die Welt, wie viele Dreibuch­stabenwörter jener Zeit, bei dem den Leuten noch heute das kalte Grausen kommt. Man denkt insbesondere an Geheim­dienste, aber diese Geißel, die auch nichtmenschlichen Ur­sprungs sein kann, ist etwas völlig anderes: EMP.

Die Abkürzung EMP steht – für diejenigen erklärt, die es nicht wissen – für elektromagnetischer Puls. Es handelte sich um eine theoretische Konstruktion, die nie praktisch getestet wurde, weil das einfach unmöglich war. Ein EMP entstand laut dieser Theo­rie dann, wenn eine massive thermonukleare Reaktion in der Erdatmosphäre Sauerstoffmoleküle ionisierte und damit einen Schauer hochfrequenter Teilchen auslöste. Die Folge dieses Schauers war ein Ausfall aller hochwertigen Elektronik, für eine von Technik abhängige Supermacht sozusagen ein informativer Overkill, der die sogenannte „Zweitschlagskapazität“ auslöschte und die angegriffene Macht hilflos dem Angreifer auslieferte.

Wie gesagt – ein Alptraum für die Hardliner des Pentagon und des Kreml in den Zeiten des Kalten Krieges, der spätestens mit Michail Gorbatschow zu Ende ging.

Wir schreiben das Jahr 2026, als der EMP Realität wird und dies­mal von globaler Dimension alles auslöscht, was wir Datenkultur nennen. Ursache für diese Ionisierung der Erdatmosphäre ist die jählings aufgetretene Supernova Alpha. Nur wenig mehr als vier Lichtjahre von der Erde entfernt explodiert nämlich die Sonne Alpha Centauri im Doppelsonnensystem Centauri (streng ge­nommen handelt es sich um drei Sonnen) und bläht sich auf. Die Strahlungsfront, die aus der Supernovaexplosion losschießt, trifft ausgerechnet die Erde, die zuvor schon wochenlang unter der sengenden Himmelsglut der „Feuerflut“ zu leiden hatte – die ganze Zeit lang herrscht in der südlichen Hemisphäre greller Mittag. Als die Supernova verblasst, fordern die entfesselten Na­turgewalten ihr Recht und zerstören noch mehr – und dann kommt der EMP und radiert die technische Zivilisation weitge­hend aus.

In diesem Jahr 2026 werden die USA von einem jüdischen Präsi­denten namens Saul Steinmetz regiert, der im Roman eine der Hauptfiguren darstellen wird und versuchen muss, das Chaos zu bändigen, das quasi die ganze zivilisierte Welt in Schutt und Asche gelegt hat. Nicht völlig unrealistischerweise berappeln sich die Vereinigten Staaten sehr rasch, greifen auf Uralt-Tech­nologie zurück und beleben beispielsweise alte, stillgelegte Te­lefonnetze wieder, die nicht auf Glasfaserkabeltechnologie beru­hen. Aber es gibt alte/neue Rivalitäten: die Geheimdienste und militärischen Dienste intrigieren gegeneinander, die politischen Opposition manipuliert und taktiert gegen den Präsidenten, zwei Frauen zanken sich um den Präsidenten und die Gunst, mit ihm das Bett zu teilen, obgleich er – scheinbar – impotent ist …

Lassen wir diese Ebene in Frieden, es gibt interessantere. Zwei­einhalb, um genau zu sein.

Wieso zweieinhalb?

Nun, sie verschmelzen. Zwei davon wenigstens. Oder andert­halb, wie ihr wollt. Während nämlich die Supernova Alpha auf­flammt, ist die sechsköpfige, erste Marsexpedition auf dem Hei­matkurs. Wer nun denkt, sie würden sogleich geröstet und wä­ren weg vom Fenster – wie es auch Präsident Steinmetz anfangs glaubt – , lasse sich eines Besseren belehren. Wer denkt, der EMP würde ihr Raumfahrzeug zu einem Stück toten Metalls de­gradieren, irrt gleichermaßen. Der EMP ist nur in der Erdatmo­sphäre und ringsherum wirksam. Weshalb er auch die ISS 1 und 2 eliminiert und sie in Gefrierkammern verwandelt, mit mensch­lichem Inhalt. Und die Marsexpedition, die zurückkehrt und in den Orbit einschwenkt, sieht sich mit einem respektablen Alp­traum konfrontiert: Das Netzwerk der Orbitalstationen, auf de­ren Hilfe sie angewiesen sind, um zur Erde zurückzukehren, ist außer Funktion, Hilfe vom Boden aus wird in den nächsten Jah­ren oder sogar Jahrzehnten nicht kommen.

