Rezensions-Blog 269: E = mc² – Wer war Albert Einstein?

Posted Mai 20th, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Biografien sind nicht jedermanns Sache. Das betrifft ganz besonders Biografien, die das Leben und Werk von Menschen behandeln, deren Werk man ohnehin nur schwer verstehen kann. Dazu zählen neben Philosophen ganz besonders Naturwissenschaftler, deren Biografien zumeist nur Fachkollegen zu würdigen imstande sind. Man nimmt vermutlich ganz unwillkürlich an, dass in diese Kate­gorie auch der deutsch-jüdische Physiker Albert Einstein gehört hat, der Be­gründer der Relativitätstheorie.

Von der hat natürlich jeder schon mal gehört, aber wenn man sich die dazu ge­hörigen Gleichungen anschaut, geraten selbst Leute, die auf der Schule Mathe­matik-Leistungskurs hatten, ins Schleudern (und ich erst recht, ich kam schon mit dem Mathematik-Grundkurs kaum klar). Die theoretischen Gedanken sind höchst komplex, die Phänomene so speziell, die Einstein erforschte, dass man dies unwillkürlich auf sein Leben überträgt.

Aber interessanterweise war Einstein durchaus kein völlig abgehobener Mensch im Elfenbeinturm, der menschlichen Gesellschaft abhold. Im Gegenteil. Und Wissenschaftsjournalisten, die es verstehen, die menschlichen Elemente des Phänomens Einstein hervorzuheben und ihn als „einen von uns“ wieder in die Gesellschaft einzugemeinden, verdienen mindestens unseren Respekt. Es lohnt sich unbedingt, eine solche Publikation zu lesen und so die eigene Seele viel­leicht von unnötigen Vorurteilen zu befreien.

In dem vorliegenden schmalen und klug gemachten Buch unternimmt Gero von Boehm den – in meinen Augen – gelungenen Versuch, Einstein zu erden und den Leser neugierig auf seine Person zu machen.

Wie gelingt von Boehm das? Nun, schaut es euch einfach selbst an:

E = mc²

Wer war Albert Einstein?

von Gero von Boehm

Collection Rolf Heyne, 2005

180 Seiten, geb. im Schuber

ISBN 3-89910-251-7

Alles ist relativ.

Wir kennen diesen Satz zur Genüge, und wir meinen wahrscheinlich auch, jene prominente Person zu kennen, die diesen lapidaren Satz berühmt machte: den deutsch-jüdischen Physiker Albert Einstein. Ein Genie, ohne Frage. Aber auch er unterliegt natürlich den Gesetzen der Relativität, und so muss man sich im Falle Einstein fragen: wie viel Platz braucht man, um das Leben eines Genies zu schil­dern? Nun, verblüffend wenig, wie man hier feststellen kann. Und es kann an­genehm unterhaltsam sein.

Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht erkennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen“, pflegte Einstein zu sagen. „Und Albert Einstein selbst blieb ein Geheimnis“, führt der Biograph Gero von Boehm, neu­gierig machend, weiter aus und leitet damit in die Lebensgeschichte des wider­sprüchlichen, so ganz und gar nicht abgehobenen, sondern sehr diesseitigen Menschen Albert Einstein über.

Albert Einstein, am 14. März 1879 als Sohn des jüdischen Kleinindustriellen Her­mann Einstein und seiner Frau Pauline in Ulm geboren, ist von Kindertagen an ein wenig sonderbar. Einen „Einspänner“ nennt er sich später, ein Kind, das erst mit drei Jahren anfängt zu sprechen – in ganzen Sätzen (wie die Legende es be­hauptet), jemand, der allein am besten arbeiten kann. Doch dies ist, wie so vie­les, eine Legende, wenn man sich in die Zickzacklinie seines Lebens vertieft. Die Wahrheit ist grundlegend anders.

Auswendiglernen und „preußischen Drill“ in der Schule schätzt er überhaupt nicht, mit Sprache kommt er eher schlecht zurecht, stattdessen entdeckt der junge Einstein mit 12 Jahren sowohl die Philosophie – er liest Kants „Kritik der reinen Vernunft“! – und die Geometrie und Mathematik sowie, ergänzend, die Musik. Wobei er darin stets dilettantisch bleiben wird.1 Die Schattenseite dieser bald faszinierend aufblühenden Begabungen sind emotionale Defizite: Wutan­fälle, Tätlichkeiten gegenüber der jüngeren Schwester Maja, den Hauslehrern.

