Rezensions-Blog 175: Ein Sherlock Holmes des Roten Planeten

Posted August 1st, 2018 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

heute erwartet euch mal ein ganz unerwartetes Abenteuer, das ihr euch ver­mutlich im Rahmen meiner Rezensions-Blogs nicht vorgestellt habt. Denn das Buch, das ich heute vorstelle, gibt es recht eigentlich gar nicht… wie, das ist ein Widerspruch in sich? Wie kann man ein Buch vorstellen, das es überhaupt nicht gibt? Oh, ich versichere euch, das ist für einen kreativen Kopf keine Zauberei. Es ist nicht einmal völlig singulär. Lasst mich dazu mal die Vorgeschichte erzählen, denn es ist immerhin über zehn Jahre her, dass ich das unten stehende Werk entwickelte, und es war (anfangs) strikt zielgebunden.

Wie viele von euch wissen, bin ich seit sehr langer Zeit bereits Chefredakteur des Fanzines „Baden-Württemberg Aktuell“ (BWA) des Science Fiction-Clubs Ba­den-Württemberg (SFCBW). Ich fülle diese Aufgabe mit Begeisterung und Lei­denschaft aus und bin auch nach mehr als dreizehn Jahren dieser Aufgabe durchaus nicht überdrüssig. Im Rahmen dieser Tätigkeit entwickelte ich ver­schiedene Themenbände, und der Themenband BWA 290 sollte im Zeichen des Themas „Mars“ stehen. Dazu kamen eine Menge interessanter Beiträge, und das Heft wurde eine schöne Ausgabe, auf die ich heute noch stolz bin.

Lange grübelte ich indes darüber nach, was ich selbst dazu beisteuern könnte. In meinem Oki Stanwer Mythos (OSM) ist der Mars eher unterrepräsentiert, und Stories aus dem Stegreif thematisch zu entwickeln und in kürzester Zeit niederzuschreiben, das ist für mich als intuitiver Schriftsteller so einfach nicht. Das entfiel also. Was dann aber tun…?

Tja, und da kam mir eine verwegene Idee. Ich erinnerte mich an den polnischen Phantasten Stanislaw Lem und sein Buch „Die vollkommene Leere“, das ich vor langer Zeit mit einiger Verwirrung gelesen hatte. Das Buch beinhaltet, und das ist kein Witz, Vorworte fiktiver Romane. Und zwar ausschließlich. Auf diese Wei­se entstand eine Art bizarrer Essayband mit zum Teil sozialkritischen Ansichten des Autors. Ein irritierendes, aber durchaus reizvolles literarisches Experiment.

Ich übertrug diesen Gedanken auf meine bevorstehende Aufgabe und mischte noch eine weitere meiner Leidenschaften hinein: Sherlock Holmes. Und dann kam Folgendes dabei heraus – was wäre, dachte ich mir, wenn es in der ferne­ren Zukunft auf dem Mars eine Kolonie gäbe und sich dort nach und nach eine eigenständige Kultur etablierte? Was, wenn es einen Kolonisten gäbe, der den physiologischen Herausforderungen seines Wohnortes nicht gewachsen wäre? Würde er, zumal als Schriftsteller, als den ich ihn entwarf, nicht alles versuchen, in seinen Geschichten Kompensation zu betreiben?

So tauchte Tarsin Vincent Eyslitt in meinem Leben auf. Und sein Protagonist, Janvier Tsangpo. Eine kuriose Figur mit einem nicht minder bemerkenswerten Lebenslauf. Und ich schrieb über Eyslitts drei fiktive Tsangpo-Romane. Mit dem Erfolg, dass diese Fiktivrezension nachgedruckt wurde und ich sogar noch einen Preis dafür gewann.

Neugierig geworden? Na, dann lest mal schön weiter und staunt, Freunde.

