Rezensions-Blog 306: Sherlock Holmes und Jack the Ripper

Posted Februar 2nd, 2021 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

na klar, das konnte nur eine Frage der Zeit sein, nicht wahr, bis die bestimmte Frage aufkam: Sowohl Sherlock Holmes (wenn man von seiner realen Existenz ausgehen könnte) wie der Mas­senmörder Jack the Ripper, der nie gefasst wurde – soweit man weiß – , agierten zur gleichen Zeit in derselben Metropole, näm­lich London. Also musste unvermeidlich die Frage aufkommen, wie Arthur Conan Doyle so blind sein konnte, seinen legendären Detektiv nicht auf diesen Kriminellen anzusetzen.

Nun, natürlich gab es diverse literarische Versuche, dies hier ist einer davon. Ein weiterer, und deshalb kam mir das Buch so un­glaublich vertraut vor, ist die Filmversion, auf der dieses Buch mutmaßlich fußt, ein Film, in dem die junge Judi Dench – man kennt sie heutzutage besonders aus den James Bond-Filmen in der Rolle der „M“ – eine nicht unmaßgebliche Rolle spielte. Der Film heißt „A Study in Terror“ (1965) und ist durchaus sehens­wert. Dieser kommt allerdings glücklicherweise ohne die närri­schen und störenden Interventionen eines gewissen Ellery Queen aus.

Ihr merkt schon, ich bin von dem Roman nur bedingt angetan. Aber wer ein eingefleischter Sherlock-Fan ist, mag vielleicht da­nach suchen. Darum Vorhang auf für den Roman dieser Woche:

Sherlock Holmes und Jack the Ripper

(OT: Ellery Queen vs. Jack the Ripper. A Study in Terror)

Ein Ellery Queen-Krimi

von Ellery Queen (alias Frederic Danney und Manfred Benington Lee)

DuMont’s Kriminal-Bibliothek 1017

216 Seiten, TB, 1989

ISBN 3-7701-2188-0

Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié

Warum, so fragt man sich seit mehr als hundert Jahren, hat sich wohl der legendäre Detektiv Sherlock Holmes aus der Baker Street in London, der anerkanntermaßen im Zeitfenster zwi­schen 1880 und 1914 in London und im südlichen England wirk­te und Kriminalfälle mit scharfsinniger Klugheit und Kaltblütig­keit löste, sich wohl nie um den wohl blutrünstigsten und rätsel­haftesten Killer gekümmert, der im Jahre 1888 im nebligen Lon­don sein Unwesen trieb und wenigstens fünf Frauen auf bestiali­sche Weise ermordete?

Warum ermittelte Sherlock Holmes niemals gegen Jack the Rip­per?

Lassen wir die Bemerkung mal außer Betracht, dass Holmes eine literarische Figur ist – und fragen uns, ob es denn wirklich keinen Ansatz von dieser Seite her gab, dem Schlächter von Whitechapel auf die Spur zu kommen? Nun, einen solchen Ver­such wenigstens gab es schon.

So vermittelt es uns der vorliegende Roman, der uns gerade­wegs zurück führt in den düsteren Abgrund des Londoner Ar­menviertels Whitechapel und das Duo Holmes und Watson in der Tat ermitteln lässt.

Und alles kommt folgendermaßen ins Rollen …

Der Krimischriftsteller Ellery Queen (der, wiewohl selbst ein Pseudonym und damit eine fiktive Gestalt, hier als reale Gestalt behandelt wird, womit sich zusammen mit Holmes und Watson schon drei Phantome auf diesen Seiten tummeln, die sich mate­riell manifestieren – eine Konstellation, die nicht ohne Reiz ist) plagt sich mit seinem neuen Romanskript, als ihn der Freund und die millionenschwere Nervensäge Grant Ames III. aufsucht. Er trinkt ihm seinen Gin weg und tischt ihm eine obskure Ge­schichte auf. Nach Besuch bei einer Party fand er ein altes Ma­nuskript in seinem Auto, das er bei Ellery Queen abgeben solle.

Die Seiten, offenbar aus dem Ende des 19. Jahrhunderts stam­mend, scheinen ein unbekanntes Sherlock Holmes-Werk aus der Feder von Dr. John Watson zu sein. Und dieses auf Herbst 1888 datierte Werk beschäftigt sich mit nichts Geringerem als der Jagd des Meisterdetektivs auf die mordende Bestie von Whitechapel, Jack the Ripper.

Zunächst erhält Holmes ein Chirurgenbesteck zugestellt, dem das Skalpell fehlt. Ein verborgenes Wappen führt zur Adelsfami­lie derer von Shires. Der Herzog, dem Holmes das Besteck zu­rückgeben will, verleugnet, es zu kennen, ungeachtet des Wap­pens. Er meint aber, es habe wohl seinem verstorbenen Sohn Michael gehört, über den er nicht bereit ist, mehr zu erzählen.

