Rezensions-Blog 206: Sabotage

Posted März 6th, 2019 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

als Clive Cussler für eine Weile genug hatte von den Helden der NUMA, da kochte er sich aus seinem historischen Interesse für Oldtimer und seinem Faible für Agentenabenteuer einen neuen Cocktail zusammen und sprang munter für einen Oneshot in den Anfang des 20. Jahrhunderts. In eine Zeit, in der die Tech­nik noch relativ archaisch war, aber mittels erstaunlicher technischer Neuerun­gen doch schon an der Schwelle zur Moderne stand. Politisch war es eine Zeit der Radikalisierung, der immer noch krassen Schichtengegensätze. Eine Zeit der Attentäter, der Privatdetektive und der korrupten Polizei.

Als neuen Typus des Helden erschuf er Isaac Bell, einen vermögenden Bankiers­spross, der sich entgegen den gesellschaftlichen Erwartungen hemdsärmelig und kampfstark sowie extrem technophil der Van Dorn-Detektei anschloss und hier Ermittler wurde. So entstand der Roman „Höllenjagd“.1

Ganz offensichtlich wurde dieser Roman solch ein Überraschungserfolg – man kennt das aus dem modernen Kino etwa von den Marvel-Filmen „Ant-Man“ oder „Guardians of the Galaxy“, sodass Cussler sich dafür entschied, diese Per­son nicht einfach wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen. Stattdessen gewann er mit Justin Scott einen versierten Coautor, der Bell in einem weiteren Abenteuer auf die moderne Kriminalität des frühen 20. Jahrhunderts in Nordamerika losließ.

Diesmal geht es um die nordamerikanischen Eisenbahnen und ein Phantom, das Chaos und Verderben sät und sich chamäleongleich jeder Verfolgung ent­zieht. Vorhang auf für den heutigen Roman:

Sabotage

(OT: The Wrecker)

Von Clive Cussler & Justin Scott

Blanvalet 37684

608 Seiten, TB, 2012

Übersetzt von Michael Kubiak

ISBN 978-3-442-37684-1

Man schreibt den Herbst des Jahres 1907 in den Cascade Ranges, Oregon, als das Herzstück des großen Eisenbahnimperiums der Southern Pacific Railroad Company des herrischen Osgood Hennessy fertig gestellt werden soll: der Cas­cade Cutoff, ein Tunnel mit anschließender Brückenkonstruktion. Beides zusam­men soll den Bahnverkehr von einer Seite des nordamerikanischen Kontinents zur anderen auf spektakuläre Weise verkürzen und Hennessy zum unangefoch­tenen Herrscher über die Bahnlinien Nordamerikas machen.

Es gibt dabei nur ein Problem: er hat einen Gegner, den er nicht einkalkuliert hat. Das ist nicht das wilde, stürmische und oftmals schwer berechenbare Wet­ter, es sind auch nicht Rivalen anderer Eisenbahnlinien oder knauserige Banki­ers der Wall Street.

Nein, dieser Feind kommt gewissermaßen aus dem Nichts, und er scheint mit allen Wassern gewaschen zu sein – er wird „der Zerstörer“ genannt und ist schlichtweg ein Phantom.

Sein erster Anschlag wirft die Tunnelarbeiten um Wochen zurück. Daraufhin te­legrafiert Hennessy Joe Van Dorn, dem Leiter des Van Dorn-Detektivbüros. Van Dorn soll weitere Sabotageakte unterbinden helfen, und er bringt sogleich sei­nen besten Mann mit – Isaac Bell.

Bell hat neben seiner Loyalität für die Van Dorn Agentur noch einen anderen Grund, warum er diesen Auftrag gern annehmen will. Bei der Explosion, die den Tunnel zum Einsturz brachte, ist ein einstiger Van Dorn-Agent namens Aloysius „Wish“ Clarke umgekommen, den er sehr schätzte. Bald stellt sich heraus, dass er, obgleich er mit einer gezogenen Schusswaffe armiert war, von vorn ersto­chen worden ist. Mithin ist das kaltblütiger Mord gewesen. Und Bell gibt diese Todesart Rätsel auf. Er weiß, dass Wish extrem schnell mit der Waffe war. Aber nicht schnell genug für ein Messer? Äußerst eigentümlich – und gefährlich.

Zudem bekommt Bell Schwierigkeiten mit der schönen, jungen Tochter Lillian des Eisenbahnmagnaten, die es sich in den Kopf setzt, ihn unbedingt verführen zu wollen. Die Vorstellung, dass er schon verlobt ist, scheint die attraktive Lillian eher noch zu befeuern. Dabei kann Isaac Bell das nun gar nicht gebrauchen. Er bemüht sich darum, Lillians Hoffnungen nicht zu bestärken und sich lieber um die eigentliche Hauptaufgabe zu konzentrieren.