Vorhang auf für einen „Sherlock Holmes des Roten Planeten“:

Ein Sherlock Holmes des Roten Planeten

Ein marsianischer Mord

Rote Vergangenheit

Duell auf den Höhen

Drei Mars-Krimis (Kompakt-Edition)

von Tarsin V. Eyslitt

Quantum-Press, London, New York 2207

448 Seiten, Hardcover $ 21.80

Deutsch bei Scherz-Verlag, Bern

504 Seiten, Hardcover, 28.00 Neue Euro

Aus dem marsianischen Englisch von Derek Wild

Er lag am Ende der Schuttrinne, die fast zweihundertfünfzig Meter lang war, und sein verzerrtes rotes Gesicht starrte in einer bizarren Nachahmung eines Grinsens zu den Sternen empor, als man ihn fand. Mancher der Journalisten meinte ernsthaft, er habe gelacht, als er starb, aber damit ging diese Paralleli­sierung mit Janvier Tsangpo ganz offensichtlich zu weit.

Doch kann man natürlich angesichts des Todes des Autors nicht über die offen­sichtlichen Parallelen zwischen dem Schöpfer und seiner Figur hinwegsehen. Zweifelsohne ist Tarsin Vincent Eyslitt seiner Gestalt, dem Gentleman-Detektiv Janvier Tsangpo, sehr ähnlich gewesen, und er hat auch zeitlebens daraus kei­nen Hehl gemacht. Diese Ähnlichkeit bestand sowohl im Guten wie im Schlech­ten, und diese Werkausgabe ist gewiss ein guter Grund, diesen Parallelen ein wenig genauer nachzugehen, als es in den gängigen, kurzlebigen Nachrufen in den innersystemischen Netzzeitungen der Fall ist, wo Kürze noch mehr trium­phiert als Detailwissen, wo Fakten gering geschätzt werden, wenn man phantastischere Details ersinnen oder erspähen kann, die die Auflage mehr er­höhen. Die Widerrufe, die bald danach kommen, liest sowieso niemand.

Eyslitt hätte sich in dieser Situation ebenso bestätigt gefühlt wie Tsangpo.

Die Art und Weise, wie Tsangpos Schöpfer den Tod fand, erinnert in der Tat auf frappierende Weise an das vor zwei Jahren erschienene dritte Abenteuer des marsianischen Detektivs „Duell auf den Höhen“, und wohl unvergessen werden jene zynischen Abschiedsworte des Marsianers bleiben, als er, schon am Boden liegend und in die Mündung der gegnerischen Waffe starrend, das feine Knacken im Atemsystem seines Gegners hörte und dessen entsetzten Blick und den aufgerissenen Mund erblickte.

Ich nahm mir die Freiheit, Ihre zweite Sauerstoffpatrone gegen eine Stickstoff­patrone auszutauschen. Jetzt atmen Sie marsianische Luft.“ Unnötig zu erwäh­nen, dass dies die letzten Worte waren, die der Gegner jemals hörte. Und es ist schon gespenstisch, dann an diesen steilen Höhenzug zu denken, wo sich das abspielte, und dann die Bilder von der Bergung von Eyslitts Leiche zu vergegen­wärtigen, die um die Welt und durch das ganze Sonnensystem gingen.

Ich habe nur ein Leben, und ich gedenke, es auf die Weise zu verbringen, die meiner Person angemessen ist“, sagte Eyslitt acht Monate vor seinem Tod auf die Frage, warum er den Kontrakt über einundvierzig Millionen Dollar ab­gelehnt habe, den ihm das Random-House-Wilson-Konsortium in New Orleans für den vierten Tsangpo-Roman geboten hatte, von dem erst wenige Vorstudien existierten. „Ich schließe keine Kontrakte auf die Zukunft. Sie kommt dann für mich, wenn sie da ist, vorher nicht.“

Eyslitt, ein zäher, täglich acht Stunden Fitness betreibender Marskolonist, der durch den monatelangen Flug durch die kosmische Leere von der Erde zum Mars vor über dreißig Jahren eine grundlegende Muskel- und Gelenkschwäche davongetragen hatte, gehörte zu der Generation von Kolonisten, die mit ihrer eigenen Arbeit versuchten, den Mars in ein bescheidenes Paradies zu verwan­deln, wohl wissend, dass es stets ein fragiler Kosmos bleiben würde, der immer­zu der Aufmerksamkeit bedurfte. Niemand glaubte hier daran, dass ein Terra­forming dieser Welt irgendwann Erfolg haben würde, zu weit war der Planet von der Sonne entfernt, zu erkaltet sein Kern, und ein wie auch immer neu an­gefachter Vulkanismus hätte zuallererst alles zerstört, was sie aufgebaut hatten.

