Rezensions-Blog 301: Die dunkle Festung (4/E)

Posted Dezember 30th, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

tja, und als ich diese Abschlussrezension zum letzten Band des „Commonwealth-Zyklus“ von Peter F. Hamilton anno 2007 nie­derschrieb, war ich – ihr werdet es sehen – vollkommen über­wältigt und im extrem positiven Flow. Nun könnte man glauben, dass ich, als ich anno 2011 den Zyklus das zweite Mal las (um auf seinen Folgezyklus „The Void“ vorbereitet zu sein), deutlich kritischer gewesen und infolgedessen die Rezension abgeändert haben müsste.

War das so?

Nein, keinen Deut. Ich kann durchaus mit The Guardian zustim­mend konstatieren: „Das beste Buch, das Hamilton in den letz­ten Jahren geschrieben hat.“ Das trifft absolut den Kern. Her­ausgekommen ist nicht nur ein rundum gelungener Zyklus­schluss, sondern auch ein hochdramatisches Garn, das jede Menge offene Enden abschließt (und einige weitere bestehen lässt bzw. neue Rätsel aufploppen lässt). Zwar bin ich mit Su­perlativen immer ein wenig vorsichtiger als etwa Journalisten, aber das hier ist wirklich eine gelungene, menschliche Space Opera. Darin unterscheidet sie sich grundlegend etwa von ähnli­chen Zyklen eines Stephen Baxter, bei dem ich immer die ab­weisende Kälte und Unnatürlichkeit der menschlichen (!) Prot­agonisten moniere.

Hamilton versteht es echt, vielschichtige Charaktere mit menschlichen Verhaltensweisen zu kreieren. Das gelingt nicht jedem.

Wer also sich bislang durch die ersten drei – wenn man das Jeff Baker-Präludium hinzuzählt, sind wir sogar bei vier Romanen – genussvoll gegraben hat, wird hier einfach nur rasant weiter­schmökern wollen und ganz dieselbe Leseerfahrung machen wie – gute Bücher wie dieses hier sind viel zu schnell ausgelesen!

Also, Vorhang auf zum letzten Akt des Commonwealth-Dramas:

Die dunkle Festung

Commonwealth-Zyklus Roman 2, Teil 2

(OT: Judas Unchained, Part II)

von Peter F. Hamilton

Bastei 23304 [sic!]1, April 2007

800 Seiten, TB; 9.95 Euro

Deutsch von Axel Merz

ISBN 3-404-23304-2

Lange hat der Leser warten müssen, bis endlich der für Dezember 2006 angekündigte Abschlussband des Commonwealth-Zyklus vorliegt, und man ist wirklich sehr bekümmert, wenn man das Buch zur Seite legt, das ange­sichts der Probleme, die nur andeutungsweise gelöst werden, wirklich gern noch hundert Seiten länger hätte sein können. Aber Moment mal, Freunde … ihr wisst ja noch gar nicht, was ich weiß. Also einen Gang zu­rück und hinein in die Geschichte:

Wir erinnern uns – das irdische Commonwealth mit seinen rund 600 besie­delten Welten, von denen viele von langlebigen irdischen Dynastien be­herrscht werden (eine gewisse Parallele zur edenitischen Gesellschaft zeichnet sich hier ab, wie sie im Armageddon-Zyklus existierte, ohne aber auch nur näherungsweise die dortigen Dimensionen zu erreichen), wird von einer Invasion heimgesucht. Der ferne Stern Dyson Alpha, den vor we­nigen Jahren der Astronom Dudley Bose entdeckte und zum Missionsziel für das erste Weitstreckenraumschiff der Menschheit machte, hat sich buchstäblich als „Stern der Pandora“ entpuppt, denn das Erscheinen der Menschen löste die gewaltige Sphäre auf, die das gesamte Sonnensystem umhüllte. Seither sind die solaren Welten einem unerbittlichen Ansturm von Kampfschiffen und Motile-Fußsoldaten der Primes ausgesetzt, die von einem Wesen namens MorningLightMountain gelenkt werden. Hinter der Attacke steht, aber das ist noch nicht klar, der eindeutige Wunsch Mor­ningLightMountains, die menschliche Rasse auszurotten, ja, alles Leben, das nicht der Prime-Spezies entstammt.

Die Raum-Navy und die Dynastien versuchen so schnell als möglich, Kampfgeschwader zu schaffen und vor allen Dingen furchtbare Vernich­tungswaffen, denn die Primes lernen schrecklich schnell. 23 Welten des Commonwealth, die „Lost 23“, haben sie schon überrannt, Millionen Kolo­nisten sind auf der Flucht, und jederzeit können die Gegner wieder angrei­fen. Das droht umso mehr, als der Überraschungsschlag gegen das so ge­nannte „Höllentor“, den Brückenkopf der Primes, auf halbem Weg zum System Dyson Alpha gelegen, ein Fehlschlag gewesen ist.