Als Watson und Holmes auf dem Rückweg über den zweiten Sohn des Herzogs stolpern, Lord Carfax, und seine kleine Toch­ter Deborah, da entdecken sie, dass Michael vermutlich nicht tot ist, sondern nur für tot erklärt wurde, weil er eine Prostituier­te geheiratet hat, während er in Paris Medizin studierte. Sein Va­ter hat ihn von da ab verstoßen.

Von dort führen die Recherchepfade in die verschlungenen Gas­sen von Whitechapel, zu einem undurchsichtigen Pfandleiher, einem Armenhaus und einer benachbarten Leichenhalle sowie zu einem verrufenen Gasthaus. Und wiewohl Holmes eigentlich kein Interesse verspürt, sich mit Jack the Ripper zu befassen, führen die verheerenden Pfade doch direkt zu diesem Ungeheu­er hin und unausweichlich zur direkten Konfrontation …

Ich muss zugeben, ich habe das Buch – sehr kurzweilig ge­schrieben übrigens, ungeachtet aller Kritik – binnen von zwei Ta­gen neugierig verschlungen. Aber ab Seite 126, als mir ein un­entschuldbarer Kanon-Verstoß auffiel, hat mein Interesse doch sehr deutlich nachgelassen. Da elf von 24 Kapiteln brüske Aus­brüche aus der Handlungsvergangenheit darstellen, wird man als Leser doch immer wieder auf unschöne Weise aus der Hand­lung gerissen. In dem offenkundigen Versuch, witzig zu sein, er­reichen die beiden Autoren, wenigstens bei mir, der ich noch keine weiteren Ellery Queen-Romane kenne, dass eine gewisse unterschwellige Dauerfrustration eintritt.

Ich möchte daran zweifeln, dass ich der charakteristische Ellery Queen-Leser bin oder werden kann, wenn dieser Roman sym­ptomatisch für ihre Art des Schreibens ist. Kurz gefasst wäre der vorliegende Stoff wohl nur für eine Novelle tauglich gewesen. Das Buch macht darum einen etwas „aufgepumpten“ Eindruck, wenn man mir die wenig schmeichelhafte Bemerkung gestattet.

Da man Toten nichts übermäßig Unschönes nachsagen soll – die Verfasser sind 1982 bzw. schon 1971 verstorben, das Buch selbst anno 1966 entstanden – möchte ich mich mal kurz halten bei dem entdeckten Fehler, der unabweislich belegt, dass es sich entgegen der suggerierten Fiktion hierbei natürlich nicht um ein Originalmanuskript von Dr. Watson (aka Arthur Conan Doyle) handelt. Auf der Suche nach einer Erklärung, wer hinter den Vorkommnissen rings um Michael und das Chirurgenbesteck wohl die Fäden ziehen mag, kommt Watson auf Seite 126 auf die Idee, es könne „Professor James Moriarty“ sein, was Holmes sofort zurückweist.

Ich dachte, ich bekomme gleich Zahnschmerzen.

Moriarty, der „Napoleon des Verbrechens“ und großer Antago­nist von Sherlock Holmes, wird erstmals von Watson in der Ge­schichte „Das letzte Problem“ erwähnt. Danach ist Holmes aber bekanntlich 3 Jahre verschwunden gewesen und wurde für tot erklärt. Wenn man, wie die gängige Chronologie recht über­einstimmend aussagt, den Reichenbach-Vorfall (und Holmes´ wie Moriartys vermeintlicher Tod) in das Jahr 1890 oder 1891 datiert, so kann Watson von Moriarty erstmals dann erfahren haben. Was also hat Moriarty in einem Fall zu suchen, der fast tagesgenau in den Herbst 1888 datiert ist?

Richtig: gar nichts.

Da Watson solche Erinnerungsfehler wohl selbst in hohem Alter nicht unterlaufen wären, liegt der Fehler eindeutig bei schlampi­ger Vorrecherche der Verfasser. Der Grund für Moriartys Auftau­chen ist zugleich so plump wie verständlich: die Autoren such­ten händeringend nach einem Schurkennamen, den sie als „spi­ritus rector“ für das Verbrechen heranziehen könnten, und der einzige, der ihnen einfiel und den Doyle jemals (abgesehen von Irene Adler, die hier aber allein schon aus geschlechtsspezifi­schen Gründen nicht in Betracht käme) in seinem Werk genannt ist, ist eben: Moriarty.

Peinlich, weil sofort als Fehler zu erkennen, bleibt das gleich­wohl.

Noch peinlicher fand ich, dass auch dem Verfasser des durchaus sehr tiefgründigen Nachwortes, Volker Neuhaus, dieser Lapsus nicht auffiel. Womit er leider ebenfalls dokumentierte, dass er zwar in den Marginalia im Falle Doyle sowie in der Literaturge­schichte der Holmsiana gut bewandert ist, hier aber einen be­trüblichen blinden Fleck aufweist und die Chronologie nicht wirklich beherrscht.