Wer mag der „Zerstörer“ sein? Tatsächlich ein politischer Radikaler, wie es bei­spielsweise Osgood Hennessy gern zu glauben bereit ist? Es gibt keinen Mangel an radikalen Sozialisten zu dieser Zeit in Nordamerika, und gerade die reichen Eisenbahntycoone und ihre ausbeuterischen Methoden sind geeigneter Nähr­boden für unzufriedene Elemente. Dass auch immer wieder tote Anarchisten mit Bekennerschreiben bei Unglücksstellen gefunden werden, scheint die Theo­rie zu erhärten.

Isaac Bell ist das alles zu glatt. Aber er kann den Finger noch nicht auf die Punk­te legen, die ihm zu elegant und unwahrscheinlich zugleich erscheinen. Er lässt die Sicherheitsvorkehrungen am Cutoff verstärken und kehrt dann zu seiner Verlobten Marion Morgan nach San Francisco zurück.

Hier wird er von einer Schlagzeile wie ein Hieb getroffen: der Zerstörer hat rund 500 Meilen vom Cutoff entfernt ganz offensichtlich einen Personenzug entglei­sen lassen, wenigstens zwanzig Menschen sind dabei umgekommen. So macht sich Bell kurzerhand wieder auf den Weg und verfolgt die neue Fährte. Auch hier wird ein toter Radikaler mit einem Bekennerschreiben gefunden, aber dies­mal sieht es noch unrealistischer aus als beim Cutoff. Denn das Instrument, das den Zug entgleisen ließ, ist ein raffiniert in den Schienenstrang integrierter hal­ber Schiffsanker gewesen, der noch erhalten ist.

Isaac Bell beginnt zu verstehen, dass sein Feind höchst raffiniert ist, verschla­gen, grausam und äußerst schwer berechenbar. Außerdem ist er unglaublich flexibel, ein Mann ohne Gesicht, aber offenkundig ausgestattet mit einer gro­ßen Zahl willfähriger Helfer. Und er besitzt auch keinerlei Skrupel, die Helfers­helfer eigenhändig anschließend umzubringen, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben.

Das pathologische Hauptanliegen des Zerstörers scheint es zu sein, die Southern Pacific Railroad Company zu ruinieren. Wenn er den Cutoff final sabo­tieren oder Hennessy sonst wie einen verheerenden Schlag zufügen kann, der das Vertrauen der Banken in seine Unternehmungen nachhaltig erschüttert, ist Hennessy offensichtlich am Ende.

Nur… ist dies alles tatsächlich das Ziel des Zerstörers? Oder verfolgt er jenseits seiner zahlreichen brutalen Attentate noch ein übergeordnetes Ziel, das noch nicht einmal in Sichtweite ist?

Sehr schnell wird in dem monatelangen Rennen gegen die fortwährenden Sabo­tageakte ein immer deutlicheres Muster erkennbar, und schließlich gelingt es Bell, einen verheerenden Anschlag des Zerstörers zu vereiteln und ihn nach und nach in die Direktkonfrontation zu treiben.

Dennoch dauert es nervenaufreibend lange, bis endlich der Feind ein Gesicht bekommt, das man auch zweifelsfrei zuordnen kann. Und der Schrecken be­kommt eine Kontur, die selbst Isaac Bell für unmöglich gehalten hat und die ihm letztlich alles abverlangen wird, um der eigenen Vernichtung zu entgehen und vor allen Dingen das Schicksal Amerikas zu retten…

Eigentlich war wohl der erste Isaac Bell-Roman „Höllenjagd“ als Einzelband an­gelegt. Dafür sprach sowohl, dass Clive Cussler ihn vermutlich alleine geschrie­ben hat (es wird jedenfalls kein Coautor genannt), zweitens aber die Erzähl­struktur. Denn entgegen den sonstigen Cussler-Romanen, die stets einen „histo­rischen“ Vorlauf besitzen oder sogar deren mehrere, verhielt es sich bei „Höl­lenjagd“ so, dass quasi der „Nachspann“ den Beginn der Geschichte bildete, und zwar Jahrzehnte nach dem eigentlichen Handlungsstrang. Damit stand na­türlich von Anfang an fest, dass Bell den Roman würde überleben müssen. Und da „Sabotage“ dem Prolog von „Höllenjagd“ klar vorgelagert ist, ist ebenfalls deutlich, dass der Hauptheld alle Konfrontationen der Geschichte überleben muss. Wir befinden uns hier ja nicht in meinem Oki Stanwer Mythos.