Was tun? Improvisieren.

Ein Teil der Besatzung gelangt auch wirklich zur Erde und wird hier von einem Empfangskomitee erwartet – nur leider, um mit der Begründung konfrontiert zu werden, sie hätten „den Him­mel geschändet“. Denn die freundlichen Leute gehören der fa­natischen Argos-Legion an, einem militanten Untergrundorden um eine charismatische Führerin namens Pearl Lazenby. Und so werden sie zu Gefangenen.

Lazenby war von den Behörden der USA gefangen und zu mehr als sechshundert Jahren Strafe verurteilt worden – und so bizarr das klingen mag, zu diesem Zeitpunkt ist es ohne weiteres möglich, eine ähnlich lange Strafzeit „abzusitzen“ oder besser „abzuliegen“, denn es gibt Institutionen, in denen Gefangene in sogenannten „Strafschlaf“ versetzt werden. Problem: Die sind natürlich auch alle EDV-überwacht, und alle Chips sind irrepara­bel geschädigt. Will heißen: die Leute wachen langsam auf und werden in ihrem Schlafwaben vermodern.

Lazenby wird jedoch von ihren Anhängern befreit und beginnt nun damit, einen Feldzug zu predigen, der die ganze Mensch­heit von allem Unreinen (d. h. allen Leuten, die nicht weiß sind!) zu reinigen.

Na, Prost Mahlzeit, hm?

Kommt noch dicker.

Während im Bergwerks-Quartier der Argos-Legion die gestran­deten Raumfahrer allmählich mitbekommen, was für eine un­glaubliche Gefahr sich hier zusammenballt, befinden sich drei alte Menschen, zwei alte Männer und eine Frau Ende Vierzig, auf ihrer ganz privaten Odyssee durch die Vereinigten Staaten in der Nähe von Washington. Sie sind Krebspatienten, die einer besonderen, neuen Therapieform unterworfen wurden. Sie ba­siert darauf, dass die Krebszellen – ganz vereinfacht gesagt – am Wachstum gehindert werden und daraufhin absterben. Wenn jedoch diese Medikamente, die dafür erforderlich sind, falsch dosiert werden, hören auch alle anderen Zellen auf, sich zu teilen, was rasche Alterung und den Tod zur Folge hat. Und die Überwachungsgeräte über diese Therapie, die die alten Leu­te dabei haben, haben natürlich auch den Geist aufgegeben.

Also machen sie sich durch Sturm und Chaos auf den Weg zu ihrem medizinischen Zentrum, wo sie allerdings nur ein Lei­chenhaus vorfinden. Und dann erwähnt der Dritte im Bunde, Seth Parsigian – mir persönlich sehr unsympathisch – , dass es einen prominenten Forscher für diese Therapie gab, einen Mann namens Dr. Oliver Guest. Ein Mann, der inzwischen im Straf­schlaf liegt, für mehrere Jahrhunderte, weil er pädophil veran­lagt war und fast zwanzig Mädchen im Alter zwischen elf und vierzehn Jahren auf bestialische Weise umgebracht hat. Genau­es wird nie erzählt, aber man kann sich zusammenreimen, dass er sie wohl gehäutet hat und deren Häute aufbewahrte … wie schaurig die Sache indes WIRKLICH ist, bekommt man erst raus, als Guests Schildkröte im Roman auftaucht. Nicht verstanden? Lesen! Diese Stellen aus Guests „geheimen Tagebuch“ sind wirklich schaurig-faszinierend geschrieben.

Dr. Guest liegt genau da, wo Pearl Lazenby ebenfalls gefangen war, und so verknüpfen sich allmählich die Fäden.