Marskolonisten wie Eyslitt waren hart, energisch, minimalistisch, und all das drückte sich dann auch in dem aus, was er tat, als unabweisbar klar wurde, dass er für physische Arbeit kaum mehr zu gebrauchen sein würde. Sein sprühender, kristallklarer Geist wandte sich neben der Ertüchtigung, die notwendig war, um sein Leiden nicht zu verschlimmern, der Essenz des menschlichen Verstandes selbst zu, und da er in den Netzzeitungen nur zu deutlich sehen konnte, dass selbst 125 Jahre nach der Kolonisation des Mars die alten, fast schon rassis­tischen Klischees zwischen Mars und Erde kursierten, die Vorurteile, Missver­ständnisse und all der Zank und Hader, da schlug er sich, im Herzen ohnehin seit langem Marsianer, ganz auf die Seite des Roten Planeten und griff gleicher­maßen „zur Feder“.

Auf die Frage, warum es denn eine Art „marsianischer Sherlock Holmes“ sein musste, den er charakterisierte und in die Welt hinausschickte, antwortete Eys­litt auf einer Pressekonferenz zu seinem Erstling „Ein marsianischer Mord“ im Juni 2188 lakonisch: „Kennen Sie sonst einen Detektiv auf dem Mars? Wenn ja, geben Sie mir doch seine Adresse.“ Damit entwaffnete er den Journalisten und trug wesentlich dazu bei, dass die ersten zehntausend Exemplare des Buches in Windeseile ausverkauft waren.

Und die Leser liebten ihn.

Ihn und seinen „Helden“, Janvier Tsangpo, einen gebürtigen Marsianer: Tsang­po, den lederhäutigen, hageren Mann, der auch vom Namen her so sehr an einen auf den Mars verpflanzten Tibeter erinnerte – was Sinn macht, weil bekanntlich viele Tibeter in der ersten Kolonistengeneration waren, und Eyslitt folgerichtig seinen Detektiv auch in eine marsisch-tibetische Familie integrierte und in einen Masuda-Aschram, in dem er aufwächst, nachdem seine Eltern in einem Drucksturm umgekommen sind. Vieles an diesem Schicksal deutet unzweifelhaft auf das Wunschschicksal Eyslitts hin, denn Tsangpo war eben vieles, was er selbst nicht war: nativer Marsianer, stark, kühl, selbstbewusster und deutlich zielstrebiger und erfolgreicher im Leben.

Eigentlich soll der junge Tsangpo Mönch werden, doch er ist erkennbar zu scharfsinnig für religiöse Dogmatik, stellt zu sehr kritische Fragen und ist zu­gleich für Predigten wegen seiner Wortkargheit wenig zu gebrauchen. Außer­dem entwickelt Tsangpo eine gewisse dandyhafte Neigung zu Exportkultur von der Erde und wird bald Stammgast in Spielhöllen von Port Bradbury, was ihm einen ernsten Verweis seines Abtes einträgt.

Das kümmert den sturen Tsangpo – hier ist es ganz Eyslitts alter Ego, wie man sieht – recht wenig. Er geht seinen Weg, liebt die Wanderungen in der lebens­feindlichen marsianischen Wildnis, wo er manchmal tagelang verschwindet. Und er wendet seinen scharfen Verstand ebenso an wie seine starke Physis. Gleich dem Vorbild, das Eyslitt womöglich auch vorgeschwebt hat, nämlich Sir Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes, ist der Marsianer in seiner Jugend be­geisterter Anhänger der Kampfkünste und höchst versiert, seine Gegner auf diese Weise in Verlegenheit zu bringen.

Dennoch gerät er eher durch Zufall in sein erstes Abenteuer hinein. Als er sei­nem zugewanderten und daher physisch schwachen Freund Alex Maylight hel­fen möchte, der in der Halbwelt in Schwierigkeiten geraten ist, hat er auf einmal einen Toten in seinem Hotelzimmer – einen waschechten Terraner, und dann sogar noch einen vom Nachrichtendienst, wie er bald darauf feststellen muss, als er selbst verhaftet wird.