Er befindet sich damit, meinen heutige Psychologen, durchaus in guter Gesell­schaft: solche Defizite werden bei Hochbegabten häufig festgestellt, eine gewis­se Neigung zu innerer Unausgeglichenheit und quasi-autistischen Symptomen. Manche mutmaßen, Einstein habe mit dem „Asperger-Syndrom“ zu kämpfen gehabt.

Wiewohl aus einem jüdischen Haushalt stammend, hat er für Religion wenig übrig, vielleicht weil sich ein Schöpfergott mathematisch nicht beweisen lässt. Dass er als einziger Jude an der Schule in München am katholischen Religions­unterricht teilnehmen muss, ist zweifellos von Vorteil für die Entwicklung seiner Toleranz gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen.

Ein grundlegender Wandel seines Lebens erfolgt, als die elterliche Elektrotech­nik-Firma zu Grunde geht und die Familie nach Italien übersiedelt, den damals sechzehnjährigen Albert aber auf der Schule in München lässt – was ihn prompt dazu bringt, von dort flüchten und den Eltern nachzueilen (zu deren nicht gerin­gem Schrecken).

Fortan geht er also in der Schweiz zur Schule, erwirbt schließlich die Schweizer Staatsbürgerschaft und wird Teil der Gastfamilie der Wintelers … und verguckt sich in die Tochter des Hausherrn, Marie Winteler, eine Neigung, die durchaus auf Gegenseitigkeit beruht und Einsteins geordnete, „geometrische“ Gedanken­welt in Unruhe bringt. Fortan wird er immerzu hin- und hergerissen sein zwi­schen der Pflichterfüllung gegenüber den gedanklichen, mathematisch-physika­lischen Idealen und den emotionalen Notwendigkeiten, die ihn zu den Frauen in seinem Leben hinziehen. Wobei dort auch seine mentalen Defizite immer wie­der klar und bisweilen krass zu Tage treten werden.

Als er 1896 am Polytechnikum zu studieren beginnt, läuft ihm die zweite Frau seines Lebens über den Weg, Mileva Maric, eine junge, eher unscheinbare Un­garin (heute würde man sagen: eine ethnische Serbin, wie es ja auch schon der Name nahelegt). Beide sind Außenseiter, sie ist vier Jahre älter als er, und sie teilen beide die tiefe Begeisterung für die Mathematik. Mileva wird als wesent­licher Ergänzungspart zu Einstein fungieren, als sein logisches Korrektiv, und bis heute vermuten Wissenschaftshistoriker, dass sie Einstein wesentliche Anstöße für seine physikalischen Berechnungen gegeben hat.

Aus der Verliebtheit in ihren Intellekt wird auch eine physische Beziehung, die allerdings tragisch endet – Mileva bringt die gemeinsame (uneheliche) Tochter Lieserl im Ausland zur Welt, Einstein wird sie nie kennenlernen. Ihr Schicksal ist rätselhaft, bis heute.2 Obgleich Mileva Einstein später heiratet und den Sohn Hans Albert zur Welt bringt, wird sie ihm dennoch nie verzeihen können, dass dieser Pfad des Schicksals ihren eigenen beruflichen Weg unwiderruflich zer­stört hat.

Zu diesem Zeitpunkt ist Einstein selbst schon auf dem Weg zum Ruhm.

Er ist Angestellter des Berner Patentamtes geworden und hat hier während der Prüfung von eingereichten Patentanträgen genügend Zeit, um selbst an Theori­en zu basteln. Als er eine nur dreiseitige Ausarbeitung am 27. September 1905 zur Veröffentlichung in den „Annalen der Physik“ einreicht, ahnt er das selbst vielleicht am wenigsten, und erst recht nicht, dass die darin enthaltene Formel „E = mc²“ eines Tages das Synonym für die verheerendste Waffe der Mensch­heit sein wird, die Nuklearbombe. Und wiewohl er den Krieg in jeder Form ver­abscheut, wird er es sein, der der Furie des Krieges so viele Hilfsdienste leistet. Kein Wunder also, dass er später sowohl mit dem Kommunismus liebäugelt als auch seine jüdischen Glaubensbrüder unterstützen wird.