Soweit die Außenpolitik.

Innenpolitisch ist ebenfalls die Hölle los, und das hat zu tun mit einem le­gendären Wesen, das man den „Starflyer“ nennt. Der Terrorist Bradley Jo­hansson, der Gründer der „Guardians of Selfhood“, einer sektenartigen und in Clans organisierten Gemeinschaft, die ihren Ursprung auf der abge­schiedenen und rückständigen Welt Far Away hat, behauptet immer: der Starflyer entstammt dem extraterrestrischen Wrack, das auf Far Away von den Kolonisten gefunden wurde, und er habe den Weg ins Commonwealth gefunden, um hier die herrschenden Gruppierungen zu infiltrieren. Er sei ein Erzfeind der Menschheit, der ihrer aller Vernichtung plane. Das Ziel der Guardians sei es, den Starflyer an der Rückkehr nach Far Away zu hindern oder, wenn dies misslinge, dort den letzten Kampf zu führen, sozusagen „die Rache des Planeten“ zu ermöglichen. Was genau das ist, wird erst sehr spät klar, aber dann fallen alle Mosaiksteine seit Band 1 an ihre richti­ge Stelle, auf atemberaubende Weise.

Johansson, um noch mal zu ihm zurück zu kommen, erkennt sowohl in der Entdeckung von Dyson Alpha, dem Flug des Sternenschiffs als auch in der Invasion der Primes die „Handschrift“ des Starflyers.

Natürlich glaubt niemand einem Terroristen, schon gar nicht Chief Investi­gator Paula Myo, die Johansson und seinen Waffenlieferanten Adam Elvin, einen gescheiterten radikalen Sozialisten, schon seit 130 Jahren jagt. Was zeigt, wie gerissen und gefährlich die Gegner sind: Myo genießt den legen­dären Ruf, niemals einen Fall zu verlieren und nie zu versagen.

Inzwischen jedoch haben Attentate, Verrate und Intrigen selbst die Krimi­nalistin von der Existenz des Starflyers überzeugt. Leider zu spät: in ihrem eigenen Pariser Sicherheitsbüro saß über viele Jahre einer der Agenten, der nun auf der Welt Illuminatus ein Blutbad angerichtet hat. Aber dieses Blutbad hat, so pervers es klingen mag, seine positiven Seiten: er bringt Myo und die Starreporterin Mellanie Rescorai zusammen, die sich aus be­greiflichen Gründen nicht ausstehen können. Und sie verhaften eine Diene­rin des Starflyers, unangenehmerweise eine Angehörige der Großen Dy­nastien. Myo lässt sie auf dem außerirdischen stationären Artefakt High Angel von einem Angehörigen der Rasse der Raiel mental durchleuchten, und tatsächlich ist dieser Raiel daraufhin imstande, andere Starflyer-Agen­ten zu enttarnen.

Admiral Wilson Kime und seine engsten Mitstreiter in der Führung der Dy­nastien, allen voran Nigel Sheldon und Justine Burnelli, begreifen jetzt end­gültig, dass sie Kontakt zu Johansson brauchen. Wenn wirklich Far Away der Knotenpunkt des verheerenden Netzes ist, das den Intrigen des Star- flyers zugrunde liegt, dann müssen sie ihn an der Rückkehr hindern. Allerdings müssen sie konsterniert feststellen, dass vor langer Zeit jemand verhindert hat, diese Möglichkeit wahrzunehmen – ein Verschollener namens Ozzie Fernandez Isaacs. Was die bestürzende Frage aufwirft, ob Ozzie selbst zu den Agenten des Starflyers zählt.

Bevor jemand diese Furcht erregende Vorstellung verfolgen kann – Furcht erregend deswegen, weil Ozzie zusammen mit Nigel Sheldon einst die Wurmlochtechnologie entwickelte, auf der das gesamte Commonwealth basiert! – , schlagen die Primes erneut zu. Diesmal schicken sie Zehntau­sende von Kampfschiffen in weitere 48 Systeme, darunter ins Zentralsys­tem Wessex. Und sie feuern rätselhafte Waffen in die Sonnen der Systeme selbst ab …

Derweil „hängt“ Ozzie Isaacs mit dem halbwüchsigen Orion und dem exoti­schen Alien Tochee im „Gashalo“ der gleichfalls außerirdischen Silfen her­um. Wie erinnerlich war er ja eigentlich etwa zeitgleich mit dem Beginn der Dyson-Alpha-Mission aufgebrochen, um über die geheimnisvollen Sil­fenpfade Kontakt mit den menschenscheuen Aliens aufzunehmen, fest davon überzeugt, dass sie über Dyson Alpha Bescheid wissen.