Ein marsianischer Mord“ führt meisterhaft sowohl in die Tiefen der marsiani­schen Gesellschaft und beleuchtet die postkolonialistischen Ambitionen macht­hungriger irdischer Konzernkreise ebenso wie das schwierige Schicksal religi­öser Randgruppen auf dem Mars – es sei hier nur Maylights kleine jüdische Ge­meinde genannt, da ja die Masuda-Aschrams auf dem Mars wohl etabliert und gut situiert genannt werden können.

Die rigorose wie verblüffende Aufklärung des Mordes etabliert jedenfalls Jan­vier Tsangpos Ruf als unbestechlichen, rechtlich einwandfreien Staatsbürger des Mars, und sie demonstriert auch, dass ihm daran liegt, marsianische Rechte zur Geltung kommen zu lassen. So begründet er seinen Ruf als Detektiv.

Nach diesem Abenteuer wartete die Leserschaft lange acht Jahre bis zum zweiten Buch, auch dies mit nicht einmal 200 Seiten eine eher kurze Geschich­te, die man an einem Nachmittag geradezu verschlingen konnte. Und doch sehr gewöhnungsbedürftig. In diesem Buch schwenkte Eyslitt von unserer Welt fort und schilderte mit „Rote Vergangenheit“ etwas, das wir auf unserem Mars nicht finden können.

In der Tradition eines Edgar Rice Burroughs oder anderer Autoren des Pulp-Zeit­alters vor 300 Jahren, wärmte er die alte Geschichte von Schiaparellis Mars­kanälen wieder auf, die, wie wir seit langer Zeit wissen, eine Fiktion waren, aus­gelöst durch Beobachtungsungenauigkeiten der frühen Astronomie-Pioniere. Jahrzehntelang geisterten diese Kanäle durch die Weltgeschichte, und immer kühnere Geschichten von degenerierten, sterbenden Marskulturen entstanden, die in zerfallenden Palästen einer Hochkultur allmählich dahinschwanden. Auch unsere Hauptstadt Port Bradbury trägt bekanntlich den Namen eines solchen kühn schwadronierenden amerikanischen Phantasten jener Tage… und man­cher Kritiker spöttelte schon damals vor Erscheinen des Buches, als sein Inhalt durchsickerte, Eyslitt versuche sich jetzt wohl in „Science Fiction“, mancher wit­zelte, der reale Mars genüge ihm nicht mehr, jetzt müssten auch noch die „grü­nen Männchen“ her.

Doch wieder überraschte der Autor sie. Er hatte nicht acht Jahre über einem unausgegorenen, reißerischen Thema gegrübelt, sondern es auf die gewohnte, sowohl subtile wie auch intensive Art und Weise erforscht. „Rote Vergangen­heit“ enthält weder Zeitmaschinen noch grüne Männchen, auch keine Mars­kanäle. Sehr wohl hingegen Marsarchäologie und dezente Spuren einer marsia­nischen Urzivilisation oder wenigstens etwas, das für so etwas ausgegeben wird.

Eyslitt schnitt ein – wie üblich – sehr unangenehmes Thema an: Was geschieht, wenn man feststellen müsste, dass der Mars einstmals eine Zivilisation getragen hat, von deren technischen Errungenschaften sich die irdische Zivilisation große Vorteile verspricht? Wie würde die irdische Cosmic-Commonwealth-Regierung in London reagieren MÜSSEN, wenn so etwas sichtbar würde? Wäre es nicht unumgänglich, den Status der Marskolonisten drastisch einzuschränken und vor allen Dingen eine dauerhafte Garnison des Commonwealth auf den Mars zu verlegen, um frühzeitig technologischen Transfer zugunsten der Kolonisten zu unterbinden?