Der Fall selbst … nun ja, Ellery Queen beweist einiges analyti­sches Geschick, das das eines Dr. John Watson in diesem Fall deutlich übertrifft. Aber wenn man sich mal die relativ schmale Basis an Verdächtigen ansieht und die Hintergrundmotive, dann muss man sich schon fragen, warum der Detektiv so lange er­kennbar im Trüben fischt, ehe er auf dramatische Weise einer Nebenspur nachgeht und das Grauen dann schließlich – mit massiver Mithilfe Dritter – doch noch zum Abschluss bringen kann.

Interessant sind natürlich gewisse Details, die darauf schließen lassen, dass die Romanverfasser sich zumindest ein kleines bisschen in die Ermittlungen im Fall Jack the Ripper eingelesen hatten.1 So wird verschiedentlich angedeutet, dass vermögende Personen in die Geschichte verwickelt gewesen sein könnten (es gibt Spekulationen, die das britische Königshaus in die Angele­genheit hineinzogen – was hinreichend Anlass für Vertuschungs­aktionen gewesen wäre). Und es gibt zumindest eine Passage, die auf einen Maler hindeutet. Erst 2002 ging die Krimiautorin Patricia Cornwell diesen Indizien nach und schloss, dass der Ma­ler Walter Sickert in Wahrheit Jack the Ripper gewesen sei.2 Die tatsächliche Identität des Rippers ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt.

Die Gesamtanalyse des vorliegenden Romans ergibt darum für mich das Bild eines klassischen Trittbrettfahrers, das Endergeb­nis ist entsprechend durchschnittlich. Um es böse zu formulie­ren: den Verfassern fiel gerade kein gescheiter Krimistoff ein, also griffen sie auf ein fiktives Manuskript von Dr. John Watson zurück, klaubten ein paar Fakten zu Whitechapel und Jack the Ripper und kochten daraus ein unterhaltsames kleines Kri­misüppchen … mit dem bedauerlichen Nachteil, dass man rela­tiv bald unter besserer Berücksichtigung der Motive ahnt, wer der Mörder unweigerlich sein MUSS. Auch wenn Watsons Tage­buch hartnäckig einen anderen Kandidaten ins Visier nimmt.

Netter Versuch, aber nicht wirklich als gelungen zu bezeichnen (in den Ellery-Kapiteln spürt man ständig den Widerwillen, sich des Stoffes ernsthaft anzunehmen … für Leser nicht eben ange­nehm!). Echte Holmsianer wären davon mit Fug und Recht ziemlich enttäuscht, und jeder, der sich im Fall des Jack the Rip­per ein wenig auskennt, ebenso. Ein bisschen mehr Mühe hätte hieraus ein interessantes Werk gemacht – so blieb es leider Durchschnitt, gerade einmal geeignet für ein oberflächliches, vermutlich primär amerikanisches Leseklientel. Oder für uner­schütterliche Ellery Queen-Fans, die gibt es vielleicht ja auch.

© 2019 by Uwe Lammers

Versprochen, Freunde, in der kommenden Woche wird es wieder deutlich interessanter. Da landen wir – mal wieder, mag manch einer von euch seufzend sagen – bei Clive Cussler & Co., aber der Roman hatte eine bemerkenswerte Überraschung in petto.

Mehr dazu in der kommenden Woche.

Bis demnächst, Freunde, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

(BS, 10. Juli 2020)

1 Allerdings nicht sehr gründlich, wie mir scheinen will, wenn man sich die Chronologie der Morde anschaut. Mary Ann „Polly“ Nichols, die als einzige hier namentlich erwähnt wird, ist das erste der fünf Ripper-Op­fer und stirbt am 31. August 1888. Hier hat es den Anschein, als sei sie ein späteres Opfer geworden, aber vor dem Mord an ihr wird vom Rip­per noch gar nicht gesprochen! Erst danach macht er sich in Briefen an Scotland Yard einen Namen als „Ripper“ und wird zum Alptraum von London. Die anderen Opfer folgen am 8. September (Annie Chapman), 30. September (keine Verstümmelungen), ebenfalls am 30. September Catherine Eddowes, und schlussendlich Mary Jane Kelly am 9. Novem­ber, die in einem Zimmer geradezu ausgeweidet wird. Der Roman ver­mittelt demgegenüber die Vorstellung, alle Morde seien im Laufe weni­ger Tage oder Wochen geschehen, nicht verteilt über ein Vierteljahr. Die Daten stammen aus Shirley Harrison: Das Tagebuch von Jack the Rip­per, Bergisch-Gladbach 1998.

2 Vgl. Patricia Cornwell: Wer war Jack the Ripper?, Hamburg 2002.

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