Dummerweise verirrten sich Ozzie und seine Freunde monatelang auf den Pfaden, strandeten auf einer fast tödlichen Eiswelt … und nun erfahren sie im Gashalo tatsächlich, was sie wissen wollen. Nur leider viel zu spät: in der Welt der Menschen sind beinahe drei Jahre vergangen, Millionen Men­schen sind bei den Angriffen der Primes ums Leben gekommen, und Nigel Sheldon hat zwangsweise eine Genozid-Strategie eingeschlagen. Admiral Kime hat seinen Hut nehmen müssen … Ozzie beschließt, schleunigst zu­rückzukehren. Allerdings ist ihm überhaupt nicht klar, was ihn erwartet …

Und dann sind da die Guardians. Sie planen, das momentan weitgehend isolierte Tor auf der Welt Boongate zu durchschreiten, um sich mit ihren Gefährten auf Far Away zu vereinen. Gemeinsam wollen sie verhindern, dass der Starflyer die Möglichkeit zur Flucht wahrnimmt – denn das Institut der Halgarth-Dynastie, das eigentlich das gestrandete Alienschiff untersu­chen sollte, hat es in Wahrheit in Stand gesetzt: alle Bediensteten sind Sklaven des Starflyers, und inzwischen sind sie dabei, die Clans der Guar­dians abzuschlachten. Für Adam Elvin und seinen Mentor Johansson das eindeutige Indiz dafür, dass der Starflyer zurückkehrt, bevor die Primes dem Commonwealth den Garaus machen – ganz wie vom Starflyer er­wünscht.

Dabei scheint ihnen das unheimliche Alien stets einen Schritt voraus zu sein. Schlimmer noch: auf Far Away müssen die seltsamen Verbündeten, die hier schließlich gegen die Macht des intriganten Außerirdischen antre­ten, erkennen, dass da noch immer der Judas ist, der von Anbeginn den Untergang der Menschheit im Auftrag des Starflyers betrieben hat. Und er ist mitten unter ihnen, noch immer nicht entlarvt …

Wollte ich behaupten, das Buch sei spannend, wäre das wohl die Untertrei­bung des Jahrhunderts. Langweilig wird es an keiner Stelle, und es ist wirk­lich – leider, möchte man fast sagen – kein Problem, 200-300 Seiten am Tag an dem Buch zu lesen. Das Lesevergnügen ist damit bedauerlicherwei­se sehr schnell zu Ende (bei mir dauerte es vier Tage, seufz. Und ich ließ mir ZEIT!). Gute Bücher – ihr kennt diese Meinung von mir – sind halt stets immer zu kurz. Das trifft besonders auch auf dieses Buch zu.

Sehen wir mal von dem völlig unzutreffenden Cover und auch dem reich­lich unpassenden Ersatztitel dieses Buches ab, es gibt Schlimmeres. Die Positiva überwiegen bei weitem: Wir bekommen als Leser sehr schnell sehr viel „Input“, und das betrifft nicht nur so obskure, abseitige Themen wie den „Großen Wurmloch-Raubzug“ und die meteorologischen Daten vom Mars, die für die Guardians so wichtig sind. Wir erfahren stattdessen auch einiges über die „Rache des Planeten“, darüber, was der „entfesselte Ju­das“ in der dunklen Festung wirklich gemacht hat, wie der Starflyer aus­sieht, woher er stammt, wo er sich aufhält (und das ist wirklich eine gelun­gene Überraschung, die Zugfans auf ihre Kosten kommen lassen wird!).

Es gibt freilich auch Dinge, die keine Aufhellung finden. Warum beispiels­weise kennen sich die Barsoomianer auf Far Away (die nie von dort wegge­gangen sind) und die Rasse der Raiel, die im „High Angel“ Zuflucht gefun­den hat (und nie von dort weggeht)? Was ist mit dem Gigalife? Was ist mit den Erbauern der Barriere um Dyson Alpha (ja, schon, man erfährt was über sie, aber …)? Was ist mit der menschlichen Supreme Intelligence (SI)? Meine in der letzten Rezension geäußerte Hypothese fiel in sich leider zu­sammen, weil der ganze Handlungsstrang annulliert wurde – vermutlich ging Hamilton da beim Schreiben auf, dass sich Ozzies Habitat doch nicht so sehr von einem edenitischen Konstrukt unterschied (allerdings ist ein Ausblenden dieser Vorstellungen durchaus nicht identisch damit, dass sie nicht der Realität entsprechen könnten, wir haben also noch Hoffnung …).