Es ging also um Autonomie und Okkupation. Um stellare Politik. Und natürlich um Intrigen. Deshalb waren die konkurrierenden Unternehmen der Aldersley-Expedition und der Yin-Sin-Unternehmung so wichtig und so hochpolitisch. Wieder war es eher ein Zufall, der Janvier Tsangpo auf die sterbende Journalis­tin Rebecca Riley stoßen ließ, deren letzte Worte ihn mit völligem Unglauben erfüllten: „Retten Sie die rote Vergangenheit… schützen Sie die Urmarsianer…!“

Ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass dieses zweite Abenteuer noch weit aufregender, weit brisanter und politischer war als das erste. Zwei­undzwanzig Millionen Leser allein der Erstauflage fanden das damals ebenso, und der schon zu bescheidenem Wohlstand gelangte Autor wurde so in den bestirnten Himmel der vermögenden High Society des Mars katapultiert.

Und selbstverständlich hungerte die Fangemeinde nun nach weiteren Abenteuern des ersten marsianischen Detektivs. Viele Neugeborene wurden auf den Namen „Janvier“ getauft, was man in ein paar Jahren in den Schulen und Universitäten wird feststellen können. Auf diese Weise, wenigstens auf die­se Weise, hat sich Tarsin Vincent Eyslitt unsterblich gemacht.

Die Leserschaft musste sich weitere neun Jahre gedulden, bis 2205 endlich der letzte Roman über den marsianischen Detektiv auf den Verkaufstischen lag. Er schoss sofort raketengleich an die Spitze der Bestsellercharts und verkaufte sich in so ungewöhnlicher Weise, dass die Tantiemen aus diesem Werk und den Neuauflagen der beiden früheren Romane es dem Autor Eyslitt ermöglichten, sich endlich seine eigene Villa zu kaufen, eigenes Dienstpersonal einzustellen und damit auch eine Wacheskorte, die allzu aufdringliche Reporter und Fans von ihm fernhielt. Dies war dringend erforderlich.

Wie sein alter Ego Tsangpo nutzte er jede Gelegenheit, in die marsianischen Wüsten hinauszuwandern, sehr selten mit Begleitung, und er war äußerst unge­halten, wenn er feststellte, dass man ihm folgte. Denn der Ruhm hat das hässli­che zweite Gesicht, dass er anstrengend ist, dass er wie eine steinerne Mühle die Privatsphäre zermahlt und höchst selten haben die Menschen, die sich wünschen, berühmt zu sein, sich eindringlich klargemacht, dass sie dies dann für den Rest ihres Lebens sein werden. Man misst sie an der Fassade, die sie um ihr Leben errichtet haben, und haben sie dies nicht getan, bleiben sie verletzlich, für die Medien, für Rivalen, für Neider und für Fans.

Eyslitt schmerzte wohl vor allen Dingen die Unfähigkeit seines Publikums, zu verstehen, dass er die Öffentlichkeit mit Absicht floh. Er wollte keine schönen Frauen heiraten oder mit ihnen Affären haben, es gelüstete ihn nicht nach weiten Reisen, denn dazu war er von seiner Physis her gar nicht mehr imstande. Sein einziges, größtes Vergnügen bestand darin, die Einsamkeit zu genießen.

Im Kopf ist jeder Mensch allein, so sehr er sich auch der Illusion der Gemein­schaftlichkeit in geselliger Runde hingeben mag“, gab er gern einen Spruch sei­nes Detektivs Tsangpo wieder, der einem Glaubenssatz der Masuda-Tibeter ent­spricht. Und er ergänzte in „Duell auf den Höhen“ in einer selten philosophi­schen Laune: „Viele Menschen geben sich der Illusion hin, gesellige Wesen zu sein und schätzen nichts mehr als die Gegenwart von Lebenspartnern, Freunden oder Familienmitgliedern. Diese Illusion ist verständlich, aber sie lässt sich nicht auf alle Personen anwenden. Die Illusion der Geselligkeit ist zugleich ein eisiger Dorn, der der Quell aller Schmerzen der Seele ist, und wer die Schmerzen ver­meiden oder überwinden möchte, muss auch diese Illusion überwinden. Nicht nur die Stärke liegt in der Einsamkeit, sondern auch die Wahrheit.“

Für Tarsin Vincent Eyslitt gab es nie einen Zweifel, dass diese Wahrheit, diese Einsamkeit dort draußen lag, jenseits der klimatisierten Kuppeln der Marssied­lungen. Die Menschheit, die den Mars besiedelt, ist hier nur zu Gast, erwähnte er einmal, und wir werden nie hier völlig verwurzelt werden. Dies wusste sogar seine Figur Tsangpo, und daraus resultieren ihre melancholischen, bitteren An­wandlungen und ihre Schweigsamkeit.