Der Pfad von einer simplen Formel bis zum international angesehenen Kory­phäe in Kosmophysik, zum bekennenden Friedensforscher und Freund des jun­gen Staates Israel ist lang und steinig, es ist ein Zickzackweg, wie gesagt. Er führt über viele Stationen und Länder, durch zahlreiche Kontroversen und An­feindungen, und oft muss Einstein nahezu alles aufgeben, was er schätzt und liebt: sein Domizil in Caputh beispielsweise, sein Segelboot, familiäre Bindun­gen, letztlich den ganzen Kontinent Europa als ideelle Heimat – in Amerika fühlt er sich nie völlig heimisch, nicht zuletzt anhand der Tatsache, dass keine seiner zahlreichen Geliebten jemals eine gebürtige Amerikanerin ist, kann man das deutlich spüren.

Frauen sind immerzu um ihn, auch wenn er sie mit sehr wechselhaftem Tempe­rament behandelt, mal schmeichelhaft, sanft und freundlich, dann wieder schroff und abweisend, manchmal absichtlich brüskierend. Einstein ist und bleibt von Anfang bis Ende ein schwieriger, widersprüchlicher Mensch …

Der in Paris lebende Autor, Regisseur und Fernsehfilm-Produzent Gero von Boehm hat, passend zum 50. Todesjahr Albert Einsteins (er starb am 18. April 1955 in Princeton), eine neue, kurze und flüssig lesbare Biografie Albert Ein-steins vorgelegt, die in vielerlei Hinsicht angenehm ist. Sie erschlägt den Leser nicht mit einer Unzahl an Fakten, sondern ist auf intelligente Weise – 10-Jahres-Schritte von 1895 an – strukturiert und beschränkt sich auf die wesentlichen Einzelheiten, ohne dabei an Kritik und differenzierten Blickwinkeln zu sparen.

Indem besonders die gern unterbelichtete Rolle des Weiblichen in Einsteins Le­ben berücksichtigt wird und damit das wohl am stärksten schwankende Ele­ment in seiner Lebenszeit in den Blick kommt, erarbeitet von Boehm ein vielsei­tiges Portrait des Physikers, das jeden Verdacht der Lobhudelei oder gar der Ha­giografie vermeidet.

Für Neugierige, die sich deshalb bislang von Einsteins Formeln und der Unver­ständlichkeit seiner Relativitätstheorie abschrecken ließen und ihn möglicher­weise ob seiner bizarren Gedankenwelt in den Pantheon der wissenschaftlichen Halbgötter entrückten, stellt dieses Buch eine durchaus angenehme Überra­schung dar. Es zeigt den durchaus bodenständigen Menschen Einstein hinter dem bisweilen unbegreiflichen Phänomen Einstein.

Wie sagte doch Einstein so prägnant? Alles ist relativ.

Dies gilt in hohem Maße ganz besonders für ihn selbst.

© 2007 by Uwe Lammers

Ich sagte ja – es ist eine interessante Herausforderung, sich von dem überkom­menen Denkklischee zu lösen und unvoreingenommen auf das „Genie“ zuzuge­hen. Man kann da bemerkenswerte Entdeckungen machen und Dinge feststel­len, die man eventuell gar nicht für möglich gehalten hat. In jedem Fall wäre es vollkommen nutzlos, sich von antijudaischen Vorbehalten leiten zu lassen und deshalb dieses kluge Werk links liegen zu lassen. Wer das dennoch tut, ver­säumt zweifellos ein bemerkenswertes Stück Biografiegeschichte.

In der nächsten Woche schwenke ich erneut vollkommen um. Wir bleiben im 20. Jahrhundert, wenden uns aber der eher seichten Unterhaltung zu und schauen nach Italien … mehr sei noch nicht verraten.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Der vielseitig belesene Zeitgenosse wird hier eine faszinierende Parallele zu Sir Arthur Conan Doyles Ro­mangestalt Sherlock Holmes feststellen können, wo auch reiner, präziser Intellekt und musikalische Bega­bung eine interessante Symbiose eingehen. Hier fehlt freilich vollkommen das weibliche Element, was Hol­mes etwas Pathologisches verleiht.

2 Vgl. Michele Zackheim: „Einsteins Tochter“, München 1999. Es sei übrigens angemerkt, dass der SF-Autor Stephen Baxter Lieserl Einstein-Maric in seinem Roman „Ring“ in den 90er Jahren ein bizarres Denkmal ge­setzt hat … eine lesenswerte Geschichte. Als ich ihn las, hatte ich von Einsteins Leben und Lieserls Ursprung darin freilich keine Kenntnis.

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