Als der Kampf in die entscheidende Phase geht, spielt er sich an mehreren Fronten ab, von denen wenigstens eine schwer bis nicht vorhersehbar war. Die andere Kampflinie zieht sich über den Weg nach Far Away, und was hier für ein Feuerzauber entfesselt wird, das ramponiert die Nerven des Le­sers doch manchmal beträchtlich. Und nicht nur der Feuerzauber.

Genaue Leser werden die Identität des „entfesselten Judas“ spätestens seit dem Ende des letzten Romans kennen, aber bis sie dann endlich gelüf­tet wird (für die Leute, die ständig mit dieser Person Umgang haben und ihr vertrauen!), da vergeht peinigend viel Zeit. Zeit, in der dieser „Judas“ und die anderen in hohen Positionen des Commonwealth jede Menge Schaden anrichten und Blut vergießen. Und als es dann eine Hauptperson trifft, ist dem Leser wahrscheinlich so zumute wie mir selbst – ich war ein paar Minuten wie betäubt und dachte, der „Judas“ hätte MIR das Vibrator­messer ins Gehirn getrieben. Fürwahr ein ganz übles Gefühl, Freunde.

Und am Schluss? Was ist denn am Schluss? Wir erinnern uns des eher kläglichen Schlusses am Ende von Hamiltons Armageddon-Zyklus, wo eine Hauptperson quasi göttliche Kräfte erhält, um die Dinge wieder zu richten. Das war wohl eine von Erschöpfung und Frustration diktierte Lösung, die dem Zyklus doch einiges von seinem Reiz nimmt. Keine Sorge – so etwas geschieht hier nicht, und das ist wirklich wohltuend. Stattdessen gibt uns der Autor ein faszinierendes Rätsel auf, das die Neugierde wach hält, näm­lich die auf seine nächsten Romane. Ich deute einmal freundlich an: Die Guardians of Selfhood haben eine seltsame Vorstellung vom Jenseits, und in diesem Buch wird dieses Jenseits wahrlich oft angerufen, die mystischen „träumenden Himmel“. Ein im übrigen sehr physischer Ort, wie gründliche Leser entdecken werden.

Vermutlich steht im Original etwas leicht davon Abweichendes, nämlich etwa „dreaming Void“, was man eher als „träumende Leere“ interpretieren sollte. Und dann darf man natürlich gespannt sein, was Hamilton wohl mit seinem nächsten Zyklus vorhat, dessen erster Band Ende 2007 auf Deutsch erscheinen soll. Im Englischen trägt er den Titel „The Void“, und einer der drei voluminösen Romane soll doch tatsächlich „The Dreaming Void“ heißen und im Commonwealth-Universum spielen, nur eben tausend Jahre in der Zukunft. Und wer noch neugieriger geworden ist, kann sich auf Hamiltons Homepage bereits die „Timeline“ für die zwischen der Jetztzeit („Commonwealth-Zyklus“) und dem neuen Romanwerk („Void-Zyklus“) ver­streichende Zeit anschauen. Es gibt eine Menge Wiedersehen mit guten, alten und liebgewonnenen Personen, soviel kann man jetzt schon sagen. Von den vielen unerwarteten Dingen mal ganz zu schweigen …

Ach ja, und dann ist da natürlich noch Cat. Und wie sagte es ein Leser auf der Homepage von Hamilton so treffend? „What the Hell is the Cat doing?“ Ja, wer weiß? Es klingt danach, als sei der Alptraum des Starflyers noch nicht vollständig „ausgeträumt“. Wir werden es sehen, Freunde. Denn wenn man einmal nach der Commonwealth-Welt süchtig ist, kommt man nicht mehr davon los. Lasst euch anstecken, ihr werdet es nicht bereuen …

© 2007 by Uwe Lammers

Und auch in der kommenden Woche, der ersten im Januar 2021, stelle ich euch ein megaspannendes Buch vor, in dem diesmal mit Boyd Morrison ein neuer Coautor von Clive Cussler die Bühne betritt. Den Namen muss man sich unbedingt merken, ihr werdet nächste Woche sehen, warum.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Ja, auch Verlage machen Fehler, in diesem Fall mit der Nummerierung. Ginge man da­nach, müsste dieser Band vor „Der entfesselte Judas“ publiziert worden sein, was na­türlich Nonsens ist.

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