Wir werden wahrscheinlich nie erfahren, was Eyslitt an jenem 8. August 2206 dort draußen gesucht und gefunden hat. Der Obduktionsbericht sagt aus, es habe sich nicht um einen Selbstmordversuch gehandelt, sondern eher um einen Schwächeanfall, der ihn auf dem Höhengrat das Gleichgewicht verlieren ließ. Wie jeder Marstourist und Marsbewohner gut weiß, genügt das völlig, um zu sterben. Schon ein gewöhnlicher Sturz auf das in der Regel scharfkantige Mars­gestein ist hinreichend, um den Druckanzug zu beschädigen, und wenn nie­mand in der Nähe ist, braucht es nicht mehr, um in eine lebensbedrohliche Lage zu geraten. Der Schriftsteller Eyslitt wurde erst nach elfstündiger Suche gefun­den, inzwischen völlig steifgefroren und mit einem geradezu mythischen Grin­sen im Gesicht, als wolle er den Marsgöttern der Vergangenheit ein für allemal widersprechen.

Der vierte Tsangpo-Roman sollte, soviel ist inzwischen bekannt, „Marsianisches Requiem“ heißen. Auf tragische Weise hat die Recherche den Autor zu weit ge­führt und den Titel zu einer sich erfüllenden Prophezeiung gemacht.

Zweifellos wird eine in Arbeit befindliche Biografie des bekannten Kriminalisten Peter Belford Licht in diese Dinge bringen. Bis dahin bleibt uns nur, erneut in die Abenteuer des ungewöhnlichen marsianischen „Sherlock Holmes“ einzutau­chen, die anlässlich des Todes seines Schöpfers hiermit erstmals in kompakter Edition vorliegen, hilfreich ergänzt um einen Essay von Belford, der die biografi­schen Parallelen und Unterschiede zwischen Verfasser und Romanfigur ins rechte Licht rückt und der Mythenbildung Vorschub leistet. Man wünscht sich als Leser mehr solche wohl ausgewogenen Darstellungen. Und wer weiß, viel­leicht kommt ja dereinst jemand daher, der wie damals, als der Meisterdetektiv Sherlock Holmes als Bienenzüchter in den Ruhestand geschickt wurde, Tsang­pos weitere Abenteuer erzählen mag.

Denn machen wir uns nichts vor – ein Autor ist sterblich, keine Frage. Aber eine berühmte Romanfigur gewiss nicht…!

© 2007 [2207] by Uwe Lammers

Tja, Freunde, ihr könnt euren ungläubig aufgerissenen Mund jetzt wieder schließen. Ich hoffe, ihr habt das kleine Leseabenteuer, das weitaus eher eine Kurzgeschichte denn eigentlich eine Rezension war, genossen. Und um aufflam­mende Erwartungen – die damals übrigens bei beiden Veröffentlichungen des Textes sofort in den Lesern erwachten und die ich sehr gut verstehen kann – so­gleich zu ersticken: Nein, es gibt diese drei besprochenen Romane bis heute nicht. Und nein, ich habe in absehbarer Zeit nicht vor, sie zu schreiben… wie­wohl ich einschränkend sagen muss, dass es tatsächlich ein Geschichtenfrag­ment zu Janvier Tsangpo gibt, das mir seither eingefallen ist. Aber ob und wann ich es fertigstelle, ob und wann ich mich der Herausforderung der obigen Romane stelle, steht buchstäblich in den Sternen.

Ich möchte andererseits niemanden von meinen Lesern daran hindern, die obi­ge Idee aufzugreifen und zu realisieren. Um mit einem Schmunzeln die Wahr­heit zu sagen: die Romane würde ich selbst gern lesen. Und da bin ich vermut­lich nicht alleine.

In der kommenden Woche begeben wir uns buchstäblich wieder auf irdischeres Terrain, nämlich ins archaische Pliozän, um zu sehen, wie der Machtkampf der exilierten Terraner und der Tanu weitergeht. Ich versichere, Freunde, es wird aufregend.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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