Das eigentlich Schlimme sind zwei Hinweise, die im Roman nur so ganz beiläufig fallen: erstens nämlich sollen in etwa fünfzig Jahren weitere Strahlungsfronten die Erde erreichen, diesmal so energiereich, dass „alles Leben oberhalb der Ebene der Einzel­ler“ ausgelöscht wird (nette Untertreibung, hm?). Und der zwei­te Hinweis ist der auf die „Unmöglichkeit“ dieser Supernovabil­dung. Wie sagt es doch der Astronaut Wilmer Oldfield so tref­fend? Ich finde die Stelle jetzt gerade nicht, aber sinngemäß meint er: diese Explosion war völlig unmöglich. Irgend jemand muss sie also ausgelöst haben. Gezielt ausgelöst …

Es darf gegruselt werden.

Mit 670 Seiten Romanstoff ist das Buch recht umfangreich, aber man muss Sheffield und seiner Übersetzerin zugestehen, dass es lesbar ist und man beim Warten auf dem Arbeitsamt beispielsweise hundert Seiten en bloc ohne größere Probleme lesen kann. Das ist ein großer Vorteil und ist insbesondere bei „hard-science“-Romanen keineswegs die Regel. Häufig verfallen die Autoren einem tech­nizistischen Wahn und verlieren sich in ihren gigantomanischen kosmischen Labyrinthen und technischen Details. Sheffield schafft es ein wenig, das zu umgehen. Er hat ein anderes typi­sches Problem von hard science-Autoren zu meistern versucht, aber nicht in den Griff bekommen: den Blick auf die Handlungs­personen.

So liebevoll er auch seine Personen charakterisiert, so sehr fällt rasch auf, dass er außerstande ist, sie korrekt agieren zu lassen. Viele Wege der Handlung wirken künstlich, die Begegnungen manchmal ziellos, relativ konsequenzlos. Es gibt sehr wenige wirklich plausible menschliche Reibungen. Überall da, wo man Krisenpotential entfalten könnte, blendet Sheffield sofort wieder weg.

Da ist der homosexuelle Angestellte im Weißen Haus, der gerne mit dem Präsidenten … Entschärft.

Da ist der düstere Seth, der möglicherweise Menschen um­bringt, um voranzukommen … Entschärft.

Da ist der Astronaut, der fanatisch gläubiger Anhänger der Ar­gos-Legion wird, seine Gefährtin aber … Entschärft!

Und so weiter.

Überall da, wo es im zwischenmenschlichen Bereich wirklich realistische Konfrontationen geben könnte, gibt es hier Fehlstel­len, da wird gestottert, gestammelt, ausgewichen. Mangelnde menschliche Kompetenz. Findet man auch bei Stephen Baxter, dort noch ausgeprägter.

Dann fällt auf, dass Sheffield zwar eine globale Katastrophe be­schreibt, sich aber völlig außerstande sieht, sie darzustellen. Man sieht NUR die USA, der Rest der Welt kommt eher marginal in Nachrichten oder ähnlichem vor. Das mag ja noch normal sein, aber überall sieht man das. Die Perspektiven der Protago­nisten – Astronauten, Reisende im verheerten Land, Präsident der Vereinigten Staaten – sind sehr weitflächig, und das erwar­tet man auch. Wo versackt man? In einem ganz erstaunlichen „Kleinklein“, das zutiefst provinziell wirkt.

Fast wirkt schließlich die ganze Geschichte wie ein Spaziergang in einem leicht chaotischen Gelände, in dem sich nirgendwo richtige, ernsthafte Gefahren auftun … und dabei ist doch die Schaffung und das Klima der Argos-Legion nun wirklich etwas, weswegen man sich diesen Roman antun sollte. Er hat gute An­sätze, aber einen großen Wurf kann man ihn nur mit ziemlicher eigener Ignoranz nennen.

Kim Stanley Robinson tut dem Autor wahrlich keinen Gefallen, wenn er auf dem Umschlag schreibt: „Charles Sheffield ist einer der besten Hard-SF-Autoren unserer Zeit.“

If it is so, dann möchte ich die schlechten oder auch nur den Durchschnitt NIE kennen lernen!

© 2003 by Uwe Lammers

Ich sagte ja, es ist ein wenig frustrierend, über diesen Roman zu schreiben. Er erfüllt die in ihn gesetzten Hoffnungen doch nur sehr begrenzt. Auf eine interessante Weise trifft das auch auf ein zeithistorisches Buch zu, das ich in der kommenden Woche vorstellen möchte. Gleichwohl ist es deutlich interessanter als Sheffield.

Warum? Nun, lasst euch da mal überraschen.

Bis nächste Woche, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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