Dramaturgisch ist diese Erzählform, die uns in diesem Roman wieder begegnet, also ein Handicap (der Prolog von „Sabotage“ spielt im Winter 1934 in Gar­misch-Partenkirchen, aber es wird an dieser Stelle nicht verraten, warum oder weshalb, das sollte man selbst nachlesen). Dieses Handicap wird aber durch das Einführen weiterer Personen abgemildert.

So bekommt der Leser beispielsweise eine ganze Reihe äußerst sympathischer Van Dorn-Agenten zu Gesicht, von denen einige auf üble Weise ums Leben kommen (auch hier sei nicht verraten, wer, wann oder unter welchen Umstän­den). Außerdem haben wir Osgood Hennessys bildhübsche Tochter Lillian, die von dem Senator Charles Kincaid erfolglos umschwärmt wird, den dubiosen Klatschreporter Preston Whiteway und zahlreiche weitere Personen, die einen zunehmenden personellen Nebel um die ohnehin vernebelte Gestalt des Zer­störers ziehen.

Je weiter der Roman sich entwickelt, desto mehr hat der Leser das Gefühl, ei­nem komplexen Schachspiel zu folgen, dessen Züge tödlich sind und das zuneh­mend auf Eisenbahnschienen ausgetragen wird, wobei der Gegner nicht be­kannt ist. Selbst als später ein Fahndungsbild möglich wird, wird das kriminelle Genie nicht gefasst. Immer wieder machen Bell und seine Mitarbeiter vielmehr die beunruhigende Entdeckung, dass ihnen der Zerstörer weit voraus ist. Und dass er offensichtlich das Medium, das er zu zerstören trachtet, die Eisenbahn, als Vehikel der eigenen fluiden Bewegung verwendet.

Der Leser bekommt zwar erheblich früher als der Detektiv mit, wer der Sabo­teur ist und vor allen Dingen, wer seine Helfershelfer sind… aber Isaac Bell tappt noch eine ganze Weile im Dunkeln, was ihn fast das Leben kostet. Und das ist dann wirklich ziemlich nervenzermürbend für den Leser, zumal dann, wenn Bell direkt im Gespräch mit dem Feind steht, ohne ihn zu erkennen…

Alles in allem ein äußerst packender Roman, der die Welt der Eisenbahnen von 1907 auf beeindruckende Weise belebt. Justin Scott hat hier ein wirklich gelun­genes Debüt hingelegt, das mit breitem historischem Fachwissen des Jahre 1907 punkten kann und den großen Reiz des Romans ausmacht. Er ist dennoch definitiv nicht nur etwas für Eisenbahnfans oder Nostalgiker, sondern für Leute, die spannende Unterhaltung mögen (auch wenn natürlich Eisenbahnnostalgie diese Lektüre noch deutlich verstärken wird, davon bin ich überzeugt). Ich bin schon sehr gespannt auf die wenigstens drei weiteren Romane dieser Reihe, die z. T. noch nicht mal übersetzt sind.2

© 2013 by Uwe Lammers

Ich muss gestehen, das ist eine wirklich äußerst rasante Geschichte, aus der man eigentlich nicht mehr auftauchen kann, wenn man erst mal drinsteckt. So­wohl die Frühzeit des 20. Jahrhunderts, die mir als Historiker durchaus vertraut ist, als auch die packende Verfolgungsjagd, die sich Bell mit seinen Gefährten und der kriminellen Gegenseite liefert, wusste sehr zu gefallen. Da ich inzwi­schen schon mehr dieser Romansubreihe gelesen habe, ist sie wirklich zu emp­fehlen. Eine schöne Abwechslung von den maritimen Abenteuern Dirk Pitts und Kurt Austins, die doch bisweilen ein wenig bemüht wirken. Hier ist davon bis­lang noch nichts zu spüren, und ich hoffe, das bleibt noch eine ganze Weile lang so.

Im nächsten Artikel des Rezensions-Blogs bleiben wir, könnte man fast sagen, beinahe in derselben Zeit. Genauer gesagt geht es noch etwas zurück auf der Zeitskala ins Jahr 1889, aber diesmal mittels einer magischen Zeitreise. Viel­leicht solltet ihr das nicht versäumen, Freunde.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. dazu den Rezensions-Blog 186 vom 17. Oktober 2018.

2 Nachtrag vom Oktober 2018: Diese Info ist natürlich heutzutage längst überholt. Es gibt wenigstens ein Dut­zend Bell-Romane, da sie sich offenkundig als höchst verkaufskräftig erwiesen haben.

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